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Heft 24, Sommer 2024

Gerhard Scheit

Der praktische Imperativ nach Auschwitz bei Jean Améry

Über das gebotene Scheitern des »radikalen Universalismus« (Omri Boehm)

Niemandem aber unter denen, die sich heute – gegen die aktuelle Regierung von Netanyahu gewandt (obwohl hier Folter gar kein Thema ist) – auf seinen letzten Artikel zu Israel eifernd politisierend und moralisierend berufen, kommt natürlich in den Sinn, dass er, wenn er zunächst den Primat des jüdischen Staats zugunsten abstrakter Moralphilosophie zurücknahm, etwas von seiner eigenen, immer schwieriger werdende Lage innerhalb der deutschsprachigen Öffentlichkeit preisgegeben haben könnte; mit anderen Worten: dass es sich um den Beginn eines vollständigen Rückzugs, wenn nicht eine der Ankündigungen seines baldigen Suizids handelte. So wie alle, die sich nach dem 7. Oktober auf diesen Artikel berufen wollen, um den praktischen Imperativ, den Primat des jüdischen Staats, auszulöschen, darüber geflissentlich hinweggehen, dass Améry am Ende des Textes die Zurücknahme selbst wieder zurücknahm, oder anders ausgedrückt: dass der radikale Universalismus, mit dem er anhebt, zuletzt doch an diesem Imperativ scheitern muss.

Niklaas Machunsky

Das alltägliche Auschwitz

The Zone of Interest und der antizionistische Revisionismus

Glazers Film nivelliert das Besondere der Shoah, und macht sie zu einem Allerweltsereignis. Die Täter werden als ganz normale Menschen dargestellt, die sich in keiner Hinsicht von uns unterscheiden. The Zone of Interest reagiert damit auf die alten Rechtfertigungsstrategien, die die Nazis zu Monstern und Hitler zum großen Verführer, mit der Fähigkeit Massen zu verzaubern, verklärten. Dieser mythisch-verklärenden Sichtweise stellt Glazer einen bewusst nüchternen Blick entgegen. Er verzichtet darauf, das Phänomen des Nationalsozialismus mit Rekurs auf dessen eigene Mythologie zu erklären. Doch diese bewusste Enthaltsamkeit führt zu einer neuen Form, die Shoah zum Verschwinden zu bringen und eröffnet die Möglichkeit, andere Verbrechen aus Geschichte und Gegenwart für sie einzusetzen. Die Verklärung von Auschwitz zu einer Metapher für Massenverbrechen und seine Austauschbarkeit folgt jedoch einer inneren Logik, die einer beliebigen Verwendung entgegensteht. Auf dem Rangierbahnhof der Metaphern können zwar die unterschiedlichsten Orte, Personen und Taten gegeneinander ausgetauscht werden. Aber schon in der Zwanghaftigkeit, mit der der Film vom Antisemitismus absieht, kündigt sich die antizionistische Logik der Umbesetzung, als der zeitgemäßen Form der Täter-Opfer-Umkehr an. Und so ist es eben kein Wunder, dass sich – beim Publikum, bei der Kritik wie beim Regisseur selbst – quasi automatisch die Analogie von Auschwitz und Gaza ergab. So wie die Höß’ sich damals neben dem Vernichtungslager häuslich einrichteten, suggeriert Jonathan Glazer in seiner Rede, so richteten sich die Israels heute neben Gaza ein und wir alle schauten unbeeindruckt zu. So beweist der Film vor allem und anders als intendiert, dass die Verhältnisse, die Auschwitz ermöglichten, fortbestehen und die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht gelungen ist.

