Renate Göllner

Renate Göllner

Georg K. Glaser in der Rue des Rosiers

Heft 21, Winter 2023 Essay

Im Unterschied zu Geheimnis und Gewalt wirkt die Sprache in der Chronik der Rosenstraße zunächst fast abgeklärt, wie man sich ein Alterswerk vorstellen mag – oder zumindest so, als ob es mittlerweile gute Gründe gäbe, darauf zu vertrauen, dass ein anderer Begriff von Recht sich auch in Frankreich durchgesetzt hat. Der Erzähler, der hier ebenfalls in der Ich-Form, aber anders als in Geheimnis und Gewalt, nicht als fiktive Person, sondern gewissermaßen mit seinem eigenen Namen unterschreibt, wäre in dieser Vorstellung im demokratischen Frankreich endlich zur Ruhe gekommen. Doch dem widerspricht, wie er die Unruhe, die unter den jüdischen Bewohnern des Viertels herrscht, wahrnimmt und beschreibt. Die Gewalt der unmittelbaren Vergangenheit, die sie, sei’s in Europa oder im Maghreb, erfahren haben, wird noch in den komischen und grotesken Situationen im Viertel vergegenwärtigt. Fast erscheint dabei das Quartier Marais wie ein kleiner jüdischer Staat, und die Drohbriefe, die an die Geschäftsleute des Viertels, darunter auch Glaser selbst, verschickt werden, verstärken diesen Eindruck: »Unter der Anschrift stand ›jüdisches Unternehmen‹, auf der Rückseite klebte eine Marke ›resistance AL FATEH‹. Innen stand unbeholfen mit einer Maschine getippt: ›Hau ab! Du wirst aus Frankreich verjagt werden, wie Deine Brüder aus Palästina!‹«

Renate Göllner

Arthur Koestler als Weggefährte Vladimir Ze’ev Jabotinskys

Heft 15, Herbst 2019 Essay

Als Vladimir Ze‘ev Jabotinsky im Mai 1924 während einer Vortragsreise Wien besuchte, wurde er am Grenzbahnhof Lundenburg (Břeclav) von zwei Burschenschaftern besonderer Art empfangen. Einer von ihnen war Arthur Koestler, der andere ein »alter Herr« der Verbindung »Unitas«, einst der Schrecken der Alldeutschen. Diese zionistische Burschenschaft hatte Jabotinsky kurz davor zum »Ehrenburschen« ernannt, eine Auszeichnung, die bis dahin nur Theodor Herzl und Max Nordau zuteil geworden war. Nachdem die beiden im Gedränge Jabotinsky erkannt hatten, oblag es Koestler, das goldene Verbindungabzeichen unter den Augen der erstaunten Reisenden an das Revers ihres Gastes zu heften und ihm das Couleur-Band anzulegen, das dieser jedoch rasch wieder in seiner Tasche verschwinden ließ. Später gestand Jabotinsky dem jungen Koestler, dass »er sich noch nie so unbehaglich gefühlt hatte«.

Renate Göllner

›Muss eine böse Mutter wohnen‹?

Versuch über Melanie Klein

Heft 13, Herbst 2018 Essay

Melanie Klein vorzuwerfen, sie habe die „vaterlose Gesellschaft“ – womit Alexander Mitscherlich diese Veränderungen auf den Begriff bringen wollte – ontologisiert, geht darum ebenso ins Leere, wie es auch falsch ist, sie als Theoretikerin des Matriarchats zu verstehen. Eher versuchte sie, jenen Entwicklungen entgegenzutreten, die die Position der Mutter umso mehr zu befestigen trachteten, als sie wahrnahm, wie sehr die des Vaters depotenziert wurde. Vor diesem Hintergrund hat sie Weiblichkeit und Männlichkeit als von Geburt an existierenden Gegensatz anthropologisiert, insofern sie gerade das gesellschaftliche Faktum der Kastrationsdrohung verdrängte. Doch genau davon wäre nicht zu abstrahieren, um so die Familie gegenüber dem ganzen System extrafamiliärer Einrichtungen verteidigen zu können, solange die Individualisierung in der Kindheit auf der Grundlage freier Assoziation Utopie bleiben muss.

