Manfred Dahlmann

Manfred Dahlmann

Totale Vergesellschaftung und totale Herrschaft

Zur Kritik der Totalitarismustheorie Hannah Arendts

Heft 22, Sommer 2023 Essay

Für Arendt ist Rechtlosigkeit mit Weltlosigkeit identisch. Mehr noch, die Rechtlosigkeit erzeugt die Barbaren, die unserer Zivilisation den Garaus bereiten werden. Eine andere Möglichkeit als die, diese Menschen zu Staatsbürgern zu machen, um sie und die Zivilisation zu retten, sieht sie nicht. Wenn aber, anders als von Arendt unterstellt, die »Gemeinsamkeit«, durch welche die Welt eine »verständliche« wird, nicht vom Nationalstaat hergestellt wird, sondern die gesellschaftliche Synthesis durch den Wert das identische Moment ist, durch das hindurch ein Mensch seinen Weltbezug gewinnt, dann hat der Mechanismus, in dem der Bürger sich mit seiner Nation identifiziert und darüber zu einen Staatsbürger wird, seinen Grund nicht in der Zuerkennung von Rechten durch den Staat, sondern darin, dass sich dieser Mensch auf Märkten bewegt, wo er kaufen und verkaufen kann, was ihm beliebt – sofern er über Geld oder Arbeitskraft verfügt. Das Recht ist dann Ausdruck dieser Wirklichkeit – und nicht, wie bei Arendt, umgekehrt. Auf diesen Märkten ist jeder Mensch immer schon das »allerallgemeinste und das allerspeziellste, das beides gleichermaßen abstrakt ist« – das aber gerade deshalb nicht »weltlos bleibt«, sondern unter den Bedingungen totaler Vergesellschaftung erst infolge dieser Abstraktion zum in der Welt existierenden Menschen wird.

Im Individuum selbst konstituiert sich schon die Einheit und Differenz zu sich selbst. Die Welterfahrung ist nur als Folge dieser grundsätzlichen Bestimmung des Individuums als Einheit in einer Differenz zu begreifen – den Staat oder das Recht braucht das Individuum, um sich in der Welt bewegen zu können, nur in der bürgerlichen Gesellschaft. An sich aber überhaupt nicht. Denn das einzig notwendig Allgemeine, dass dieser Einheit des Individuums gegenübersteht, ist der Begriff der Menschheit.

Manfred Dahlmann

Das Kapital und seine Geschichte

Gibt es eine materialistische Lösung für das Henne-Ei-Problem?

Heft 20, Sommer 2022 Essay

Heute ist dieser Gott, in dieser seiner synthetisierenden Macht, tot. An seine, die Gesellschaft synthetisierende Stelle ist der Wert getreten, der sich als allgemein akzeptierter Inhalt gesellschaftlicher Reproduktion in der universell gewordenen Geldform materialisiert hat: Das Geld ist so ein empirisch existierender Gott geworden und verschaffte damit dem Wert (im Vergleich zu dem sinnlich nicht erkennbaren Gott der altkatholischen, mittelalterlichen Kirche) seine himmelweite Überlegenheit. Das Geld als der sinnlich wahrnehmbare Ausdruck eines übersinnlichen, abstrakten und allgemeingültigen Prinzips: eben der Verwertung von Wert, sorgt nun dafür, dass die kapitalistisch vergesellschafteten Subjekte sich ebenso wie die mittelalterlichen Menschen als Teile eines allgemeinen Ganzen erfahren. Diese allgemeine Form verschafft diesen Subjekten dann die ihrer Form der Vergesellschaftung adäquaten Ideologien, so etwa (neben derjenigen, die, wie oben behandelt, glaubt vom Inhalt auf die Form schießen zu können) die, davon überzeugt sein zu können, nur als Glieder eines staatlich organisierten, gesellschaftlichen Verhältnisses existieren zu können.