Heft 23, Winter 2024

Alex Carstiuc

Krieg am Jom Kippur

Der verdrängte Überfall auf Israel 1973

Der Jom-Kippur-Krieg, Ramadan-Krieg oder Oktoberkrieg stellt bis heute eine der größten Bedrohungen des jüdischen Staates seit dessen Gründung dar. Bei dem anfangs verheerend erfolgreichen Angriff auf den Judenstaat handelt es sich um einen in Europa und der Linken weitestgehend verdrängten Krieg, widerlegt er doch sowohl das Zerrbild des von allen Seiten unterstützten, und darum militärisch stets überlegenen und siegreichen Israel als auch das Bild der sich permanent in der Opferrolle befindlichen arabischen Welt oder des sogenannten globalen Südens. Zudem wird deutlich, dass es sich keineswegs nur um einen regionalen Konflikt zwischen Israel und den ›Palästinensern‹ handelt, sondern um einen jahrzehntewährenden Krieg der ganzen arabischen Welt und des realsozialistischen Lagers gegen den kleinen Judenstaat. Heute, fünfzig Jahre später, kämpft Israel wieder um seine Existenz; diesmal gegen islamistische, vom iranischen Regime unterstützte nicht-staatliche Milizen und Terrorrackets. Während im Jom-Kippur-Krieg keine jüdischen Ortschaften direkt angegriffen werden konnten, gelang es den islamistischen Mörderbanden dieses Mal, tief ins israelische Staatsgebiet einzudringen: die Regierung hatte die Gefahr nicht kommen sehen, was die Erinnerungen an die Vorgeschichte des Jom-Kippur-Kriegs weckt.

Marlene Gallner

Einheit des Reichs

Über den Vorwurf des Provinzialismus im Historikerstreit 2.0

Das Wort Provinz stammt ursprünglich aus dem Lateinischen: pro ›für‹ und vincere ›siegen‹. Im Römischen Reich bezeichnete es einen »Geschäfts- und Herrschaftsbereich«, ein »unter römischer Oberhoheit und Verwaltung stehendes Gebiet außerhalb Italiens«. Laut dem Wörterbuch der deutschen Sprache bedeutet Provinz: »das von den (modischen) Neuerungen, dem kulturellen Geschehen der Hauptstadt, einer Großstadt wenig berührte Hinterland«. Der etymologische Blick gibt Auskunft darüber, wie sehr es bei der einstigen Bedeutung – und das völlig unbewusst – bleibt, wenn heutige Postcolonials der deutschen Erinnerungskultur zum Vorwurf machen, provinziell zu sein. Dass darin herrschaftliches Denken enthalten ist, liegt auf der Hand. Bekanntlich war Rom im Kolonialgebilde des Römischen Reiches das Zentrum. Die Eigenständigkeit der jeweiligen Provinzen, die es zu verwalten hatte, bedeutete stets eine potenzielle Bedrohung für die Einheit. Es scheint, dass die heutigen Postcolonials sich ebenso wie einst Rom von den Provinziellen bedroht sehen. Es geht ihnen um die Herstellung einer Gemeinschaft durch gemeinsames, inklusives ›Erinnern‹. Der Ruf nach Inklusion blendet völlig aus, in was dabei inkludiert werden soll. Und was den postkolonialen Vertretern zufolge nicht mehr gestört werden soll durch provinzielle Abweichler. Im sogenannten Erinnerungsdiskurs gibt es keinerlei Bewusstsein über den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang. Wahrheit wird auf Faktizität reduziert. So, wie die Naturwissenschaftler keinen Begriff von Natur zu haben brauchen, da sie nur erkennen, was den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgt, bewegen sich die Erinnerungsforscher lediglich im ›Erinnerungsdiskurs‹. Sie haben keinen Begriff von gesellschaftlicher Totalität, der aber notwendig ist, um den Antisemitismus überhaupt begreifen zu können.

