Michael Heidemann
Geschichte, Klassenbewusstsein und Freiheit
Aporien der Revolutionstheorie bei Georg Lukács. Teil 3
So kehrt Lukács am Ende des Verdinglichungsaufsatzes doch vom Sein zum Sollen, zur Trennung von Theorie und Praxis, zum unendlichen Progress des ›Allmählich‹ und damit zum Anfang zurück. Daran kann auch der nochmalige Verweis auf den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess nichts ändern. Er überantwortet seine Theorie demselben Verdikt, das er zuvor im Antinomien-Kapitel über das ›bürgerliche Denken‹ aussprach: dass es die Differenz von Subjekt und Objekt nicht zu überwinden vermag. Zwar war dies gewissermaßen von Anfang an klar, doch erst im Resultat zeigt sich die wahre Akzentuierung des Gegenstands von Geschichte und Klassenbewusstsein. Lukács ging es weniger um das empirische Proletariat und um eine am historischen Material zu leistende Ideologiekritik, sondern viel eher um eine nach idealistischem Vorbild konstruierte ›Idee des Proletariats‹, die als die kommende Erlösung die Versöhnung des Kritikers mit einem Weltlauf stiften sollte, der die Einheit des Selbstbewusstseins zerrüttet. Gegen die von Lukács behauptete ›allmähliche‹ Verwandlung der Differenz von Subjekt und Objekt der Geschichte in dessen »identisches Subjekt-Objekt«, die mehr Suggestion als begründetes Urteil ist, bleibt bestehen, dass die Revolution aus einer etwaigen Tendenz des Kapitals nicht zu begründen ist, weil die Tendenz des Kapitals in seinem autistischen Selbstbezug doch nur immer wieder das Kapital selbst sein kann. Praktisch zu fordern, eben nicht theoretisch zu begründen, wäre die Revolution allein gegen das Kapital und damit aber auch gegen die Immanenz des Geschichtsverlaufs und des empirischen Daseins der Menschen. Das macht sie nicht zu einer utopistischen Gedankenspielerei, denn die Forderung ergibt sich aus der bestimmten Negation des Bestehenden. Erst durch Konfrontation des im Begriff der Autonomie gedachten Freiheitspotentials der Menschheit mit der im Kapital verwirklichten Freiheit in verkehrter Gestalt ist die Kapitalkritik begründet. »Paradox genug: Die materialistische Dialektik unterscheidet sich von der des objektiven Idealismus durch einen substanziellen Begriff der Freiheit der Menschen und nicht durch einen positiven Begriff der Materie… Eben darin ist die ›Kritik der politischen Ökonomie‹ revolutionär und bedarf darum nicht der Ergänzung durch eine Revolutionstheorie.«
Michael Heidemann
Geschichte, Klassenbewusstsein und Freiheit
Aporien der Revolutionstheorie bei Georg Lukács. Teil 2
Wenn eine jede Revolutionstheorie in sich aporetisch ist, indem sie den historischen Prozess der menschlichen Befreiung gemäß einer erkennbaren Regel konstruiert und somit nach dem Vorbild eines Naturprozesses darstellt,96 dann muss diese Aporie sich auch in der konkreten Durchführung der geschichtsphilosophischen Konstruktion von Lukács nachweisen lassen. Da die aporetische Form der Revolutionstheorie sich prinzipiell nicht auflösen lässt, erscheint sie zwangsläufig als offener Widerspruch, der in der Begründung des revolutionären Subjekts nach der Seite der reinen Immanenz und nach der Seite der reinen Transzendenz auseinanderfällt. Lukács’ Versuch einer Schlichtung des Widerspruchs setzt zunächst mit der Kritik der Vorstellung ein, dass das ›Hineinwachsen in den Sozialismus‹ gleichsam naturwüchsig, ganz ohne Zutun der Subjekte, aus dem immanenten Prozess der Geschichte folge. Dagegen betont er die Notwendigkeit des revolutionären Bruchs, der die Einsicht der Subjekte in die Bewegungsgesetze des Kapitalverhältnisses ebenso voraussetzt wie die Einsicht, dass diese Bewegungsgesetze historisch entstanden, damit keine ewigen Naturgesetze, sondern durch kollektive Praxis prinzipiell abschaffbar sind.