Das alles zusammengefasst: Ein Buch wie Das Kapital von Marx konnte – so wenig wie die anderen philosophischen Werke der Neuzeit – in der Antike unmöglich geschrieben werden. Diese philosophischen Werke insgesamt berichten, vor dem Hintergrund der marxschen Wertformanalyse gelesen, von der Wahrheit, dass es in der Geschichte der Menschheit eine Verschiebung vom Inhalt zur Form, von der die Praxis anleitenden, römisch-hellenistischen Tugendlehre etwa, zur analytisch-empirisch allein zu ermittelnden Wahrheit gegeben hat und diese Philosophien analysieren insgesamt und jede auf ihre Weise, wie auch immer ideologisch verfremdet, die Funktionsweisen einer Gesellschaft, der nur die Inhalte etwas bedeuten, die sich in die gegebene Form einpassen lassen – womit wir den Anfang dieses Vortrages wieder eingeholt hätten: Diese Form (wie ja auch eine Bierflasche) vermag, beliebige Inhalte aufzunehmen – aber durchaus nicht jeden: sondern nur den, der sich auch in einer Bierflasche unterbringen lässt beziehungsweise ihr tatkräftig angepasst worden ist. Und eine derartige Organisation der Gesellschaft hat es weltgeschichtlich vor dem Kapitalismus nirgendwo gegeben.

Manfred Dahlmann

Wer gab der Rose ihren Namen?

Vortrag vom 18. November 1986

Heft 19, Winter 2021/22 Essay

Insofern es Eco gelungen ist, die Rätselhaftigkeit der Wirklichkeit zu beschreiben, ist es ihm vielleicht gelungen, einige Leser in ihren bisherigen Denkschablonen zu verunsichern und sie zu eigenständigem Denken anzuregen. Diese damit erzeugte Differenz zwischen Individualität und Welt ist, das gebe ich Eco zu, Voraussetzung für jedes kritische Denken. Wer, wie die Jorges, die Wahrheit gefressen hat, ist mit den Gegenständen identisch und kann zur Kritik nicht mehr kommen. Mit seiner Strategie der semiotischen Guerilla kann Eco aber nicht mehr erreichen, als diese Grundvoraussetzung für kritisches Denken zu reproduzieren – zur wirklichen Kritik gelangt man auf diesem Wege nicht.

Manfred Dahlmann

Seinslogik und Kapital

Kritik der existentialontologischen Fundierung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie – am Beispiel von Frank Engsters Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Teil 3: Die Zeit im Geld

Heft 17, Winter 2021 Essay

Um es der zentralen Bedeutung wegen zu wiederholen: Wenn Heidegger vom Sein und Engster vom Geld sprechen, erscheint es intuitiv so, als redeten sie über Gegenstände außerhalb unseres Bewusstseins. Das aber geht am Selbstverständnis aller Existenzialontologen vorbei. Vom Sein reden diese wie Hegel vom Geist: also als einer allen Phänomenen gleichermaßen immanenten, sie zugleich umfassenden, überindividuellen und ideellen (All-)Einheit, die zwar gegenständliche Form (in vielfältigster Weise) annimmt und der Reflexion zum Gegenstand werden, von ihr aber nicht überschritten werden kann, was Engster treffend als das »Unverfügbare« charakterisiert. Das Sein (als in jedem einzelnen Bewusstsein anwesendes All-Allgemeines) als etwas Unverfügbares zu begreifen, fällt so schwer nicht, aber das Geld? Macht die Verfügbarkeit über Geld nicht geradezu dessen ›Wesen‹ aus? Wenn man aber zeigt, dass Engster vor allem am Marxschen Geldbegriff eine seiner Verschiebungen in den Begriffen vorgenommen hat, wird deutlich, was ihm erlaubt, von der Unverfügbarkeit des Geldes zu sprechen: In seinem Geldbegriff komprimiert sich – schaut man genauer hin – all das, was Ökonomen als Markt (und dessen Gesetze) bezeichnen. Und über diesen Markt verfügt ja tatsächlich keiner – darauf wird zurückzukommen sein.