Heft 22, Sommer 2023

Danyal Casar

»Wir hassen deine Religion, verflucht sei deine Moral«

Notizen über Beginn und Ende der Islamischen ›Republik‹ im Iran

Wird die kurdische Avantgarde innerhalb der revolutionären Erhebung von den verschiedenen Fraktionen der iranischen Opposition durchaus anerkannt und von manchen, wie der im US-amerikanischen Exil lebenden Feministin Masih Alinejad, deutlich hervorgehoben, mehrten sich in jüngster Vergangenheit wieder Konflikte um die Frage der territorialen Integrität des Irans. In Mahabad und Saqqez, in Sardasht und Paveh, in Divandarreh und Sanandaj standen sich zwischen 1979 und 1983 militante Kurden und die Wächterarmee dort gegenüber, wo auch heute die Grundzüge der Revolution gegen das khomeinistische Regime vorgeführt werden. Als da wären: 1. die Beteiligung der ruralen Peripherie, um die Beweglichkeit der Repressionsmaschinerie zwischen den urbanen Zentren zu erlahmen, 2. die militante Organisierung der Jugend und 3. der Generalstreik. War eine überwältigende Mehrheit innerhalb der Opposition Ende der 1970er bereit, unter dem drohenden Gebrüll »Allahu Akbar« zu marschieren, schleudern die heutigen Revolutionäre im Iran den Mullahs Slogans wie »Wir hassen deine Religion, verflucht sei deine Moral« entgegen. Sie wollen kein Regime aggressiv antiisraelischer und projektiver Krisenexorzierung. Sie wollen kein militaristisch-okkultes Regime aus Klerus und einer militant-mafiotischen Armee der Wächter der Islamischen Revolution, das sich die nationale Ökonomie zur Beute gemacht hat. Und sie wollen kein Regime, in dem die Unterwerfung der Frauen eine heilige Säule des Gemeinwesens ist. Es wäre zu hoffen, dass eine Opposition, die darin ihren Minimalkonsens gefunden hat, nicht an nationaler Borniertheit zerbricht.

Lukas Kurth

Unter einem Himmel gegen Amerika

Cixin Lius Science-Fiction als literarischer Kampf für den ›Imperialismus‹ chinesischer Prägung

Das ideologische Kernmotiv Cixin Lius lässt sich unschwer als die spezifisch literarische Gestalt einer für die kontemporäre chinesische Staatsideologie konstitutiven Idee entziffern, nämlich dem von Zhao Tingyang in die Gegenwart übersetzten antiken Herrschaftsmodell des Tianxia. Hierunter ist »ein inklusives Konzept der globalen Kooperation« zu verstehen, »das mit dem westlichen Modell der Hegemonie und des egoistischen Individualismus breche und der kulturellen Vielfalt Rechnung trage«. Cixin Lius Invektiven gegen den der Logik des Wertgesetzes (welches im Übrigen in keinem seiner Werke nennenswerte Erwähnung findet) entsprungenen und zuvorderst im Westen verorteten Egoismus und Individualismus entpuppen sich als unverhohlene Werbung für das chinesische Gegenmodell zur westlichen Hegemonie, das statt ungezügelter Marktkonkurrenz »materielle Besserstellung und freien Warenverkehr« und statt egoistischer Nutzenmaximierung den »Vorrang der Gemeinschaft vor dem Einzelnen« propagiert. Desiderat jenes Modells ist nach außen gewandt eine politische Ordnung, in der »alle Kulturen und Religionen … harmonisch und ohne ›einseitigen Universalismus und Kulturimperialismus‹ unter dem Schirm einer nicht näher bestimmten ›Weltsouveränität‹ im Frieden miteinander leben« und nach innen hin ein autoritäres Modell staatlicher Totalherrschaft zur repressiven Absicherung der besagten politischen Ordnung innerhalb des Staates – wobei die staatliche Totalherrschaft als ›Sozialismus chinesischer Prägung‹ und der ›Weltsouverän‹ selbstverständlich in Gestalt Chinas zu denken ist.

Heft 21, Winter 2023

Werner Fleischer

»Nie hätten wir uns vorstellen können…«

Gegenaufklärung statt Kunst: Über die antisemitische documenta fifteen

Die von Saul Friedländer in seinem Buch Kitsch und Tod ausgewiesenen Faktoren des Kitsches waren allesamt auf der documenta fifteen zu bestaunen. Eine archaische Utopie und die böse Moderne. Ein Ritus des Übergangs, der Initiation. Ein Geburtsakt der Reinigung. Uralte Kulte, legendäre Völker. Die Wurzel gegen das Wurzellose. Das Nicht-Erwachsen-Werden. Der Appell an vergangene Mythen, die eine immerwährende Gegenwart verkünden sollen. Trommeln und Blasmusik nahmen bei der Eröffnung den Singsang vieler Beiträge vorweg, der Gebeten ähnlich von der Öffentlichkeit besonders gepriesen wurde. Dem Kitsch stand als passendes Gegenstück und »Kurzschlussverbindung«, als »Juxtaposition«, die Ästhetisierung historischer Ereignisse in Bildern der Faszination von Tod und Zerstörung zur Seite. Die Bilderarrangements der Kollektive, die wie der Geist aus der Flasche immer weitere Kollektive mobilisierten, und sich schon in der bloßen Zahl als eine Masse (circa 1500 Künstler, wieviel es tatsächlich waren, weiß keiner), als eine Macht exponierten, ästhetisierten das Elend der Armen und Unterdrückten als apokalyptische Vision eines Endkampfs zwischen Böse und Gut. Die von der Gruppe Subversive Film veranstaltete Filmreihe Tokyo Reels wurde mit dem Kunstlabel einer Dokumentation im Arthouse-Kinosaal versehen, um den Mord an Juden auf dem Tel Aviver Flughafen durch japanische Antisemiten als Heldengeschichte des ›Widerstands‹ legitimieren zu können. Eine aktualisierte Version von Kitsch und Tod, Widerschein des Nazismus, so der Untertitel von Friedländers Buch, reichte bis in die Gegenwart nach Kassel, ins Jahr 2022, im dortigen Ringelreihen auf der Halfpipe und dem Aufruf ›Free Palestine‹.

