Marlene Gallner
Die Barrikade vereint mit den Intellektuellen gegen den Staat der Juden
Zum Verhältnis von geistigem Arbeiter und seinem Publikum
Der psychische Gewinn für den Antisemiten damals wie auch für den Antizionisten heute ist es, seinen inneren Konflikt zwischen der »Neigung zum Aufruhr« und dem »Respekt vor der Obrigkeit« im Judenhass zu lösen. Weil die Geisteswissenschaftler – wie übrigens auch die Künstler, die sich in einer ähnlichen Situation befinden – zurecht ahnen, wie leicht sie gesellschaftlich suspendiert werden können, da sie, um es im Vokabular der Coronapandemie auszudrücken: nicht »systemrelevant« sind, drängt es sie zur Rebellion. Allerdings nicht gegen die tatsächliche Autorität – im psychoanalytischen Sinne den Vater –, sondern in einer Verschiebung gegen einen anderen Feind, von dem sie, allein durch seine Unterzahl und mangelnden Verbündeten, keine Strafe befürchten müssen. Sie haben die Gewissheit, dass ihr Verhalten keine schwerwiegenden Nachteile für sie bedeutet. – Im Gegenteil: Je näher man sich am Nerv der Zeit bewegt, desto besser stehen die Chancen für die eigene Karriere.
Marlene Gallner
Die Unmöglichkeit der Wahl im Angesicht der Katastrophe
Jean Améry über linksintellektuelles und authentisches Judesein
Nicht frei jedoch ist der jüdische Linksintellektuelle in seiner Wahl, die ja keine ist, für Israel. Er ist angewiesen auf den Staat, der ihm potenzielle Zuflucht garantiert. Ist diese einzige Zufluchtsstätte von ihrer Auslöschung bedroht, gibt es keine Alternative als sich für Israel zu ›engagieren‹. »Wir, die wir als Träger jüdischen Schicksals – wir mögen Voll- und Glaubensjuden sein oder total assimilierte Atheisten – uns haben erkennen müssen, sind, seit Israel sich in Gefahr befindet, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die gestern die unsrige war … [Der jüdische Linksintellektuelle] ist – seit sich die arabischen Armeen um Israel sammeln … seit davon gesprochen wird, die Israelis ins Meer zu stoßen – kein Linksintellektueller mehr, nur noch ein Jude.« Die an Sartre geschulte »Eigentlichkeit«, auf die sich Améry im letzten Satz von Zwischen Vietnam und Israel bezieht, ist bei ihm keine im Sinn des Jargons der Eigentlichkeit, sondern im Sinn genau dieses Satzes: »… nur noch ein Jude«. Amérys eigenem »idiosynkratischem Existenzialismus« gemäß ist die Eigentlichkeit eine negative – Erkenntnis der Todesdrohung.
Marlene Gallner
Einheit des Reichs
Über den Vorwurf des Provinzialismus im Historikerstreit 2.0
Das Wort Provinz stammt ursprünglich aus dem Lateinischen: pro ›für‹ und vincere ›siegen‹. Im Römischen Reich bezeichnete es einen »Geschäfts- und Herrschaftsbereich«, ein »unter römischer Oberhoheit und Verwaltung stehendes Gebiet außerhalb Italiens«. Laut dem Wörterbuch der deutschen Sprache bedeutet Provinz: »das von den (modischen) Neuerungen, dem kulturellen Geschehen der Hauptstadt, einer Großstadt wenig berührte Hinterland«. Der etymologische Blick gibt Auskunft darüber, wie sehr es bei der einstigen Bedeutung – und das völlig unbewusst – bleibt, wenn heutige Postcolonials der deutschen Erinnerungskultur zum Vorwurf machen, provinziell zu sein. Dass darin herrschaftliches Denken enthalten ist, liegt auf der Hand. Bekanntlich war Rom im Kolonialgebilde des Römischen Reiches das Zentrum. Die Eigenständigkeit der jeweiligen Provinzen, die es zu verwalten hatte, bedeutete stets eine potenzielle Bedrohung für die Einheit. Es scheint, dass die heutigen Postcolonials sich ebenso wie einst Rom von den Provinziellen bedroht sehen. Es geht ihnen um die Herstellung einer Gemeinschaft durch gemeinsames, inklusives ›Erinnern‹. Der Ruf nach Inklusion blendet völlig aus, in was dabei inkludiert werden soll. Und was den postkolonialen Vertretern zufolge nicht mehr gestört werden soll durch provinzielle Abweichler. Im sogenannten Erinnerungsdiskurs gibt es keinerlei Bewusstsein über den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang. Wahrheit wird auf Faktizität reduziert. So, wie die Naturwissenschaftler keinen Begriff von Natur zu haben brauchen, da sie nur erkennen, was den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgt, bewegen sich die Erinnerungsforscher lediglich im ›Erinnerungsdiskurs‹. Sie haben keinen Begriff von gesellschaftlicher Totalität, der aber notwendig ist, um den Antisemitismus überhaupt begreifen zu können.