Manfred Dahlmann

Der Wert und die Ideale: (Un-)Moralische Perspektiven

Heft 18, Sommer 2021 Essay

Meine Frage an Michael Heinrich, der mit diesem biologistischen Unfug der Übertragung eindeutig ökonomischer Kategorien in die Natur zugegebenermaßen nichts zu tun hat, aber lautet: Was wird aus der in der Form der Darstellung enthaltenen Kritik, wenn der Kapitalismus seine Subjekte in einer Weise konstituiert, die jeden Einspruch des Subjekts gegen was auch immer – und sei es die klassische Logik, der gemäß dort, wo A sei, nicht auch und zugleich Nicht-A sein könne –, die Subjekte also in einer Weise konstituiert, die alles, was zu einem Willen nach Überwindung als falsch oder schlecht erkannter Verhältnisse führen könnte, in ein Verfahren transformiert, das nichts anderes dynamisiert und am Leben erhält als eben den Prozess kapitalistischer Verwertung des Werts? Unterstellt, diese Frage wäre mit ja zu beantworten, dann ist das Schicksal solcherart Kritik durch Darstellung besiegelt: ungewollt, aber mit Notwendigkeit affirmiert sie den Kapitalismus.

Manfred Dahlmann

Seinslogik und Kapital

Kritik der existentialontologischen Fundierung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie – am Beispiel von Frank Engsters Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Teil 2

Heft 16, Sommer 2020 Essay

Dem Seinsphilosophen gelingt es allerdings auch nicht, sich von Negation und Vermitteltheit vollständig zu ›befreien‹ – zumindest so lange es noch Seiendes gibt, das sich ihm entgegenstellt. Auch und gerade er – und hier gehen Philosophie und gesunder Menschenverstand übergangslos ineinander über – konzentriert das Positive in das Eine (das Sein) und das von ihm abgeschiedene Negative zwar nicht in ein Außen (das ist ihm verwehrt), sondern in ein ›Man‹, in eine ›Seinsvergessenheit‹ … So abstrakt und schwer verständlich die Seinsphilosophie auch daherkommen mag, so unerträglich ihr Geraune und so widerwärtig ihre Geschichtsblindheit auch ist: sie rennt mittlerweile in allen Kreisen bis hin zu den Stammtischen nicht mehr nur weit offene Türen ein – sie befindet sich längst mittendrin im gesellschaftlichen Zentrum, in ihrer barbarischen Gewalt nur noch zurückgehalten von der rationalen Form, die sich auf den globalen Märkten organisiert. Jede Krise rüttelt weiter an der Geltung dieser Form. Und den Seinsphilosophen mögen die Massen als Pöbel erscheinen: sie liefern diesem dessen Philosophie. Fällt die materielle Basis des Rationalismus in oder nach einer Krise aus, dann vereinigen sich Pöbel und Experten zur vernichtenden Gewalt.

Manfred Dahlmann

Seinslogik und Kapital

Kritik der existentialontologischen Fundierung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie – am Beispiel von Frank Engsters Das Geld als Maß, Mittel und Methode

Heft 15, Herbst 2019 Essay

Geht man die Bestimmungen, wie Engster sie vornimmt, näher durch, dürfte einem als erstes auffallen, dass dem ausgewiesen exzellenten Hegelkenner entgangen zu sein scheint, dass der Begriff ›Geld als solches‹ kaum dazu taugt, als eine »Funktion« zu fungieren, die, darüber noch hinaus, mit den anderen zwei (oder drei: nimmt man die des Wertaufbewahrungsmittels hinzu) auf eine Stufe gestellt werden kann. Den Begriff ›Geld als solches‹ kann man, und das ist Engster zweifellos bekannt, in zweifacher Hinsicht bestimmen – und damit kommen wir zum Hauptproblem seiner gesamten Marxinterpretation: Entweder das Geld wird als Einheit gefasst, die all die Bestimmungen, die ihm zugeschrieben werden können (oder, in der Ausdrucksweise Engsters: die es objektiviert), in sich enthält, oder es wird als eine Identität begriffen, die an und für sich selbst (kantisch: rein), das heißt (logisch gesehen) vor all diesen Bestimmungen existiert. Im Sinne des ersteren wäre es die Einheit von etwas unter/in ihm Befassten, im zweiten etwas in sich Identisches, auf das jede Bestimmung, die die Merkmale und Funktionen des Geldes expliziert, zurückgreift.

