Till Gathmann

Till Gathmann

Netze

Zur Bildkrise des 7. Oktobers, oder: Annäherungen an eine Metapsychologie des antisemitischen Bilds

Heft 24, Sommer 2024 Essay

Der 7. Oktober selbst, eine Orgie der Gewalt, ein Verbrechen schwer zu beschreibenden Ausmaßes, eine Verwirklichung des Antisemitismus sondergleichen. Die Verbreitung der Bilder der Tat, ein weiteres Verbrechen, ein Aspekt dieses – die Bilder selbst Teil der Tat. Auch gingen der Gewalt die Bilder voraus, als Vorstellung, dann Plan dessen, was passieren sollte. All diese Bilder sind keine Bilder des Antisemitismus, sondern dieser selbst, als Bildverwirklichung. Wenn diese Verwicklung von Bild und Tat der Antisemitismus selbst sind, so wäre zu folgern, muss in den Bildern etwas von ihm enthalten sein, seine Wirkweise, muss das, was ihn ausmacht, in ihnen enthalten sein. Die Spannung zwischen Bild und Tat enthält die Dynamik des Produktionsverhältnisses, das der Antisemitismus ist. So gibt das Bild als produziertes Auskunft über die Tat, die Tat als Produkt dieses Auskunft über das Bild.

Till Gathmann

Metropolitane Motive

Mit einer kleinen Diskussion über die großen Fragen

Heft 20, Sommer 2022 Parataxis

Werbung. Die Metropole teilt die Zugewanderten in Expats und Migranten. Die meisten Expats, die in der Regel die Theorie mitbringen, kommen aus Großstädten der westlichen Hemisphäre, deren Anteil schwarzer Bevölkerung deutlich höher als etwa in der deutschen Hauptstadt ist – in Europa ein Resultat des Kolonialismus, in den USA eines der Sklaverei. Die verschwindend geringe jüdische Bevölkerung in Zentral- und Osteuropa, die den Mord überlebte, hat symbolische Bedeutung. Auch in der Erinnerungslandschaft ist sie ein städtisches Phänomen. Mit dem Wirtschaftswunder kam die Arbeitsmigration. Sie sollte fortsetzen, was das System der Zwangsarbeit ermöglichte: die anderweitig beschäftigten Deutschen in der Produktion zu unterstützen. Das postkoloniale Milieu belächelt die heutigen Deutschen. Sie erscheinen ihnen als zivilisatorisch zurückgeblieben, obgleich sie wissen, dass ihre eigene Weltgewandtheit auf der des Kolonialismus und des Sklavenhandels aufruht. Sie haben recht. Weltgewandtheit wird simuliert. Kaum ein Werbeclip kommt in Deutschland heute ohne die Ausstellung von Diversität aus, während die gesellschaftliche Oberfläche sich nach dem Vorbild der Werbung verwandeln soll. Vielleicht hilft es ja. Niemand braucht dabei die Juden: sie sind eine Erinnerungspflichtübung, sie fallen aber nicht ins Gewicht. Ihre Kaufkraft ist irrelevant, Identifikation mit ihnen unheimlich. Geflüchtete Schwarze bleiben in Deutschland Gegenstand der Anthropologie, sie sind keine Figur der Erinnerung. Sie erscheinen dem Blick des Alltags als Verstreute, Nomaden. Kulturell Interessierte mögen in ihnen die geheimnisvolle Kraft suchen, mit der sie vermochten Wüste und Meer zu überqueren. Wie in der Vergangenheit erscheint ihr Potential nur rohstoffgleich. Werbung macht man mit BIPoCs, mit auf diese Weise ausgezeichneten Nichtweißen, die, weil sie Mehrwert versprechen, in Subjekte der politischen Ökonomie verwandelt wurden.