Gerhard Scheit

Die Tatsachen der Naturgeschichte als Ideologie

Eine verschenkte Gelegenheit, das Gemeinsame von »Queer-Aktivisten« und »Trans-Skeptikern« zu erkennen

Schiebt ein kleines Mädchen einen Spielzeugkinderwagen mit einer Puppe darin vor sich her, meint der kulturwissenschaftliche Hausverstand dem sozialen Geschlecht in actu und der naturwissenschaftliche Hausverstand dem biologischen Geschlecht in actu zu begegnen. Beide klammern aus, was ihren Abstraktionen von sex und gender zu Grunde liegt. Materialistische Erkenntniskritik interessiert es darum wenig, dass die einen also ›biologisch‹ und die anderen ›gesellschaftlich‹ argumentieren – eine im Kern politische Aufteilung wie rechts und links.20 In welcher Weise deren gemeinsame Denkform auf­gewiesen und der Kritik unterzogen werden kann, erhellt hingegen am deutlichsten die Entwicklung der Psychoanalyse.

Heft 20, Sommer 2022

Thorsten Fuchshuber / David Hellbrück

Ein Meister der Rackets ist noch kein Gegenhegemon

Gespräch über Russlands Machtgefüge und den Ukraine-Krieg 2022

Thorsten Fuchshuber: Wo China als eines der Länder mit der größten Wirtschaftsleistung unmittelbare Abhängigkeitsverhältnisse durch seine Marktmacht schaffen möchte, um so, wie Gerhard Scheit sagt, »den Weltmarkt von innen her aufzulösen« zu versuchen, will Russland diesen quasi von außen, durch seine Militärmacht torpedieren, um dessen Universalisierungstendenz zu brechen. Die Russische Föderation verfolgt also ebenfalls eine Politik, die immer zugleich auch gegen die Gesetze des Weltmarkts gerichtet ist, und unmittelbare Abhängigkeiten schafft sie über Rohstoffzuwendungen übrigens auch. Trotzdem bleibt Russland zugleich über den Handel mit Rohstoffen sowie anderen Ex- und Importen an diesen Weltmarkt gebunden. Daher würde ich auch nicht von einer Simulation gesellschaftlicher Dynamik auf kapitaler Grundlage sprechen, sondern diese Dynamik besteht tatsächlich, auch wenn es, wie du richtig sagst, selbstverständlich deutliche Autarkiebestrebungen gibt. Es gib daher durchaus Kräfte innerhalb des russischen Systems, denen die derzeitige Sanktionspolitik von EU und USA entgegenkommt. Sergej Glasjew etwa, der Berater Putins während der Krimannexion und seit dem vergangenen Jahr Kommissar für Integration und Makroökonomie bei der Eurasischen Wirtschaftskommission, dem Exekutivorgan der Eurasischen Wirtschaftsunion, wittert bezüglich seiner Vorstellungen von ›Selbstversorgung‹ Morgenluft. Bereits 2014 hatte er hierzu zahlreiche Vorschläge gemacht, wie etwa das Einfrieren ausländischer Guthaben, die Beschränkung von Devisentransaktionen und die staatlich erzwungene Importsubstitution durch russische Produkte. Auch jüngst hat er in einem Artikel gefordert, »die nationale Souveränität in der Wirtschaft zu stärken« und freut sich beispielweise über die Kapitalrückführung nach Russland aufgrund der Sanktionen gegen zahlreiche Oligarchen. Das erinnert schon auch ein wenig an die Beobachtungen Alfred Sohn-Rethels zur Forderung nach Autarkie in der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik, auch wenn sich das nicht einfach übertragen lässt. Sohn-Rethels Unterscheidung von einerseits ökonomisch intakten Teilen der Wirtschaft, die stark genug waren, »den Konkurrenzkampf in der Welt mit wirtschaftlichen Mitteln zu bestehen« und die folglich weder für Autarkieforderungen noch »für die Methoden des Krieges und der gewaltsamen Eroberung« zu begeistern gewesen seien, und andererseits ökonomisch paralysierten Teilen der Wirtschaft, die »politische Bewegungsfreiheit« besaßen, lässt sich auf Russland heute so ›anwenden‹, dass es erstere dort quasi nicht gibt, während letztere eben in den völlig mit dem Staat und seinen Apparaten verschmolzenen russischen Konzernen bestehen. Aber zentral ist, denke ich, der von Gerhard Scheit angesprochene Aspekt der gegen den Weltmarkt gerichteten Politik – das ist es, was China und Russland meinen, wenn sie einander »Förderung der globalen Multipolarität und der Demokratisierung der internationalen Beziehungen« versprechen.

