Wolfgang Pohrt

Wolfgang Pohrt

Aus dem Schriftverkehr

Sechs Briefe

Heft 21, Winter 2023 Parataxis

Lieber Klaus,

da die Sache Dich interessiert, sollte der Ältere dem Jüngeren vielleicht kurz erklären, warum Habermas nicht einfach nur nachlässig formuliert, wenn er Unsinn schreibt. Habermas hat stets besonderes Interesse für zwei Dinge gezeigt: für die Identität, früher für die personale (wie kriegt der kleine Hans ein stabiles Ich?), und für die ideale Kommunikationsgemeinschaft. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft aber muß nur in die profane Wirklichkeit überführt werden, um sich als reale Volksgemeinschaft zu entpuppen, und was dem kleinen Hans zur Identität verhilft, ist am Ende das nationale Selbstbewußtsein. Erst die neuere Entwicklung hat gezeigt, welches die angemessenen politischen Inhalte von Denkmustern und Desideraten sind, die als solche schon, also unabhängig vom politischen Inhalt, schon immer falsch waren. Weil ich nun Habermas aus meiner Gebrauchswert- und Soziologen-Zeit als notorischen Verbreiter von Falschmeldungen kenne, schaue ich auch etwas genauer hin, wenn der politische Moralist Habermas sich äußert. Dem Habermas vom Strukturwandel der Öffentlichkeit oder von Arbeit und Interaktion traue ich keine vernünftige Meinung zu, und ich glaube dennoch nicht, daß mein Urteil jetzt auf Voreingenommenheit beruht. Vielmehr ließe sich am Falle Habermas zeigen, wie eine neue Ideologie entsteht: lange bevor die politischen Inhalte deutlich werden und Gegenreaktionen hervorrufen können, werden bestimmte, zunächst als nur abstrakt erscheinende Begriffe salonfähig gemacht, die sich später erst, und dann wie von selbst, mit den anvisierten politischen Inhalten verbinden. Das Gerede von der nationalen Identität beispielsweise wäre 1965 schon deshalb auf taube Ohren gestoßen, weil mit dem damals unbekannten Begriff »Identität« niemand etwas hätte anfangen können. Erst Habermas und seine Crew ([Ulrich] Oevermann) haben mit der Sozialisationstheorie und dem symbolischen Interaktionismus auch den Begriff Identität einer ganzen Generation von Volksschullehrern und Sozialarbeitern eingebläut, die ihrerseits wieder zu seiner Popularisierung beitrug, so daß längst jeder BRD-Massenmensch von seiner Identität sprach, bevor daraus die nationale wurde. Wenn Habermas also wie die Antiimps argumentiert und sagt, daß man auf keinen Fall sich selbst verleugnen dürfe, so ist das keine Unaufmerksamkeit.

Wolfgang Pohrt

Lebensschutz und Nationalpolitik

Motive, Ziele und Geschichtsbild der Ökologie- und Friedensbewegung

Heft 13, Herbst 2018 Parataxis

Das Mindeste, was sich nun gegen den Begriff »Lebensschutz« einwenden ließe, ist, daß die programmatische Erklärung, das Leben schützen zu wollen, stets und unter allen Umständen eine dreiste Lüge ist: man kann das Leben von Menschen nicht schützen, ohne beispielsweise dasjenige von Pockenviren zu vernichten. Auch ist das Leben in seiner abstrakten Allgemeinheit und Gesamtheit keineswegs bedroht und würde in Gestalt von Einzellern, Insekten oder Ratten und Tiefseefischen sogar beliebig viele Atomkriege unbeschadet überstehen. So schwingt in jeder mystisch gefärbten Achtung vor dem Leben überhaupt und ganz allgemein die nur zu gut begründete Weigerung mit, offen zu erklären, um wessen Leben es sich dreht. Der »Lebensschutz« hält sich gewissermaßen sämtliche Optionen offen und behält es einem späteren Zeitpunkt vor, die ganz plausibel aus ihm abzuleitende Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben willkürlich und in eigener Machtvollkommenheit zu treffen. Der von jedem konkreten Vorstellungsgehalt gereinigte Lebensbegriff ist tatsächlich der leere Sack, der nur darauf wartet, von jenen »mit Inhalt gefüllt« zu werden, wie es in der akademischen Amtssprache heißt, welche die definitorische, und das heißt: politische und praktische Macht dazu haben. Lebensschutz impliziert das Recht des Lebensschützers, willkürlich nach eigenem Gutdünken und eigenem Interesse darüber zu befinden, wen er töten darf.

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