Till Gathmann

Zu einer frühen Logik aus Etwas

Heft 18, Sommer 2021 Essay

Die Kosmologie des Anaxagoras, die erste Genesis und der heliopolische Schöpfungsgedanke bilden die Konstellation, an welcher das Denken einer frühen Logik aus Etwas zu demonstrieren wäre. Sie zeichnet die Geburt der Vernunft aus der Kritik des Mythos nach, einer Vernunft, die nicht allein sich aus der Vermittlung des Subjekts in die Gesellschaft hinein speist, sondern diese in Reflexion auf die Objektivität ihrer Genese aus den Naturverhältnissen begreift. Die ideologiekritische Bestimmung, Natur sei weder gut noch böse, ist einzuschränken: Sie droht die Dankbarkeit durchzustreichen, die ihr gebührt, Befriedigung, Glück zu ermöglichen, die Fähigkeit zur Unterscheidung herausgebildet zu haben, die Voraussetzung beider ist. Der Abzug des Guten von der Natur führt in Konsequenz auf den Gleichmut, der die Kapitulation vor der Möglichkeit wahren Fortschritts indiziert oder die tabula rasa totalitärer Umerziehung des willkürlich formbaren Menschenmaterials ankündigt.

Till Gathmann

Antisemitisches Wahnbild und antiislamische Karikatur

Heft 06, Frühjahr 2015 Essay

Die antiislamischen Cartoons von Charlie Hebdo sind in der Tat Schmähzeichnungen, ganz im Sinne der Definition Kris’ und Gombrichs; sie zielen auf die Ehre. Vermenschlichung heißt hier die antiautoritäre Aggression gegen den Respekt vor der religiösen Sphäre: die Pfaffen, Imame, Rabbis sind Menschen wie du und ich, zuweilen niederträchtig, verlogen und permanent in Widersprüche verstrickt. Der eine Gott – so es ihn denn gibt – muss, wenn er allmächtig ist, ein Sadist sein, was seine fleischgewordenen Vertreter auf Erden in keinem guten Licht erscheinen lässt. Die Blasphemie der Cartoons ist aufklärerisch im besten Sinne. Ihr Witz weigert sich, das Unvernünftige der Religion anzuerkennen und markiert es als psychisches Bedürfnis des Gläubigen. Der Muslim erscheint als lächerliche und getriebene Erscheinung, der seinem Wahn ausgeliefert ist. Wenn er sich rechtfertigen muss, ist er beleidigt, immer sehnt er sich dabei nach einer in seinem Sinne gesäuberten, regelkonformen Welt. Gerade durch seine Distanz zum Naturalismus zeigt ihm der Cartoon, dass er in einer dreckigen lebt und dass sie so bleiben soll. Keine Erlösung ist besser als Endlösung, Sinnlosigkeit besser als Sinnstiftung. Immer wieder schlägt die Realität in die Zeichnungen herein, durch den Witz ist die Zensur gelockert, was sie produziert ist nicht immer schön – auch in dieser Hinsicht zeigt sie sich radikal antimythologisch. Sie zieht es vor, auf dem Boden zu bleiben, ohne der Sache auf den Grund zu gehen; oberflächlich, wie sie ist, zieht sie alles Hohe herunter. So ermöglicht sie auch, der Westergaardschen Intention ähnlich, den Zweifel des Gläubigen darzustellen. In der obigen Zeichnung ist es ja Mohammed selbst, der den Witz reißt und so der Lächerlichkeit seines eigenen Regelwerks entkommt. In dem Sinne ist Mohammed hier nicht Objekt, sondern Subjekt. Als Comicfigur macht er, stellvertretend für alle Apostaten, was er will, und zeigt damit einen Weg, die Aggression, die in den Verboten gebunden ist und zur Vollstreckung ihrer ausgelebt werden kann, antiautoritär zu wenden.