Manfred Dahlmann

Der Wert und die Ideale

(Un-)Moralische Perspektiven

Heft 14, Frühjahr 2019 Essay

Die Instanz, die in vorbürgerlichen Gesellschaften für die geistige Vermittlung der Individuen zu einer Gesellschaft verantwortlich war, und diese Rolle spielte hier die Moral, die Ethik, die Tugendlehre, die führt in der bürgerlichen Gesellschaft ja tatsächlich ein eigenartiges Schattendasein. Und weil das so ist, deshalb können ein Nietzsche und ein Heidegger überhaupt nur so viel Anklang finden, eine derartige Faszination auf die Bürger ausüben. Dass die Ethik irgendetwas für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft leistet, ist ja tatsächlich eine pure Einbildung interessierter Kreise, die davon leben, dass sie für ihre theoretischen Absonderungen bezahlt werden. Die Rolle, die die Ethik in dieser Gesellschaft spielt, ist wirklich keine andere als die, dass sie im Nachhinein rechtfertigt, was die Märkte an Faktischem vorgegeben haben. Weder die Ethik noch der Staat oder das Gesetz synthetisiert die einzelnen Individuen in das Ganze: sondern diese Gebilde sind Ausdruck einer ganz anderen, für sich selbst vollkommen unsichtbar, das heißt abstrakt bleibenden Vermittlung: diese Wahrheit ist die gesellschaftlich tatsächlich gegebene Grundlage, von der aus die Existentialisten argumentieren. Für alle Probleme, mit denen wir uns herumschlagen, hat etwa Nietzsche eine einzige Antwort parat: Man muss aufhören zu glauben, das Befolgen der vom Christentum vorgegebenen Werte (insbesondere das Mitleid mit dem Mitmenschen, dessen Verfallsform dann für Nietzsche und Heidegger und Foucault der Humanismus darstellt) könnten irgendwie zur Problemlösung beitragen, im Gegenteil: sie sind die Ursache des Übels.

Manfred Dahlmann

Der Kommunismus ist wichtig, aber Osso Buco ist auch nicht ohne

Heft 13, Herbst 2018 Parataxis

Staatsfeind auf dem Lehrstuhl hat man ihn genannt. Johannes Agnoli hat nicht widersprochen und der Staat hat ihn dennoch nicht aus seinem Amt entfernt. Anders verhält es sich mit den ehemaligen Berufsrevolutionären von 1968. Auch sie wurden nicht entlassen, aber eben Staatsfeinde wollten sie sehr schnell nicht mehr sein. Typisch für Johannes Agnoli, wie er, als diese Revolutionäre so herzergreifend darüber jammerten, dass der Staat sie nicht Lehrer und Briefträger werden lassen wollte, ihnen mit auf den Weg gab, dass es ein reichlich merkwürdiges Verhalten ist, den Staat darum anzubetteln, dafür bezahlt zu werden, dass man ihn besser bekämpfen kann.

Manfred Dahlmann

Gedankensplitter

Heft 12, Frühjahr 2018 Essay

Jeder Blick in die Geschichte beweist: Je später die liberal-demokratischen Verteidiger des Systems endlich zur Einsicht gelangen, dass diese sich jeder Reflexion verweigernden Autarkisten nicht zu integrieren sind, nicht weiterhin so hofiert werden dürfen, wie dies von ihnen seit je praktiziert wird, sondern nur bekämpft werden können, um so sicherer kommt es zu Kriegen und umso schlimmer werden die werden.
Die Ausrichtung der Politik auf Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung ist als (nicht gewaltsame oder kriegerische) Krisenlösungsstrategie denen der staatlichen ›Investitionen‹ in die Weltraumfahrt in den 1950er bis 60er Jahren funktional äquivalent (so wie, betriebswirtschaftlich, der Übergang zur IT-Technologie funktional dem Taylorismus äquivalent war). (Unsinnigkeit des Arguments, dass die dafür ausgegebenen Gelder besser in die Verringerung der Weltarmut gesteckt werden sollten.)

