Das Kapital und seine Geschichte

Heute ist dieser Gott, in dieser seiner synthetisierenden Macht, tot. An seine, die Gesellschaft synthetisierende Stelle ist der Wert getreten, der sich als allgemein akzeptierter Inhalt gesellschaftlicher Reproduktion in der universell gewordenen Geldform materialisiert hat: Das Geld ist so ein empirisch existierender Gott geworden und verschaffte damit dem Wert (im Vergleich zu dem sinnlich nicht erkennbaren Gott der altkatholischen, mittelalterlichen Kirche) seine himmelweite Überlegenheit. Das Geld als der sinnlich wahrnehmbare Ausdruck eines übersinnlichen, abstrakten und allgemeingültigen Prinzips: eben der Verwertung von Wert, sorgt nun dafür, dass die kapitalistisch vergesellschafteten Subjekte sich ebenso wie die mittelalterlichen Menschen als Teile eines allgemeinen Ganzen erfahren. Diese allgemeine Form verschafft diesen Subjekten dann die ihrer Form der Vergesellschaftung adäquaten Ideologien, so etwa (neben derjenigen, die, wie oben behandelt, glaubt vom Inhalt auf die Form schießen zu können) die, davon überzeugt sein zu können, nur als Glieder eines staatlich organisierten, gesellschaftlichen Verhältnisses existieren zu können.

Das alles zusammengefasst: Ein Buch wie Das Kapital von Marx konnte – so wenig wie die anderen philosophischen Werke der Neuzeit – in der Antike unmöglich geschrieben werden. Diese philosophischen Werke insgesamt berichten, vor dem Hintergrund der marxschen Wertformanalyse gelesen, von der Wahrheit, dass es in der Geschichte der Menschheit eine Verschiebung vom Inhalt zur Form, von der die Praxis anleitenden, römisch-hellenistischen Tugendlehre etwa, zur analytisch-empirisch allein zu ermittelnden Wahrheit gegeben hat und diese Philosophien analysieren insgesamt und jede auf ihre Weise, wie auch immer ideologisch verfremdet, die Funktionsweisen einer Gesellschaft, der nur die Inhalte etwas bedeuten, die sich in die gegebene Form einpassen lassen – womit wir den Anfang dieses Vortrages wieder eingeholt hätten: Diese Form (wie ja auch eine Bierflasche) vermag, beliebige Inhalte aufzunehmen – aber durchaus nicht jeden: sondern nur den, der sich auch in einer Bierflasche unterbringen lässt beziehungsweise ihr tatkräftig angepasst worden ist. Und eine derartige Organisation der Gesellschaft hat es weltgeschichtlich vor dem Kapitalismus nirgendwo gegeben.

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