Tjark Kunstreich

Tjark Kunstreich

Das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation

Heft 06, Frühjahr 2015 Parataxis

Nicht alle Homosexuellen freuen sich über die Aufmerksamkeit, die ihnen in den vergangenen Jahren zuteil geworden ist. Anlass für diese Aufmerksamkeit waren Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung und nach dem Ende diskriminierender Gesetzgebungen, die mit einem Male durchsetzbar waren; zugleich aber auch ein, wie es schien, Rückschlag im Anstieg von Diskriminierung und Verfolgung weltweit. Mit der homosexuellen Emanzipation ist vielleicht die Diskriminierung als ein gesetzlich und gesellschaftlich akzeptierter Vorgang minimiert worden, nicht aber die Verfolgung: Tatsächlich empfinden es nicht wenige Schwule und Lesben nun als schwieriger, sich in der Öffentlichkeit mit dem oder der Geliebten in offener Zuneigung zu zeigen, als in Zeiten, in denen die Reaktionen sehr viel vorhersehbarer waren. Das heißt: Wo man früher einem gesellschaftlichen Konsens begegnete, der Diskriminierung und Verachtung bedeutete, ist man heute Situationen ausgesetzt, die weniger einschätzbar und von Individuen oder Gruppen, nicht aber von der gesellschaftlichen Situation abhängig sind.

Tjark Kunstreich

Wir sind alle Überlebende

Geschichtsrevisionismus in und mit der Ideologiekritik

Heft 05, Herbst 2014 Parataxis

Freud ergänzt also Kant darin, dass die Objekte ins Subjekt aufgenommen werden und dort, im Ich, ein Eigenleben führen. Die Internalisierung des Objekts ist die Internalisierung des Konflikts, der in der Melancholie stillgestellt wird. In einem Gespräch mit dem Spiegel versucht Sebald die Melancholie vor der Depression zu retten: »Melancholie ist etwas anderes als Depression. Während Depression es einem unmöglich macht, sich etwas auszudenken oder auch nur über etwas nachzudenken, erlaubt die Melancholie, auch nicht unbedingt ein angenehmer Zustand, reflexiv zu sein und in Form gewisser Basteleien, die man im Kopf anstellt, versuchsweise Sachen zu entwickeln, von denen man vorher nichts geahnt hat.« Das scheint mir eine sehr aktuelle Beschreibung des Zustands der Ideologiekritik zu sein.

Tjark Kunstreich

Der amerikanische Blick

Stahlgewitter, D-Day, Kunstraub – zum Stand der europäischen Erinnerung

Heft 04, Frühjahr 2014 Parataxis

Vielmehr ist es die Liebe zum sinnlosen Schlachten selbst, das heißt zur Sinnlosigkeit, weswegen auch die deutsche Schmonzette Stalingrad vor Jahren an den Kinokassen eben nicht floppte, weil in ihr das Töten auf beiden Seiten durchaus realistisch als reine Vergeudung von Menschenleben dargestellt wurde. Eine Sache um ihrer selbst Willen tun, ist schließlich das deutsche Mantra, die Betonung von Sinnlosigkeit gehört zum guten Ton, außer wenn es um die Shoah geht, dann wird es – besinnlich.

Tjark Kunstreich

Einfühlungsverweigerung

Heft 02, Frühjahr 2013 Parataxis

Bevor aber die »Einfühlungsverweigerung« endgültig zum Ticket des Einverständnisses wurde, hatte sie schon eine beachtliche Karriere hinter sich. Im Anfang dieses Wortungetüms stand durchaus der Versuch zum Begriff, wie oft bei den Worten des Jargons. Daran erinnert, dass es immer im Zusammenhang mit dem Wort ›Trauma‹ benutzt wird. An »Einfühlungsverweigerung« lässt sich die Karriere des Traumabegriffs in den vergangenen dreißig Jahren nachzeichnen, um nicht zu sagen: nachempfinden; und beide Worte handeln immer von Juden und Deutschen und ihrem Verhältnis.

Tjark Kunstreich

Exorzismus der Reflexion

Michel Onfrays manichäische Litaneien über Freud und Camus

Heft 01, Herbst 2012 Parataxis

Eine Menschheit ohne die Erfahrung des Monotheismus wäre jedoch eine ohne die Vorstellung von Individualität und Subjektivierung im Sinne von Unterwerfung, aber auch Auflehnung. Dass Onfray es fertig bringt, die Urhorde als dionysisches Paradies darzustellen und mit den Juden den Völkermord beginnen zu lassen, erinnert, wie vieles andere bei Onfray, an linke deutsche Durchschnittsdenker, die schon mal den Kant einen Nazi sein lassen oder überhaupt in der Aufklärung nur die Vertreibung aus dem Paradies zu erkennen vermögen – der Unterschied zu Deutschland und Österreich ist, dass dies in Frankreich noch auffällt. Das zeichnet übrigens den Anti-Freud mehr noch als L’ordre libertaire aus, dass er eigentlich eine Zusammenfassung von linken Gewissheiten ist, in diesem Fall über Freud und die Psychoanalyse. So beliebig und austauschbar auf der einen Seite die Litaneien Onfrays in Bezug auf Camus und Freud sind, so wenig ist es Zufall, dass er auf der anderen Seite annehmen konnte, mit einem weiteren Buch gegen Freud ein großes Publikum zu finden. Auch dass sich darin kein eigener Gedanke findet, sondern ein Eintopf aus aufgewärmten und zum Teil schon streng riechenden Geschichten, ist kein Zufall; das Buch speist sich aus der Gegnerschaft zur Selbstreflexion, die bei Onfray nicht umsonst als jüdische Eigenschaft aufscheint. Freud, so kann der Anti-Freud zusammengefasst werden, habe der Menschheit seine individuellen jüdischen Komplexe aufgedrängt und sie damit ins Verderben gestoßen.

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