Marlene Gallner
In den Antinomien der Meinungsbildung
Zur Frage, warum der postkoloniale Geschichtsrevisionismus in Deutschland heute auf fruchtbaren Boden fällt
»Seit Hitler sind die Juden … die Manövriermasse der Macht«, bemerkte Geisel. »Der Staat kann sie, je nach Konjunktur, verderben oder beschirmen, vernichten oder beschützen. Was im Feudalismus noch reine Laune des Herrschers war, das hat die moderne Exekutive planmäßig in Regie genommen. Ihr geht es, wenn sie Juden schützt oder opfert, anders als bei Hofe nicht um die Kasse, sondern um den seelischen Haushalt der Nation.« Auch im Erinnerungsgeschäft werden die Juden als Manövriermasse benutzt. Sind sie einem nützlich und bringen einen eigenen Gewinn, beruft man sich gern auf sie, wie im Fall des Berliner Holocaustdenkmals. Werden sie jedoch als störend empfunden, heißt es, die Erinnerung an die Judenvernichtung sei nicht mehr »zeitgemäß«. So geschehen in Österreich im Jahr 2021, als mehrere Zeithistorikerinnen und -historiker, die aufgrund »ihrer Positionen in renommierten heimischen Institutionen« lieber anonym bleiben wollten, darauf bestanden, dass ein Holocaustmahnmal, das nur jenen gedenkt, die »aufgrund der Nürnberger Gesetze verfolgt wurden«, ein »nicht mehr zeitgemäßer Zugang« sei. Heute gehe es um inklusives Gedenken, um zeitgemäße – das heißt: intersektionale – Erinnerungsarbeit.
Marlene Gallner
Die Deutschen als Vernichtungsgewinner
Ein Vortrag und zwei Nachträge über die positive Einverleibung der Shoah
Schönheit in Deutschland ist, moralische Überlegenheit zu demonstrieren gegenüber den Opfern und deren Nachkommen. Der Fall war so: Das Zentrum für politische Schönheit hat eine Säule gegenüber des Bundestagsgebäudes in Berlin aufgestellt, um gegen die CDU und deren vermeintliche Unterstützung der AfD zu protestieren. Die Annahme dahinter war, dass so, wie die Konservativen der Weimarer Republik die Steigbügelhalter der Nazis waren, heute die CDU der Steigbügelhalter eines neuen Faschismus sei. So weit, so falsch. Um Aufmerksamkeit für ihre Aktion zu erzeugen, buddelten die Aktivisten vom Zentrum für politische Schönheit in den Resten deutscher Vernichtungslager in Polen, beziehungsweise in nahegelegenen Massengräbern, menschliche Überreste aus, um damit ihre Säule zu befüllen. Im Judentum ist es ein Tabu, die Totenruhe zu stören. Das wussten die Aktivisten im Vorfeld auch. Sie waren nicht einfach ignorant, sie wollten die Provokation. Und tatsächlich gab es großes Entsetzen über die Enthüllung der Säule, vor allem von Juden in Deutschland und in Israel. Das Entsetzen war so groß, dass die Aktivisten den Inhalt der Säule schließlich entfernten. Sie wussten nur nicht wohin. Das hatten sie sich nicht überlegt. Am Ende nahm sich die orthodoxe Rabbinerkonferenz der menschlichen Überreste an, um sie wieder zu bestatten. Das Zentrum für Politische Schönheit hat damit die AfD eindeutig übertrumpft. Die AfD hat, im Gegensatz zum Zentrum für politische Schönheit, die Asche der Toten (noch) nicht an ihren Händen.
