Robert Hullot-Kentor

Robert Hullot-Kentor

Moishe Postone und der Essay als Form

Heft 15, Herbst 2019 Essay

In affectionate memory

Moishe Postones Werk ist, als kritische Theorie, eine in jeder Hinsicht ebenso kategoriale Analyse wie das Adornos, doch würde der Essay als Form Moishes zahlreiche Essays in nahezu keiner Hinsicht angemessen beschreiben, und gewiss nicht sein Hauptwerk. Dafür hatte Moishe vortreffliche Gründe. Er wollte eine Theorie formulieren, die in sich so konsistent wie nur möglich sein sollte – wie er selbst immer wieder betonte: überzeugend, angemessen und durchdacht. Sein Buch Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft ist genau das; und während es das ferne Ziel im Auge behält, sucht es nichtsdestoweniger, den Kapitalismus vollständig und rückstandslos zu begreifen. Dieses Werk wird geleitet von dem Prinzip non confundar in aeternum: lass mich von meinem Weg nicht abkommen. Wenn Moishes Namenspatron eine Gestalt mit ausgeprägtem Sinn fürs Gesetz und einem gleichermaßen schlecht ausgebildeten Orientierungssinn war, sodass er vierzig Jahre in der Wüste benötigte, um sich der Vorsehung zu nähern, so war Moishes Sinn für die Dringlichkeit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts keineswegs providentiell. Worin der Monotheismus des Textes auch immer bestanden haben mag: die Muße einer alttestamentarischen Wanderung sah er nicht vor. Sein magnum opus schrieb Moishe Postone, indem er folgerichtig dachte: eine achtsame Konstruktion aus hypotaktischen Sätzen, die so gebaut sind, dass sie jeden fragmentarischen Gedanken ausschließen. Die kategoriale Untersuchung, die er erarbeitete, kommt ohne Grübelei über eine Philosophie der Sprache daher, in der mit Hegel geteilten Annahme, das Wort sei durchsichtig bis zum Begriff.

Robert Hullot-Kentor

Moral, Ästhetik und die Wiederherstellung der öffentlichen Welt

Heft 04, Frühjahr 2014 Essay

Die Idee der Wiederherstellung der öffentlichen Welt neigt zur Rationalisierung, etwa so, wie wir uns im Rückgriff auf bessere Tage vormachen können, die Konflikte, die schließlich zur heutigen Situation geführt haben, seien unwirklich. Dennoch ist die Idee der Öffentlichkeit nicht einfach Ideologie. Und das Vorhaben, die öffentliche Welt wiederherzustellen, ist nicht ideologisch insofern, als es die Notwendigkeit fortdauernder Kritik einbezieht, die gutmachen will, was der Begriff der Öffentlichkeit bislang trügerisch versprochen hat. Wie stets sind diejenigen Möglichkeiten die allein zwingenden, die illusorische Versprechen beim Wort nehmen und sie an ihre Grenze treiben. Dienten demnach die formalen Rechte der Verschleierung von Ungleichheit, so sind sie zugleich der Boden, auf dem die Ungleichheit des Marktes demonstriert werden kann; zum Äußersten getrieben, taugen sie nicht mehr als Fassade, sondern werden zur Forderung nach substantiellen Rechten. Wäre der gleiche Tausch in Wahrheit gleich, so wäre er kein Tausch mehr, sondern die wirkliche Freiheit und Verbindlichkeit des Besonderen, die der Kapitalismus verdreht. Allerdings sind dies dialektische Gedanken, und als solche teilen sie schlechterdings das Schicksal der moralphilosophischen Reflexion. So wie diese obsolet wurde durch die unausweichliche Erfahrung der Beliebigkeit jedes einzelnen in der Ökonomie, für die niemand notwendig ist – damit kommt das hier beschriebene Drama des Offensichtlichen zum Schluss –, so ist auch das dialektische Denken, dessen einzige Quelle die unerbittliche Selbstversenkung des Gedankens in die Dynamik des Einen und des Vielen ist, archaisch geworden.

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