Gerhard Scheit

»Hier üben wir die Hegemonie / Hier sind wir unzerstückelt«

Eine Anmerkung zur deutschen Ideologie in der kommenden Inflation

Durch das Retirieren auf Innenpolitik und Anti-EU-Propaganda wird immerhin Israel weitgehend aus der Schusslinie genommen, ja sogar als Identifikationsobjekt ausersehen, wenngleich die Rhetorik eines antisemitischen Charakters nicht gänzlich entbehren muss. Ganz anders stellt sich die Situation von den erdölexportierenden Ländern aus dar, denn deren Sonderstellung auf dem fortbestehenden Weltmarkt ermöglicht eine Art Surrogat für Autarkiepolitik, auf die allein schon das Zinsverbot im Islam ausgerichtet ist, und dieses Surrogat zeigt seine verheerende Wirkung in dem davon finanzierten Djihad im ›Haus des Krieges‹. Denn das ›Haus des Islam‹ ist der geschlossene Handelsstaat unter den Bedingungen des fortbestehenden Weltmarkts, Islamic Banking die zeitgemäße Form der »Brechung der Zinsknechtschaft« und Antizionismus die Speerspitze des Antisemitismus.

Soweit aber die Deutschen – und hier namentlich weniger die rechten Nachfolgerackets des Nationalsozialismus als deren linke Gegner, ihres Zeichens Kritiker der Islamophobie – außenpolitisch agieren und diese Außenpolitik auch im Inneren durchsetzen, bereiten sie dem Djihad den Boden durch konsequentes Appeasement, wenn nicht Kollaboration– mit nicht geringer, wenn auch wechselnder Ausstrahlungskraft auf die Außenpolitik der USA. In gewisser Weise kehrt damit die deutsche Ideologie zu dem Ausgangspunkt zurück, an dem Marx und Engels sie einst durchschauten. Um darzulegen, »welche borniert-nationale Anschauungsweise dem vorgeblichen Universalismus und Kosmopolitismus der Deutschen zugrunde« liege, zitierten sie aus Heinrich Heines Wintermärchen die Zeilen: »Franzosen und Russen gehört das Land, / Das Meer gehört den Briten, / Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritten. / Hier üben wir die Hegemonie / Hier sind wir unzerstückelt«.