Till Gathmann

Rettung des Vaters, Erhebung gegen die Imago

Diskussion

Heft 04, Frühjahr 2014 Essay

Gott erscheint zwar als Erneuerung und Wiederherstellung der frühkindlichen Vorstellungen des Vaters, aber diese Vorstellungen wurden ja am empirischen Vater gebildet, der weder deckungsgleich mit der gesellschaftlichen Idee des Vaters ist, noch den Imagines des Kindes, zu denen der reale Vater nach und nach in Spannung tritt. Weder Gott noch Vater gehen so in der Imago auf. Zudem kommt nun ein eminent historischer Moment zum Tragen: Der Sohn Freud, der sich von der religiösen Sphäre des Elternhauses emanzipiert hat, hat sich an die christliche Mehrheitsgesellschaft assimiliert und auf diese Weise Gott und Vater verworfen. Der Antisemitismus dieser Gesellschaft nun wendet sich gegen beide. Dies ins Bewusstsein gerückt, findet sich Freud nun auf der Seite der Götzendiener, die mit dem Pogrom drohen. Dieser Konflikt erschüttert die Apodiktik der Religionskritik des Leonardo-Aufsatzes, wie die Auflehnung gegen den Vater.

Till Gathmann

Der Fall Beuys

Analer Charakter und Werkkrise: Bundesrepublik Deutschland

Heft 03, Herbst 2013 Essay

Der Souverän, der Beuys vorschwebt und den er zugleich verkörpern will, zeigt sich als der ins präödipale regredierte Narzisst, dessen Hochgefühl, wie auch dessen Wut sich gegen das Allgemeine (die Norm beziehungsweise das Gesetz, den Vater, die Vernunft) richtet. Das ist die psychoökonomische Grundlage der »Entscheidung«, die »die Norm« mit der »Ausnahme« herausfordert und in ihr klingt der Wunsch mit, die Mutter gegen den Vater wiederzugewinnen. Das ganze Geheimnis des Christus-Impulses liegt nun auf der Hand: Die Phantasie des Gottessohns als Wunder der unbefleckten Empfängnis. Die Phantasie Steiners, die den inzestuösen Wunsch im Mythos verschlüsselt, dient Beuys so zur esoterischen Aufhebung der Megalomanie Hitlers, an der er teil hatte. Die Phantasie des Christus-Impulses schützte ihn auf diese Weise vor narzisstischer Kränkung des Objektverlusts nach 1945, allerdings um den Preis der Introversion.

Till Gathmann

Object of Importance but Little Value

Analer Charakter und Werkkrise

Heft 01, Herbst 2012 Essay

Es geht mir hier nicht darum, den analen Charakter in der Kunst als Pathologie zu bestimmen oder als jeweils subjektiven Ausdruck des Unbewussten (wie es das Gros der psychoanalytischen Kunsttheorie gerne hätte), sondern als Reaktion auf die Krise des Werks (das Innere, sich veräußernde Objekt des Künstlers), die ja objektiv ist, und deswegen ein individuelles Problem künstlerischer Haltung. »Im Kanon der Verbote schlagen Idiosynkrasien der Künstler sich nieder, aber sie wiederum sind objektiv verpflichtend, darin ist ästhetisch das Besondere buchstäblich das Allgemeine.« Die Transformation des Objekts in der Kunst ist kein Fortschritt im Ästhetischen, sondern indiziert die unbewussten Idiosynkrasien der Künstler, in der ökonomischen und kulturellen Situation der nachbürgerlichen Gesellschaft Kunst machen zu müssen. Nur insofern ist das Bild vom analen Charakter denunziatorisch gemeint, als dass es diese Situation in gesellschaftskritischem Sinne zu denunzieren gilt. Das aber, was die Minimal Art und die konzeptuelle Kunst – ganz traditionell – als Fortschritt denkt, demonstriert aus der hier entworfenen Perspektive vielmehr Rückzug, Reaktion auf Mangel. Der anale Charakter in der Kunst begibt sich so in eine Position, die als Modus der Produktion verspricht, den Konflikt, den die Situation bereitet, zu integrieren. Der anale Charakter in der Kunst wird bedeutsam, weil ihm die bestimmte Negation der traditionellen Objektbeziehung gelingt: Er ist geizig, aber nicht neidisch.

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