»… ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten?«

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem militärischen Sieg der Alliierten kommt in Warschau ein Zeugnis dieses ›kalendarischen Denkens‹ ans Licht. 1946 und 1950 können Milchkannen und Kisten geborgen werden, die von Mitarbeitern des geheimen Untergrundarchivs Oyneg Shabes  – einer von ihnen war der 18-jährige Nahum Grzywacz – in der Erde vergraben wurden, gemeinsam mit der Hoffnung, dereinst nachfolgenden Generationen, entgegen dem alles bestimmenden ›Uhrwerk‹ der Nazis, jenen von Benjamin so genannten ›historischen Zeitraffer‹ vor Augen zu führen. »Betrachte nicht den Krug, sondern dessen Inhalt.«  Was aber hat es mit diesem Archiv, mit diesem Geschichtsbewusstsein auf sich? Mit dem Einmarsch der Deutschen entscheidet sich der Historiker Emanuel Ringelblum gegen eine ihm mögliche Auswanderung, um in Warschau zu helfen. Das Ghetto wird am 16. November 1940 errichtet – seitdem leitet er den »gezelshaftlekher Sektor« der Aleynhilf und gewinnt über diese Verbindung Mitarbeiter für jenes Oyneg Shabes, das sich formell am 22. November gründet. An Hersh Wasser schreibt Ringelblum, dass das Archiv Eigentum des gesamten jüdischen Volkes werden solle. Was der »Krug«, die Kannen und Kisten, an Inhalt bewahrt – Notizzettel, Plakate, Tagebücher, Dokumentationen, Aufsätze, Analysen, Kunst, Literatur –, ist aus dem Versuch entstanden, unter dem erdrückenden nationalsozialistischen Joch für die Nachwelt ein Bild der Vergangenheit einzufangen und zu überliefern, wie es sich den Mitarbeitern des Archivs im unmittelbaren »Augenblick der Gefahr« gezeigt hat.  Eine ›geschichtsphilosophische Praxis‹, deren Theorie Benjamin, wenn auch ohne direkten Bezug, in seiner letzten abgeschlossenen Arbeit Über den Begriff der Geschichte formuliert.

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