Heft 19, Winter 2021/22

Lea Wiese

(Un-)Doing Psychoanalysis in Tehran

Gedanken zur Psychoanalyse unter iranischen Verhältnissen

Und doch scheint die Psychoanalyse in der ›Islamischen Republik Iran‹ sowie das internationale Interesse an ihr, vor allem innerhalb der lacanianisch orientierten Psychoanalyse, zu erstarken, wie mehrere Publikationen aus den letzten Jahren zeigen. Einen Anstoß hierfür dürfte das 2012 erschienene Buch Doing Psychoanalysis in Tehran der im Iran geborenen, in Kanada aufgewachsenen und in den USA ausgebildeten Psychoanalytikerin Gohar Homayounpour gegeben haben, in dem sie ihre Erfahrungen der beruflichen Rückkehr in ihr Geburtsland und aus der in Teheran eröffneten Privatpraxis schildert. Das Titelbild zeigt ein elegantes Praxisinterieur im Bauhausstil mit Fensterblick auf einen Teheraner Vorort, der Einband ein Bild der auf ihrer Analysecouch sitzenden Autorin mit einem locker um den Kopf geschlungenen Shawl. Titel und Optik scheinen bereits anzudeuten, was die im Klappentext des Buches zitierten Testimonials versprechen: Dass hier der »Iran auf die Couch gelegt« werde (Rubén Gallo). Rezensionen in einschlägigen Fachzeitschriften äußern sich durchgängig positiv über Homayounpours Ausführungen. Eine expansive Erfolgsgeschichte: So fand zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Buches, unter der Schirmherrschaft von Homayounpours »Freudian Group of Tehran«, der internationale psychoanalytische Kongress »Geographies of Psychoanalysis. Encounters between Cultures« in Teheran statt. Hat sich also die historische Bindung der Psychoanalyse an die ›westliche‹ Autonomie der Einzelnen, an ›westliche‹ Staatsform und Bürgertum als bislang naiv verkannte Scheinkorrelation entpuppt? Und kann die Expansion der Psychoanalyse in den Mittleren Osten als Siegeszug ihres aufklärerischen Impetus, gar als kritischer Funke im Dunkel der theokratischen Despotie in Ländern wie dem Iran verstanden werden?

Gerhard Scheit

Carl Schmitt und die freiheitsliebenden Taliban

Die Politik, die heute von der Kommunistischen Partei Chinas betrieben wird, erscheint vor diesem historischen Hintergrund eigenartig gespalten: Sie wirkt als willentlicher Beschleuniger, was den imperialistischen Versuch betrifft, den Weltmarkt von ›innen‹, von den Verträgen her zu zerstören und den US-Hegemon durch Großraumpolitik beiseitezuschieben; aber als Beschleuniger wider Willen, was die Bedrohung Israels anbelangt, wie das Verhältnis zum Islam im Allgemeinen und zum Iran im Besonderen zeigt – wobei hier das Besondere die fast schon erreichten Kapazitäten sind, in dem für den Islam beanspruchten Großraum des Nahen Ostens den Staat der Überlebenden der Vernichtungslager auszulöschen.

Heft 18, Sommer 2021

Gerhard Scheit

Menschen mit Nazihintergrund und ihr ehemaliger Führer im Weißen Haus

Zwei Glossen

Die Gesellschaft wird in Teile zerlegt und diese sind mit den Farbstiften der Intersektionalität identitätspolitisch zu markieren, mittlerweile farblich nuancierter durch die »multidirektionale Erinnerung« (Rothberg). Die roten Sektionschefs können sich dann bei Vergabe von Subventionen und Projektgeldern danach richten. Soweit verläuft alles in sozialdemokratischen Bahnen – und führt weit weg von radikaler Kritik, der es im gleichen Maß um die Einheit gehen muss wie um die Teile selber. Für solche Teile, die sich zur deutschen »Mehrheitsgesellschaft« addieren lassen, sobald umgekehrt die jüdische Bevölkerung und andere Opfergruppen zu den Minderheiten gezählt werden, mag an sich die Bezeichnung ›Menschen mit Nazihintergrund‹ durchaus treffend sein (ungefähr so wie Götz Alys Volksstaat-Buch), nährt allerdings auf der anderen Seite auch einen gewissen nationalen Sündenstolz. Vor allem aber wird dabei nahegelegt, dass mit der Arisierung – in Analogie zur Kolonialisierung – das ganze Wesen des Nationalsozialismus auf den Begriff gebracht wäre. Genau so unterläuft aber die postcolonial theory – die auch für die Juden eine eigene Sektion vorsehen mag, allerdings nur als Minderheit in der Diaspora – nun sogar am Gegenstand des Nazierbes, was antideutsche Kritik einmal als Postnazismus bestimmt hat. Denn wird – wie in dieser Kritik – die Arisierung als eine von mehreren Phasen im Prozess der Vernichtung der Juden begriffen, der keinerlei kolonisierenden Zweck weil überhaupt keinen Zweck hatte, dann heißt das für die Einheit, die aus diesem Vernichtungsprozess hervorging, etwas ganz Bestimmtes, das postcolonial theory zu leugnen geradezu erfunden worden ist: Durchs Kapitalverhältnis konstituiert besitzt die Einheit nicht anders als vor der Shoah ein entsprechendes Potential, die Vernichtung erneut in Gang zu setzen – nur dass dieses Potential unter den neuen, vom Sieg der Alliierten über Nazideutschland geschaffenen Bedingungen nicht unbedingt dessen Nachfolgestaaten vorbehalten bleibt. Sein erweitertes ›Einzugsgebiet‹ nimmt jetzt vielmehr im Verhältnis zum jüdischen Staat Gestalt an, am konkretesten und gefährlichsten im derzeitigen Regime des Iran.

