»Nie hätten wir uns vorstellen können…«

Die von Saul Friedländer in seinem Buch Kitsch und Tod ausgewiesenen Faktoren des Kitsches waren allesamt auf der documenta fifteen zu bestaunen. Eine archaische Utopie und die böse Moderne. Ein Ritus des Übergangs, der Initiation. Ein Geburtsakt der Reinigung. Uralte Kulte, legendäre Völker. Die Wurzel gegen das Wurzellose. Das Nicht-Erwachsen-Werden. Der Appell an vergangene Mythen, die eine immerwährende Gegenwart verkünden sollen. Trommeln und Blasmusik nahmen bei der Eröffnung den Singsang vieler Beiträge vorweg, der Gebeten ähnlich von der Öffentlichkeit besonders gepriesen wurde. Dem Kitsch stand als passendes Gegenstück und »Kurzschlussverbindung«, als »Juxtaposition«, die Ästhetisierung historischer Ereignisse in Bildern der Faszination von Tod und Zerstörung zur Seite. Die Bilderarrangements der Kollektive, die wie der Geist aus der Flasche immer weitere Kollektive mobilisierten, und sich schon in der bloßen Zahl als eine Masse (circa 1500 Künstler, wieviel es tatsächlich waren, weiß keiner), als eine Macht exponierten, ästhetisierten das Elend der Armen und Unterdrückten als apokalyptische Vision eines Endkampfs zwischen Böse und Gut. Die von der Gruppe Subversive Film veranstaltete Filmreihe Tokyo Reels wurde mit dem Kunstlabel einer Dokumentation im Arthouse-Kinosaal versehen, um den Mord an Juden auf dem Tel Aviver Flughafen durch japanische Antisemiten als Heldengeschichte des ›Widerstands‹ legitimieren zu können. Eine aktualisierte Version von Kitsch und Tod, Widerschein des Nazismus, so der Untertitel von Friedländers Buch, reichte bis in die Gegenwart nach Kassel, ins Jahr 2022, im dortigen Ringelreihen auf der Halfpipe und dem Aufruf ›Free Palestine‹.

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