Renate Göllner

Auf der Suche nach der verlorenen Stadt

Über Vladimir Jabotinskys Roman Die Fünf

Heft 11, Herbst 2017 Essay

Die Familienchronik neigt sich mit Beginn des Aufstands von 1905 ihrem Ende zu – als der berühmte Panzerkreuzer Potemkin der aufständischen Matrosen, die wegen der erbärmlichen und verdorbenen Versorgung zu meutern begonnen und das Schiff in ihre Gewalt gebracht hatten, im Hafen von Odessa vor Anker ging; als die Menschen auf die Straßen liefen, Schüsse durch die Stadt hallten, am Hafen der Kornspeicher angezündet, und in einem Zelt unten am Hafen ein toter Matrose aufgebahrt wurde. Zwei Tage später marschierten bereits Truppen des Zaren durch die Stadt, um jene, die sich den Aufständischen angeschlossen hatten, zu überwältigen. Anders als die oftmals heldenhaft-revolutionäre Darstellung der Rebellion der Matrosen und der Bevölkerung gegen das verhasste Zarenregime, weiß Jabotinsky auch von ganz anderen, beklemmenden Szenen während des Aufstands zu berichten: Ein Bekannter, mit dem der Erzähler die jüdische Volkswehr organisiert hatte, suchte ihn damals tief verstört in der Nähe des Hafens auf: »Sagen Sie Ihren Leuten: Die Lage ist brenzlig. Sie sollen die Knarren wieder ausgeben; denn wissen Sie, was die da unten (am Hafen) brüllen? Gegen die Juden brüllen sie – dass ihnen die Cholera das Gedärm zerreiße.« In Eisensteins berühmtem Film Panzerkreuzer Potemkin von 1925 war die antisemitische Gefahr zwar nicht ignoriert worden, aber sie erscheint durch die Idealisierung der Aufständischen verharmlost. Es ist hier ein einziger Mann, der in den Jubel der Revolutionäre hinein »Schlagt die Juden« schreit – und sofort stürzen sich die revolutionären Männer und Frauen auf ihn und begraben ihn unter ihren Schlägen. Damit ist das drohende Unheil gebannt.

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»Brecht mit eurem Vater«

Bruch und falsche Versöhnung in der postnazistischen Familie

Heft 11, Herbst 2017 Parataxis

Um nicht an der eigenen Herkunft irre zu werden und den Verstand zu verlieren, gibt es für Niklas Frank keine andere Möglichkeit, als sich schonungslos mit den Verbrechen des Vaters und auch der Mutter zu konfrontieren und verzweifelt gegen eine Gesellschaft zu rebellieren, die, kaum war das Morden vorbei, zur Tagesordnung schritt: »Böse Bilder trage ich im Hirn: Daß man nach dem Krieg Millionen Galgen an den Autobahnen aufgestellt hätte, US Henker Woods wäre langsam in Deinem beschlagnahmten Maybach an Galgen um Galgen vorbeigefahren und hätte den Falltürriegel gezogen – was für ein gesundes Knacken wäre durch Deutschland hinweggehallt, verursacht von den Genicken all der Richter, Staatsanwälte, Fabrikanten, Block- und Zellenwarte, Denunzianten – keiner von euch hatte das Recht weiterzuleben.«

Renate Göllner

Die lesbische Frau, das zweite Geschlecht und die sexuelle Gewalt

Versuch über Simone de Beauvoir

Heft 10, Frühjahr 2017 Essay

So gesehen bedeutet auch das Stadium der Verliebtheit für Männer manchmal etwas anderes, nämlich dann, wenn sie für diese Zeit die Fähigkeit, sich zum Objekt machen zu lassen, nur vortäuschen. Heinrich von Kleist hat diese Konstellation auf einzigartige Weise in seinem Stück Penthesilea im Verhältnis des Achill zur Titelfigur durchsichtig gemacht. Dass jedenfalls dieser Objektstatus, also die Passivität, nicht so einfach zu haben ist, wusste niemand besser als der heimliche Dialektiker Freud: »Man könnte daran denken, die Weiblichkeit psychologisch durch die Bevorzugung passiver Ziele zu charakterisieren.« Das jedoch dürfe nicht missverstanden werden. »Es mag ein großes Stück Aktivität notwendig sein, um ein passives Ziel durchzusetzen.« Sichtermann deutete nun zwar an, dass zugleich auch die Nähe der Objektivierung zur Herrschaft reflektiert werden müsse, um eine Balance jenseits von Herrschaft durch Verflüssigung der Positionen herzustellen, aber auch sie führte damals nicht weiter aus, was daraus für die Bestimmung sexueller Gewalt folgt.

Renate Göllner

Alice Schwarzer und der Höllenkreis

Heft 09, Herbst 2016 Essay

Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass Alice Schwarzer, die in vielen Jahren ihrer journalistischen Arbeit manchmal so unfassbaren Unsinn zu Papier brachte oder in Talkshows äußerte und immer wieder sich der deutschen Ideologie anbiederte, doch zu den Wenigen im deutschsprachigen Raum zählt, die sich schon seit der Revolution im Iran 1979 über das Repressionspotential des Islam kaum Illusionen hingaben und zu dieser Frage in der Öffentlichkeit kontinuierlich Stellung bezogen. Dabei dürfte nicht zuletzt ihre Bekanntschaft mit Simone de Beauvoir eine Rolle gespielt haben, die bereits unmittelbar nach dieser ›Revolution‹ gegen das neuetablierte Regime der Mullahs protestierte und gemeinsam mit anderen ein »Komitee zur Verteidigung der Rechte der Frauen« im Iran gründete.