Izchak Pschetitski

Der 1. Mai im weiten Ural

Auf dem Weg zu ihren Behausungen kam Lifschitz ein Gedanke, den er sofort zu realisieren begann. »Jungs«, wandte er sich an die anderen polnischen Juden, die im selben Fahrzeug wohnten, »morgen ist der 1. Mai, morgen arbeitet man nicht.«

»Was soll das heißen?«, stammelte Berl erschrocken, während er seinen Bissen Brot hinunterschluckte, »man kann uns als Konterrevolutionäre arrestieren …« »Der 1. Mai ist ein sozialistischer Feiertag«, belehrte ihn Lifschitz, »und der Bauleiter hat gesagt, wir leben in einem sozialistischen Land. Da haben wir das Recht, unseren Arbeiterfeiertag zu feiern!«

Die Mehrheit beschloss, morgen nicht zur Arbeit zu gehen, komme, was wolle.

Heft 17, Winter 2021

Alex Gruber

Speerspitze des postkolonialen Antisemitismus

Achille Mbembes ›Nekropolitik‹ als Handreichung für deutsche Erinnerungskultur

Die Frage, die Mbembe schon in seinem Essay Israel, die Juden und wir von 1992 stellte – wie aus den ›Opfern von gestern‹ die ›Verfolger von heute‹ geworden sein können, die den »krankhaften Willen zum Nichts« des Holocaust verinnerlicht und so den »Platz der Mörder« eingenommen hätten –, findet hier eine Antwort. Insofern das »Transzendente« der von Israel instituierten ›Opferreligion‹ – anders als im palästinensischen Märtyrertum – niemals im »eigenen Tode gegründet ist, muss es der Opfertod von jemand anderem sein, durch welches das Heilige sich etabliert.« In der Behauptung, die Israelis würden die Palästinenser ihrem vergöttlichten Allgemeinwesen zum Opfer bringen, unterstellt Mbembe dem jüdischen Staat nicht nur die Wiedereinführung des Menschenopfers, welches das Judentum historisch abgeschafft hatte, sondern liefert auch eine Neuauflage der klassischen Ritualmordlegenden. Wie schon in Necropolitics nimmt Mbembe auch hier wieder die Unterscheidung zwischen Südafrika und Israel vor: Während es ersterem mit der Einrichtung einer Versöhnungskommission nach der Überwindung der Apartheid gelungen sei, der Gefahr der Errichtung eines solchen Opferfetischs zu entgehen, habe letzteres – von der Erfahrung der Judenvernichtung getrieben, die es zu seinem nationalen und damit partikularen Narrativ gemacht habe – solch eine Opferreligion, die zugleich auch eine Opferökonomie darstelle, aufgerichtet: »Jene Staaten«, so beschließt Mbembe den Gedanken, »die sich hauptsächlich als Opfersubjekte definieren, erweisen sich allzu oft als von Hass erfüllte Subjekte, das heißt als Subjekte, die niemals aufhören können, den Tod zu mimen, indem sie andere opfern und ihnen all jene Grausamkeiten zufügen, welche sie einst selbst als Sühneopfer zu erleiden hatten.«

