Rolf Bossart
Wie eine Religion der anderen die Wahrheit wegnimmt
Zu Klaus Heinrichs Kritik des Johannesevangeliums und Religionskritik im Allgemeinen
Dies bedeutet, um zurück auf das Johannesevangelium zu kommen, dass die Kritik am Christentum, als diesem großen historischen Faszinosum fehlschlägt, wenn sie nicht Spuren des Auswegs und der Befreiung in seiner eigenen Tradition und Schrifttum zu finden im Stande ist. In Bezug auf die Spannung zwischen Gehorsam und Gerechtigkeit formuliert Heinrich in diesem Sinne: »Ich sage thesenartig kurz und knapp: dort wo die christliche Tradition an die prophetische Gerechtigkeitsforderung anknüpft, wird das stellvertretende Opfer Jesus das Unterpfand für die Abschaffung auch des stellvertretenden Opfers, dort wo sie die sich von der Abraham-Geschichte herleitende Paulinische Glaubens- und Gehorsamsforderung mitmacht, fügt sie mit dem Christus das stellvertretende Opfer in den ursprungsmythischen Opferzusammenhang ein.«
Rolf Bossart
Ödipus als Erzieher
Bemerkungen zu einer psychoanalytischen Perspektive des Pädagogischen
Dagegen hat Freud mit dem Triebbegriff immer an der Natur als einem Stück Unverfügbarkeit im Menschen festgehalten, woraus einerseits seine pessimistisch-bescheidene Hoffnung auf das Vermögen von Erziehung, Vernunft und Zivilisation und andererseits die Reflexion auf jene Kraft, die sich im Innern des Individuums gegen die Zumutungen der äusseren Zurichtung wehrt, folgten. Der Widerstand des Es bedeutet daher in der Psychoanalyse zweierlei: Einerseits gegen eine dem Unbewussten unliebsamen Angriff auf mit viel Aufwand verdrängte Stoffe, andererseits die bedürftige Natur, die sich zur Wehr setzt, dort, wo die Bedürftigkeit zerschlagen werden soll. Anders gesagt: Das ES wehrt sich in beiden Fällen gegen die janusköpfige Vernunft, die aufklärt und zerschlägt. Das freudsche ES ist das Objekt, an dem sich die Dialektik der Aufklärung über sich selber aufklären kann. … Die Unfähigkeit, Abweichung und Widersprüchlichkeit in sozialen Beziehungen zu denken, ist in psychologischen Deutungssystemen regelmässig dort zu besichtigen, wo die Triebtheorie abgelehnt wird. Und angesichts von Abweichung droht die idealisiert-harmonische Anthropologie regelmässig ins Schwarze zu kippen. So zu beobachten schon früh beim ehemaligen Freudschüler Alfred Adler, der mit seiner Individualpsychologie, die ja eine beliebte Gemeinschaftspsychologie ist und gerade im pädagogischen Milieu zum Teil bis heute einen guten Ruf geniesst. Adler, der Freud ob seines abwertenden Menschenbildes kritisiert, schreibt: «Neurotiker, Psychotiker, Verbrecher, Alkoholiker, schwer erziehbare Kinder, Selbstmörder, Perverse und Prostituierte sind Versager, weil es ihnen an Gemeinschaftsgefühl fehlt.» Dagegen geniessen die Neurotiker bei Freud ja geradezu einen exzellenten Ruf: «Die Neurose ist eine Krankheit – eine medizinische Angelegenheit, – doch ist sie auch eine Angelegenheit der Zivilisation – eine moralische Angelegenheit – die eigenartige Quelle der Energie der modernen Menschen. Schon Breuer wies auf die Lebendigkeit, die Neugierde und die Intelligenz der Hysteriker hin. Die Neurose ist der Preis dafür. Sie ist somit eine Erfahrung, aus der wir etwas lernen können. Die Neurose ist für Freud zugleich Fehler und Bedingung der Zivilisation.», so Alain Ehrenberg über Freuds Verhältnis zur Neurose.
Rolf Bossart
Harmonieglaube statt Dialektik der Aufklärung
Kritik des Reinheitsdenkens bei Klaus Heinrich
Klaus Heinrich bezieht sich mit seinem Bündnisbegriff auf die Bundesvorstellung im Alten Testament, wie sie sich im Kampf des Judentums gegen einen Menschenopfer fordernden Gott herausbildet. Der Gott der Propheten verbietet mit dem Ruf: »Gerechtigkeit, nicht Opfer!« die Opferkulte und begibt sich stattdessen in Form des Bundes in ein Vertragsverhältnis mit dem Menschengeschlecht. Er wird so zu einem »Triebgrund der Wirklichkeit«, der nicht Gefolgschaft durch Willkür, Blutsbanden und Verschuldung verlangt, sondern der durch das Bündnis die Transformation des unberechenbaren Schicksals in einen, trotz der Zweideutigkeit und Unbeständigkeit der Wirklichkeit, vernünftigen Geschichtsprozess verspricht, der an der Möglichkeit von Versöhnung festhält und daher auf Aufschub, Schonung und nicht aufs Ende zielt. Heinrich akzentuiert seinen Bündnisbegriff auch gegen den der Komplizenschaft. Die griechische Philosophie verhandelt er unter dem Aspekt der Komplizenschaft mit dem Schicksal. Die freiwillige Unterwerfung unter das, was man als mächtig und erhaben über die brüchige Wirklichkeit erkannt hat, soll immun machen gegen Enttäuschung und Erschütterung. Die Angst vor Verlust der Immunität ist die Angst des Komplizen vor der Verwundbarkeit der Mächte, denen er sich unterworfen hat. Dagegen ist die Drohung, »die über den Menschen steht, mit denen Gott den Bund geschlossen hat, der Bruch des Bundes« – und nicht die brüchige Wirklichkeit. Das Brechen des Bundes bedeutet »die Opferung des zweideutigen Lebens, an dem auch der Opfernde teilhat, für das unlebendig Eine, das unter der Vorgabe, Leben zu retten, Leben zerstört.« Und die Angst der Bündnispartner ist daher jene, dass nach Verrat und Bruch die Versuche neuerlicher Verbindlichkeit nichts mehr fruchten.
Rolf Bossart
Wieder anfangen mit Freud
Über die Haltbarkeit der Zivilisation: Klaus Heinrich zum 90. Geburtstag
Warum aber spielt am religionswissenschaftlichen Lehrstuhl, den Heinrich aufgebaut hat, die Psychoanalyse für die Theoriebildung eine derart zentrale Rolle? Heinrich stellt diese Frage apologetisch ebenfalls an den Anfang seiner Ödipus-Vorlesung. Nebst dem Ziel, ihr in seinem Institut nach der sich damals schon abzeichnenden Verdrängung der Psychoanalyse aus der Psychologie Asyl zu bieten, nennt Heinrich zwei Erfahrungen, die ihn angesichts der »Wiederbelebung oder Neugründung von Universitäten« nach 1945 in Deutschland erschrecken machten: »Erstens, was von 1933 bis 45 manifest geschehen war, also der NS-Faschismus, war im Handumdrehen verdrängt worden … woraus sich unmittelbar die Frage ergab wie kann dieser Verdrängungsvorgang in wissenschaftliche Reflexion eingebracht werden? … Aber so ist die Frage falsch gestellt … Die Frage war im Grunde genommen sehr viel prekärer gestellt: gibt es überhaupt eine Wissenschaft – und nur eine solche schien uns damals zu zählen – die nicht ohnmächtig derartigen Verdrängungsvorgängen gegenübersteht? Die zweite Erfahrung war die negative Antwort auf die erste Frage.«