Renate Göllner

Masochismus und Befreiung: Georges-Arthur Goldschmidt

Heft 08, Frühjahr 2016 Essay

An dieser Stelle spricht Goldschmidt auch davon, dass die Jesuiten »mit ihrem klug gemäßigten und rege praktizierten Gebrauch der Rute in den Kollegien« sich bestens auf eine Art »Mittelweg des Wissens durch die Vertrautheit mit dem Körper« verstanden. Mitunter entsteht hier die Gefahr, die körperliche Züchtigung in den entsprechenden Internaten zu verharmlosen, wenngleich solche Sätze aber auch nötig sind, um den Unterschied zu einer auf Vernichtung ausgerichteten Folter, wie sie etwa Jean Améry beschrieben hat, deutlich zu machen. Der Raum, in dem Goldschmidt körperliche Züchtigung und Marter erlebte, war zugleich der Raum, in dem er als jüdisches Kind vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten sicher war. Diese Konstellation ist es, die er als Schriftsteller in allem, worüber er schreibt, zum Ausdruck zu bringen vermag. Mit ihr geht es nicht nur um die biographische Wahrheit, sondern um die grundlegende Aporie der postnazistischen Welt.

Renate Göllner

Hexenwahn und Feminismus

Über die Dialektik feministischer Aufklärung am Beispiel von Silvia Bovenschens Kritik

Heft 07, Herbst 2015 Essay

Die Durchsetzung des bürgerlichen Rechts und des industriellen Kapitals machte den Hexenprozessen ein Ende. Bovenschens Studie über die imaginierte Weiblichkeit reflektiert dieses Ende in der bürgerlichen Gesellschaft, indem sie die Projektionen herausarbeitet, die mit der Durchsetzung der bürgerlichen Institutionen einhergehen. Unausgesprochen liegt in dieser Verlagerung auf die Projektion von Weiblichkeit, auf Kreativität und Mannigfaltigkeit des Projizierens die Erkenntnis, dass die neuen, abstrakten Formen von Herrschaft und Produktion nicht einfach als ein »männliches Prinzip« betrachtet werden können, nur weil sie weiterhin mit asymmetrischen Geschlechtsbeziehungen einhergehen; dass ihre Durchsetzung personengebundene Herrschaftsformen auflöst und deren Wiederkehr und Persistenz damit gerade als Reaktionsbildung auf diesen Auflösungsprozess verstanden werden müsste, als Projektionsmechanismen, die in sekundäre Formen personengebundener Herrschaft und also immer wieder in Gewalt münden.

Renate Göllner

Verdrängung der Bisexualität

Chasseguet-Smirgel, Grunberger und Lacan

Heft 05, Herbst 2014 Essay

»… die Bisexualität! Mit der hast du sicher Recht. Ich gewöhne mich auch, jeden sexuellen Akt als einen Vorgang zwischen vier Individuen aufzufassen.« – Sigmund Freud an Wilhelm Fließ

Renate Göllner

Wer wählt die Neurose?

Wiederkehr der Psychoanalyse in der Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres (Teil II)
Heft 03, Herbst 2013 Essay

Der Idiot der Familie liest sich passagenweise wie eine ins Unermessliche angewachsene Krankengeschichte im Sinne Freuds, durchaus vergleichbar dessen Darstellungen von Dostojewski und die Vatertötung sowie der Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Während aber Das Sein und das Nichts durch die Abwesenheit des Vaters charakterisiert ist, wie man mit der Ironie der Wörter sagen könnte, steht die Flaubert-Studie im Zeichen des Gesetzes und der ödipalen Konstellation; sichtbar und nachvollziehbar durch die minutiöse Darstellung und Analyse der komplexen frühkindlichen Erfahrungen, deren Konflikte und Ambivalenzen, die aber ebenso durch Flauberts gesellschaftliche Bedingtheit sichtbar werden.

Renate Göllner

Wer wählt die Neurose?

Wiederkehr der Psychoanalyse in der Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres

Heft 02, Frühjahr 2013 Essay

Sartre, in der Tradition von Descartes’ Rationalismus erzogen, empfand in seiner Jugend eine »tiefe Ablehnung« gegenüber der Psychoanalyse und war von der Idee eines Unbewussten »schockiert«. Doch dieser Schock führte nicht wie bei so vielen anderen zur Ignoranz. Im Gegenteil: bereits seine frühe Philosophie, die im Freudschen Sinn als eine einzige Abwehr und Rationalisierung psychoanalytischer Einsichten verstanden werden könnte, zeugt im selben Maß von einer genauen Kenntnis der Freudschen Lehre; so erstaunlich es auch klingen mag, Das Sein und das Nichts (L’être et le néant) hätte ohne diesen Schock vermutlich kaum geschrieben werden können.

Renate Göllner

Sansals Prosa und die Phrasen des Friedens

Heft 01, Herbst 2012 Parataxis

Es ist nicht einfach, nach der Rede Sansals zur Verleihung des Friedenspreises zu beurteilen, was die einmal in Dorf des Deutschenmit Blick auf Auschwitz gewonnene Erkenntnis, die »Islamisten würden es wieder machen«, noch bedeutet; oder die Frage zu beantworten, wie es denn gemeint war, als Sansal über diesen Roman in Interviews davon sprach, dass er klären wollte, »was es heißt, heute Verantwortung zu übernehmen, damit sich ein solches Verbrechen nicht wiederholt«. Verantwortung wofür, wenn nicht für den Staat der Juden, dessen Gründung doch die unmittelbare Konsequenz auf die Shoah darstellt?

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