Stanisław Lem

Stanisław Lem

Provokation

Besprechung eines ungelesenen Buches. Teil II

Heft 24, Sommer 2024 Essay

In einem totalitären Staat, in dem alles Menschliche verstaatlicht wurde, hatte nur die Führungsspitze das Recht, Opfer auszuwählen. In einem Staat mit großen persönlichen Freiheiten waren die selbsternannten Liquidatoren des Bösen frei darin, das Böse zu identifizieren und zu verfolgen. Diese Korrelation erklärt die Verwandtschaft beider Formationen – sie liegt in der Absolution, die sich die Mörder erteilen, denn der totale Gehorsam gegenüber Autoritäten schließt ebenso wie die totale Negation jeglichen Gehorsams das Gewissen aus, wenn es um die Prüfung der eigenen Taten geht. So gelangen beide auf verschiedenen Wegen zum identischen, blutigen Finale.

Exekutiv, aber nicht revolutionär orientiert, übernimmt der Terrorismus von der Linken nur das, was seinen Taten als ideologisches Feigenblatt dienen kann; ausgestrichen oder ausgelassen wird dagegen alles, was den Mord, sein Lebenselement, erschweren oder vereiteln könnte. Die Zukunft, der er Menschenopfer bringt, ist für ihn ebenso ein Transparent, das all seine Taten legalisiert, wie es die Vision des »Tausendjährigen Reichs« für den Nationalsozialismus war.

Stanisław Lem

Provokation

Besprechung eines ungelesenen Buches

Heft 22, Sommer 2023 Essay

Eben das ist die große Versuchung, die im Bodensatz der Bombenkrater erstarrte, in denen der Nationalsozialismus versank, eine von allen Zügeln befreite rohe Gewalt, von einer noch stärkeren Gewalt zerschmettert. Dort in den Bombenkratern – und in der Asche auf den Rosten der Krematoriumsöfen – liegt immer noch ein Schatten dieser lockenden Versuchung, nämlich die gewaltigsten Taten zu vollbringen, deren der Mensch fähig ist. Nicht der fiebrige Schauder des Meuchelmords, sondern Mord als rechtschaffene Tat, als heilige Pflicht, aufopferungsvolle Mühsal und als Ruhmestitel. Deshalb waren zwangsläufig alle unblutigen Varianten der »Endlösung der Judenfrage« zu verwerfen. Deshalb konnte sich der Nationalsozialismus auf keinerlei Verträge, Abkommen oder Burgfrieden mit den unterjochten Völkern einlassen. Nicht einmal von der Taktik diktierte Milde oder Mäßigung durfte es geben. Folglich ging es nicht »nur« um »Lebensraum«, nicht »nur« darum, daß die Slawen den Siegern dienen sollten, daß die Juden von der Bildfläche zu verschwinden hatten, indem sie ohne Nachkommenschaft ausstarben oder das Land verließen. Mord sollte Staatsraison sein, ein Instrument staatlicher Politik, das durch kein anderes zu ersetzen war.

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