Marlene Gallner
Kurze Anmerkung zu Phyllis Cheslers Kritik des Women’s March
Eine gravierende Konsequenz der Intersektionalitätstheorie ist, dass man sich mit dem Vorwurf des Antisemitismus gar nicht argumentativ auseinanderzusetzen braucht. Stattdessen scheint es ausreichend, drei jüdische Mitglieder in den Steuerungsausschuss einzuladen, die der eigenen politischen Linie entsprechen, um den Vorwurf für nichtig zu erklären. Als Jüdinnen segnen sie das antisemitische Programm ab und dienen letztlich als eine Art Schutzschild, mit dem unliebsame Nachfragen abgewehrt werden. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, der erst kürzlich wieder zu Tage trat, als Bob Bland das »jüdische Establishment« für den rechtsterroristischen Anschlag in Neuseeland verantwortlich machte, wird dabei gänzlich ausgeblendet.
Marlene Gallner
Kein Ende des Zionismus
Der 70. Unabhängigkeitstag Israels und die Post-Zionisten
Enzo Traverso zufolge habe das Judentum mit der Etablierung Israels eine konservative Wende durchgemacht. Denn Israel selbst habe »die ›Judenfrage‹ wieder erfunden«, während die Juden nach dem Zweiten Weltkrieg in den liberalen Demokratien zu einer anerkannten und beschützten Minderheit wurden. Was nützt es den Juden in Europa heute, »anerkannt« zu sein, wenn sie dennoch Opfer von Gewalttaten werden und das in letzter Zeit immer häufiger. Zuletzt wurde am 23. März 2018 in Paris Mireille Knoll brutal ermordet, weil sie Jüdin war. Am 28. März 2018 wurde in St. Petersburg Mikhail Verevskoy totgeprügelt, weil er Jude war. Traverso gibt zwar zu, dass es auch heute noch Judenfeindlichkeit gebe, behauptet aber, dass sich diese aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt speise. In dieser, der Opfer-Täter-Umkehr verpflichteten, Rationalisierung zeigt sich der ganze Abgrund des Post-Zionismus. Man will nicht wahrhaben oder verleugnet gar explizit, was bereits Pinsker hellsichtig bemerkt hatte: Der Antisemitismus ist ein Wahn, der sich weder vernünftig begründen noch durch Argumente wirksam bekämpfen lässt. Das gilt – auch wenn sich der Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert fortentwickelt hat – bis heute. Für den Antisemiten und seine Projektion ist es egal, wie sich sein Opfer tatsächlich verhält. Er findet sein Ziel weiterhin.
Marlene Gallner
Politisches Denken nach Auschwitz
Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und Jean Améry unter Deutschen
Viele Deutsche sehen sich heute – entweder noch immer oder wieder – als Opfervolk, das selbst immenses Leiden hat auf sich nehmen müssen. In dieser Auffassung spiegelt sich das Aufwiegen des Leids, wie es Arendt, Adorno und Améry konstatierten, das im Endeffekt der Schuldabwehr dient. Darüber hinaus wird der Nationalsozialismus heute häufig anonymisiert und von der Wirklichkeit abstrahiert. Er gilt zunehmend nicht mehr als spezifisch deutsch, sondern wird in universale Zusammenhänge eingebettet und so neutralisiert. Gleichzeitig findet eine ständige Beweihräucherung statt, wie außergewöhnlich gut man mit der eigenen Geschichte umgehen würde. Kein anderer Staat der Welt kann sich heute mit solch beeindruckenden Shoah-Mahnmalen schmücken wie Deutschland. Der Stolz der Deutschen, wie ihn schon Améry angeprangert und Adorno beschrieben hat, ist auf diese Weise, einige Jahrzehnte nach der Schmach der Niederlage, wohl eher noch gewachsen. Die deutsche Nation kann sich noch die Vernichtung um der Vernichtung willen positiv einverleiben.