Manfred Dahlmann

Das Rätsel der Macht

Zur Kritik Michel Foucaults

Heft 10, Frühjahr 2017 Essay

Es scheint schon bisher unmittelbar einsichtig, dass in Foucaults Machtbegriff für den Begriff Krise beziehungsweise Verelendung (wohl aber Elend als Resultat,) kein Platz ist. »Was die Volksbewegungen betrifft, so hat man sie immer durch Hungersnöte, Steuerlasten, Arbeitslosigkeit erklärt; niemals sah man in ihnen einen Kampf um die Macht, als könnten die Massen zwar von gutem Essen träumen, aber gewiss nicht von der Ausübung der Macht.« Alle Bezugspunkte, auf die sich eine ökonomische oder soziale Krisentheorie stützen könnte, fehlen hier: Begriffe wie Wohlstand/Reichtum; wünschbare oder existierende Ordnung; (ökonomische) Gesetzmäßigkeit (Gesetze überhaupt); Rechtsordnung; ja sogar der der Herrschaft der Bourgeoisie, auf deren Gefährdung jede Krisentheorie rekurrieren müsste, werden von Foucault nicht entwickelt. Alle diese Begriffe sind aufgelöst in die Kategorien Kampf, in beständiges Werden, in ein Werden, das weder Auf- noch Abwärtsbewegungen kennt, sondern nur horizontale beziehungsweise vertikale Verteilungen in einem Netz der Macht.

Manfred Dahlmann

Autarkie ist Regression

Ausschnitte aus einem Gespräch mit Gerhard Scheit

Heft 10, Frühjahr 2017 Parataxis

Wenn die Waren wegen der Zölle das Doppelte kosten oder gar nicht erst importiert werden, dann richtet sich dieser Volkswille, obwohl er doch auf die Autarkiepolitik ansonsten so dermaßen fixiert ist, dass seine Träger für sie zu sterben bereit sind, gegen die Autarkie. Der Weltmarkt, den keiner ja je wirklich gewollt hat und für dessen Entstehung es nie eine politische Bewegung gegeben hat, sondern der sich hinter dem Rücken der Einzelstaaten durchsetzte, entstand in diesem Zwiespalt der Bürger, den sich im Weltmarkt ausbildenden Reichtum sich aneignen zu wollen, dabei aber auf den Staat setzen zu müssen, der aber nun einmal der größte Feind des Weltmarktes ist; ihn tendenziell zerstört. Man kann es auch so sagen: Das Volk ist ein Souverän, der sich immer wieder selbst an seinen größten Feind verrät und zu ihm überläuft.

Manfred Dahlmann

Was ist Wahrheit? Was materialistische Kritik?

Heft 09, Herbst 2016 Essay

Was bedeutet dieses Wort – für sich allein betrachtet? Ich könnte jetzt ganz oberlehrerhaft eine kleine Pause einschieben, und euch danach auffordern, mir zu sagen, was euch in Bezug auf die Bedeutung dieses Wortes so alles eingefallen ist. Und jede Antwort, die anderes beinhaltet als das kleine Wörtchen ›nichts‹, müsste ich als falsch zurückweisen. Denn an und für sich selbst betrachtet handelt es sich bei diesem Wort um eine Zeichen- beziehungsweise Lautkette, die eben rein gar nichts bedeutet. Um Bedeutung erlangen zu können, muss ich dieses Wort, ob ich will oder nicht, in eine Umgebung anderer Wörter stellen: Eine Möglichkeit dazu habe ich schon benannt, als ich alle Antworten, die anderes beinhalteten als das Wörtchen ›nichts‹, als falsch deklarierte: Um wissen zu können, was Wahrheit ist, muss ich zugleich wissen, was sie nicht ist. Aber, ich gehe gleich einen Schritt weiter, ich muss gleichzeitig nicht nur das bedenken, was das genaue Gegenteil von wahr, also was falsch ist, sondern den Begriff von allem abgrenzen, was er nicht bedeutet. Also: wer nach der Bedeutung des Begriffs Wahrheit fragt, nimmt vor jeder Antwort eine Unterscheidung vor: er grenzt das, was er für wahr erachtet, von allem ab, was für ihn nicht wahr ist – beziehungsweise das Problem der Wahrheit gar nicht erst berührt. Diese Negation umfasst also nicht nur das eindeutig Falsche: dieses ja gerade nicht, denn die Aussage: ›Das ist falsch‹ beansprucht ja, eine wahre Aussage zu sein, sondern auch all das ebenso oder gerade erst recht, was sich der eindeutigen Gegenüberstellung von wahr und falsch entzieht.