Michael Heidemann
Geschichte, Klassenbewusstsein und Freiheit
Aporien der Revolutionstheorie bei Georg Lukács. Teil 1
Die Revolutionstheorie tritt das Erbe der idealistischen Geschichtsphilosophie an, aus deren Kritik sie gewonnen ist. Ihre Aporien sind der Sache nach diejenigen der idealistischen Geschichtsphilosophie. Für diese ergab sich bereits das Problem, dass ein konsistenter Begriff von Geschichte die Einheit seines Gegenstandes voraussetzt, mithin den gesamten Geschichtsprozess als eine Totalität begreifen muss, die sich gemäß ihrem inhärenten Entwicklungsprinzip entfaltet. Die Idee der Totalität als die Vollständigkeit der Reihe der Bedingungen zu einer gegebenen Erscheinung wird nach Kant notwendig von der Vernunft gefordert und ist Thema der transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft. Als einer Idee kann ihr selbst kein Gegenstand möglicher Erfahrung korrespondieren, sie ist vielmehr erschlossene Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt. Da die absolute Totalität der Bedingungen die Erkenntnis von Gegenständen möglicher Erfahrung begründen soll, muss sie selbst nach Zeitbestimmungen organisiert sein. Dass überhaupt eine bestimmbare Entwicklung sei, setzt erkenntnistheoretisch den Unterschied einer regressiven und einer progressiven Synthesis in der Zeit voraus. Die Unterscheidung von regressiver und progressiver Synthesis führt Kant im ersten Abschnitt zur Antinomie der reinen Vernunft, im System der kosmologischen Ideen ein: »Ich will die Synthesis einer Reihe auf der Seite der Bedingungen, also von derjenigen an, welche die nächste zur gegebenen Erscheinung ist, und so zu den entfernteren Bedingungen, die regressive, diejenige aber, die auf der Seite des Bedingten, von der nächsten Folge zu den entfernteren, fortgeht, die progressive Synthesis nennen. Die erstere geht in antecedentia, die zweite in consequentia. Die kosmologischen Ideen also beschäftigen sich mit der Totalität der regressiven Synthesis, und gehen in antecedentia, nicht in consequentia. Wenn dieses letztere geschieht, so ist es ein willkürliches und nicht notwendiges Problem der reinen Vernunft, weil wir zur vollständigen Begreiflichkeit dessen, was in der Erscheinung gegeben ist, wohl der Gründe, nicht aber der Folgen bedürfen.« Paradoxerweise ergibt die Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit des Begriffs der Geschichte also eine durch die Gegenwart gespaltene Totalität, wodurch der Begriff der Totalität selbst zerstört wird. Der Unterschied von regressiver und progressiver Synthesis ist nicht haltbar, da in jedem Zeitpunkt diese sich in jene verwandelt, der Indifferenzpunkt der Gegenwart ist also nicht fixierbar. Und doch macht gerade diese Unterscheidung von regressiver und progressiver Synthesis »den logischen Kern jedes denkbaren Begriffs von Geschichte aus«, und zwar eines Begriffs von Geschichte, der Kausalität durch Freiheit voraussetzt, also das Vermögen aus absoluter Spontaneität eine »Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen«. Der von Kant durch die Unterscheidung nach regressiver und progressiver Synthesis gespaltene Begriff der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten ermöglicht den rekursiven Schluss auf die Bedingungen der Möglichkeit des Gegenwärtigen, ohne umgekehrt eine vollständige Theorie der Genesis des Resultats aus seinen Bedingungen zu geben. Dagegen implizierte die Vorstellung einer gegenwärtigen Erscheinung, die zugleich die Totalität aller vergangenen Bedingungen als auch künftigen Folgen in sich enthielte, die Idee einer göttlichen Vorsehung und schlösse mit der Kausalität durch Freiheit zugleich das geschichtlich wirkmächtige Handeln empirischer Subjekte prinzipiell aus. Die Abwehr des Determinismus durch Kant gelingt jedoch nur um den Preis eines inkonsistenten Begriffs von Geschichte, deren Vergangenheit vollständig abgeschlossen ist und deren Zukunft gänzlich unbestimmt bleibt.
Michael Heidemann
Weltfrieden made in China
›Der Sozialismus chinesischer Prägung‹ und die antike Herrschaft des Tianxia
Stolz behauptet Xi, dass das autoritäre Vorgehen Chinas bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie – die nicht zuletzt aufgrund der anfänglichen Vertuschungsstrategie der KPCh zu einer solchen wurde – die Überlegenheit des chinesischen Regierungssystems international unter Beweis gestellt habe. Noch will ihm die Weltöffentlichkeit das nicht so recht glauben, doch die »Resistenzkraft des Rechts« (Horkheimer), wie sie sich im Westen trotz Rechtspopulismus und postmoderner Identitätspolitik nach wie vor erhält, ist prinzipiell jederzeit und spätestens bei der nächsten großen Weltwirtschaftskrise sistierbar. So können die Antiimperialisten im Westen, die sich heutzutage zumeist Antirassisten nennen, den endgültigen Niedergang des US-Hegemons kaum erwarten, an dem sie innenpolitisch in Form von radikalisierten Black Lives Matter-Protesten fleißig mitarbeiten. Meinungsumfragen in Deutschland, die insbesondere unter den jüngeren Befragten mittlerweile knapp 50 Prozent Zustimmungswerte für eine Abkehr vom transatlantischen Bündnis und für eine stärkere Orientierung in Richtung China ergeben, sind angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Unfähigkeit, Residuen von Freiheit überhaupt noch als solche zu erkennen, geschweige denn zu verteidigen, ebenso ernst zu nehmen.
Michael Heidemann
»...damit der Mensch lernt, dass er nur ein Instrument ist...«
Elemente der Gegenaufklärung in der Souveränitätslehre Joseph de Maistres
Durch das klar erkennbare politische Interesse de Maistres kann an seinen Schriften die Dialektik des Aufklärungsprozesses recht deutlich hervortreten. Seine abstrakte Negation der Aufklärung muss sich in letzter Instanz gegen das Denken selbst richten. Es soll, gegen das Ideal der Neuzeit gewendet, eben nicht bei sich selbst anfangen, sondern als immer schon heteronom bestimmtes akzeptiert werden. Sofern sich Gegenaufklärung allerdings eine theoretisch verbindliche Form zu geben versucht, gerät sie unweigerlich in Widerspruch zu ihrem eigenen Inhalt. Anders als ein Hohepriester trägt de Maistre sein Zurück zum blinden Glauben und Gehorsam nicht in der Form eines mythos vor, sondern versucht für eine bewusste Remythologisierung der politischen Sphäre zu argumentieren. Die Unmöglichkeit der Begründung eines Irrationalismus mit rationalen Mitteln führt nun aber nicht zur Preisgabe dieses Anspruchs, sondern zum potenzierten Wahn und zur projektiven Feinderklärung gegen die Repräsentanten des freien Geistes.