Christian Thalmaier

Immanenz und Indolenz

Reflexionen zu Manfred Dahlmanns Kritik des Heidegger-Marxismus

Zu Manfred Dahlmanns von früher Abneigung gegen philosophische Moden gesättigter Begabung gehörte die Fähigkeit, Heideggers untote Präsenz schon früh und auch dort wahrgenommen zu haben, wo Linke Anfang der 1970er Jahre auf dem großen Basar nicht mehr vorrangig die blauen und roten Bände erstanden, sondern sich zunehmend mit den bunten Patchwork-Büchlein – vom Merve-Verlag für die allerneuesten Diskurse ertüchtigten. Sein Gespür für das Nachleben des Nationalsozialismus nicht gegen die Universität, sondern in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten, brachte ihn am Otto-Suhr-Institut seit 1975 auf Kollisionskurs mit dem Großmeister des akademischen Postnazismus: Michel Foucault. Diesem widmete er seine 1980 bei Johannes Agnoli eingereichte Diplomarbeit, in der er mit subtilen Analysen das Rätsel der Macht als Fetischisierung eines »absoluten Subjektes« entschlüsselte, in welcher die Reflexion auf das automatische endgültig vergessen war. So konnte sich Heideggers Sein nach dem linguistic turn, auf dem Umweg über Frankreich und camoufliert als »die Macht« 25 Jahre nach der Kapitulation und einer langen Latenzzeit im Freiburger Husserl-Archiv auf seine unverfügbar seinsgeschichtliche Entbergung und Wiederkehr in den Diskursen der Postmoderne auch in Deutschland vorbereiten.

Heft 11, Herbst 2017

Markus Bitterolf

»Vor ein paar Jahren sind wir zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt worden.«

Über den Mord an Marinus Schöberl vor 15 Jahren

Der zweite Schub von Misshandlungen beginnt. Marco Schönfeld wirft ihm nun etwas Spezifisches vor: mit seinen blondierten Haaren wolle Marinus ›vertuschen‹, dass er Jude sei. Die weiteren Fausthiebe sollen ein Geständnis erzwingen. Monika Spiering und ihr Lebensgefährte sind die ganze Zeit anwesend. Die Quälereien auf ihrer Veranda unterbinden sie nicht und Spiering meint schließlich lapidar zum Geprügelten: »Nu sag schon, dass du Jude bist, dann hören die auf.« Irgendwann sind der Schmerz und die Verzweiflung zu groß, und Marinus sagt: »Ja, ich bin Jude«. »Dann ging es richtig los«, wie Marcel Schönfeld mit all der nüchternen Rohheit in seiner zweiten Vernehmung zu Protokoll gab.

Heft 09, Herbst 2016

Stephan Grigat

Persistenz des Antizionismus

Neuere Publikationen über Zionismus, die Linke und das iranische Regime

Auch Michael Brenner streicht die Differenzen zwischen Jabotinsky und seinen heutigen Erben heraus. In seiner bei C.H. Beck erschienenen, ausgesprochen instruktiven Studie zu den diversen Konzeptionen jüdischer Staatlichkeit in den früh-zionistischen Strömungen und zum Spannungsverhältnis zwischen der Sehnsucht nach Normalität und der notwendigen Sonderstellung Israels zeigt er, dass Jabotinsky zwar unbedingt dafür war, die jüdische Einwanderung nach Palästina auch gegen den Willen der arabischen Bevölkerung durchzuführen und die Gründung des Staates Israel mit aller Gewalt durchzusetzen, gleichzeitig aber mehrfach die Notwendigkeit betonte, der arabischen Minderheit in dem zu gründenden jüdischen Staat gleiche Rechte zu geben. Brenner verdeutlicht, dass Jabotinskys Konzeption des zukünftigen Staates letztlich trotz aller Unversöhnlichkeit gegenüber den arabischen Feinden des zionistischen Projekts keineswegs auf einen »rein jüdischen Nationalstaat« hinauslief.

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Heftpräsentation und Vortrag

Michael Heidemann
Weltfrieden made in China. Der ›Sozialismus chinesischer Prägung‹ und seine geopolitischen Ambitionen


Heftpräsentation und 10-jähriges Jubiläum der Zeitschrift »sans phrase«

Thorsten Fuchshuber / Alex Gruber
Meister der Rackets, Mystiker der Verschwörung. Putins Herrschafts›form‹ und Dugins Support im Angriffskrieg

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