Miriam Mettler

Miriam Mettler

List der Hoffnung

Zum Verhältnis von Desillusionierung, Ohnmacht und Erkenntnis

Heft 20, Sommer 2022 Essay

So nimmt es kaum Wunder, dass gerade Autoren und Künstler, die in der Lage sind, die Fassade, die die Realität vor ihnen aufbaut, herunterzureißen, psychischer Absonderlichkeit oder übertriebener Empfindlichkeit bezichtigt werden, wenn sie dem zum Recht oder – bescheidener gesagt – zum Ausdruck verhelfen, was im Alltäglichen unterdrückt und verstümmelt wird. Genie und Wahnsinn lägen nah beisammen, heißt es immer dann, wenn man sich die Mühe nicht machen möchte, den Ausdruck von Erkenntnis an sich heranzulassen – sei es aus Angst, dass der Text, das Bild, der Roman recht gegen die eigenen Illusionen behält, sei es aus Bequemlichkeit, weil das Eintauchen in ein Werk einem Anstrengung und Ausdauer abverlangt, sofern es mit Objektivität gesättigt ist und nicht bloß dem alltäglichen Schein – oder wie es in verräterisch medizinischer Diktion heißt – dem gesunden Menschenverstand verhaftet bleibt. Die Unterstellung geistiger Krankheit soll die gesellschaftliche Bedeutung des Werks unterminieren.

Kafka ist ein beliebtes Ziel jener illegitimen Psychologisierung, die die Bankrotterklärung, die er der bürgerlichen Gesellschaft ausstellt, zu seiner eigenen seelischen Marotte umdeutet.

Miriam Mettler

Conditio inhumana

Jean Améry und Jean-Paul Sartre

Heft 19, Winter 2021/22 Essay

Das Postulat jüdischer Freiheit zur Wahl bei Sartre indes unterstellt eine Gleichstellung des Juden als Menschen selbst innerhalb einer Gesellschaft, die ihm diesen Status verwehrt. Die Grenze des Geistes wird von Sartre nicht eingestanden, der Geist im Zustand der Todesdrohung nicht an seine Voraussetzung – den Körper – zurückgebunden. Dies die Lüge der Sartre’schen Freiheitskonzeption, die zwar nicht den Geist absolut setzt, jedoch die Möglichkeit der absoluten Ohnmacht des Geistes angesichts der physischen Zurichtung nicht denken will. Zwar verleiht dieses Absehen von dem gesellschaftlichen Ausschluss der Juden – nicht nur aus der Gesellschaft, sondern aus der Menschheit – dem Text einen positiv-utopischen Gehalt: Wenn Sartre behauptet, die Metaphysik würde die Hauptsorge des Menschen sein, sobald die Menschen sich befreit haben, und kurz darauf dieses Privileg schon beim authentischen Juden vorzufinden behauptet. Jedoch spielt diese Annahme eines noch zu verwirklichenden Zustands wider Willen dem kritisierten Status quo in die Hände. Im Dienste des Prinzips Hoffnung wird eine utopische, weil vom Antisemitismus unabhängige Figur zur Realität erklärt und damit ein Zustand postuliert, in dem der Jude bereits von der Gefahr der conditio inhumana befreit ist.

Miriam Mettler

Triebstruktur und Ehrbegriff

Elemente der autoritären Persönlichkeit im Islam

Heft 15, Herbst 2019 Parataxis

Die Position, die diese selbsternannten Antirassisten im Streit um das Kopftuch einnehmen, ist aus diesem Grund besonders zynisch: Wird das blaming the victim zu Recht kritisiert, wenn es um Vergewaltigungen und sexuelle Belästigung durch den ›weißen Mann‹ geht, so wird im Falle der Verhüllung bei Musliminnen dasselbe Prinzip kritiklos als Ausdruck einer beschützenswerten Kultur entschuldigt und schlimmstenfalls zum subversiven Protestakt verklärt. Der paternalistisch-wohlwollende Gestus verrät bereits den antirassistischen Rassismus, der implizit den Frauen, die aus muslimischen Kulturen kommen, ihr Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt durch die Gesellschaft abspricht. Derartigen Pseudofeministinnen fällt es dabei nicht einmal auf, dass sie die Verantwortung für den eigenen Opferstatus denjenigen Frauen zuweisen, die sich weigern, ein Exemplar im Kulturzoo des Westens zu bleiben. Anstatt – wie sie es bei jeder ›westlichen‹ Person tun würden – einzufordern, dass der Mann sich zusammenzureißen oder mit Strafe zu rechnen habe, wenn er sich dazu nicht in der Lage sieht, wird hier das ›Selbst-schuld‹-Konzept bereitwillig übernommen, um jene Frauen zu schützen, die es vertreten. Verleugnet wird deren Selbstunterdrückung in einem Akt der Identifikation mit dem Aggressor ebenso wie die Tatsache, dass sie ihrerseits Gewalt gegen jene Frauen ausüben, die sich diesem patriarchalen Prinzip nicht fügen wollen und die sie deswegen als ›legitime‹ Opfer ihrer Kultur zum Fraß vorwerfen.

Miriam Mettler

Über Wut und Würde der Rabenkinder

Einige Thesen zum Film Cría Cuervos von Carlos Saura

Heft 11, Herbst 2017 Essay

Cría cuervos y te sacarán los ojos: »Züchte Raben und sie werden dir die Augen aushacken«, lautet ein spanisches Sprichwort, das dem 1975 in Madrid entstandenen Film Cría Cuervos (Züchte Raben) des Regisseurs Carlos Saura seinen Namen gibt. Saura, der an der staatlichen Spanischen Filmhochschule sein Handwerk erlernt und bis zu seinem politisch begründeten Rauswurf 1963 dort unterrichtet hatte, war mit der franquistischen Zensur leidlich vertraut. So erzwang das Verbot offener Kritik eine Verschlüsselung der politischen Kommentare in seinen Filmen. Allegorien und Parabeln dienten ihm aus diesem Grund als Techniken der Chiffrierung, um der Zensur zu entgehen. Dies führte ironischerweise zu ästhetischen Formen, die in ihrer Subtilität und Mehrdeutigkeit Widersprüche einer unfreien Gesellschaft genauer widerspiegeln, als dies explizit politische Filme in ihrer Eindeutigkeit vermögen.

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