Manfred Dahlmann

Geschichte und Struktur

Diskussion zu Rosdolsky, Schmidt und Puder

Heft 08, Frühjahr 2016 Essay


Die Frage ist zunächst weniger, wie viel Hegel, wie viel Kant, wie viel und welche Philosophie überhaupt ins Kapital eingegangen ist, sondern allein schon mit dem Bezug auf Totalität sind von Marx philosophische und insbesondere erkenntnistheoretische Vorgaben gesetzt, die, werden sie missachtet, aus Marx unweigerlich einen Theoretiker der politischen Ökonomie machen und nicht einen Kritiker, der diese auf den Begriff bringen will. Worin dieser Unterschied besteht, sei an einem kleinen Beispiel erläutert: Selbstverständlich kann man die Relationen, in die die Waren eingebunden sind, in denen sie produziert werden usw., als Strukturen bezeichnen – weder Rosdolsky noch Schmidt lehnen diese Bezeichnung von vornherein ab, warum sollten sie auch –, woraufhin man untersucht, wie sie entstanden sind und welche Veränderungen in ihnen stattgefunden haben. Zu fragen wäre jedoch, warum man hierzu auf einen Begriff zurückgreift, der erst mehrere Jahrzehnte nach Marx, mit der Ausbreitung des Positivismus, Karriere gemacht hat, und dabei auf den Begriff der Form verzichtet, den Marx verwendet – und auf den Rosdolsky wie Schmidt bestehen –, um das, was man auch Struktur nennen kann, zu erfassen. Die Antwort ist einfach: Der Formbegriff weist vielfältigste philosophische Implikationen auf – die auf Aristoteles zurückgehen – und die, wie Rosdolsky und Schmidt vorführen, verlangen, dass, wer Form sagt, logisch nicht umhin kann, auch deren Inhalt, wie implizit bleibend auch immer, anzusprechen. Von solch einer Begriffen inhärenten Logik ist jeder Strukturalist ‚befreit‘; er kennt nur Elemente und Relationen, jedenfalls keine Inhalte.

Manfred Dahlmann

Kritik als Politisierung der Kunst?

Walter Benjamin und die Ästhetisierung der Politik

Heft 08, Frühjahr 2016 Essay

Alle Benjamin-Exegese steht zudem vor einem Dilemma, das Benjamin nicht gelöst hat und auch sonstwer prinzipiell nicht auflösen kann: Wer sich auf das Einzelne, das Detail einlässt, kann zunächst – und das ist, wenn man nicht auf dem Imperativ bestehen will, in Allem das Böse entdecken zu müssen, einfach nicht zu vermeiden –, allerorten auch Fortschritte entdecken. Indem er alle historischen Details auf ein (theologisch inspiriertes) Total-Allgemeines bezog, ging es Benjamin geradezu darum, schon in ihnen diese Fortschrittsgläubigkeit als Mythos zu entlarven. So wenig dagegen argumentativ auch vorgebracht werden kann: Auf das heutige Massenbewusstsein bezogen baut dieses Vorhaben auf Sand. Von jedem Einzelnen in dieser Masse wird jeder ›Erfolg‹ im Persönlichen als Beitrag zum Fortschritt des Ganzen interpretiert. Dieses Massenbewusstsein ist in seiner (und die darin versammelten Einzelnen sind in ihrer) Gewissheit, exakt zu wissen, wie sich alle Probleme dieser Welt beseitigen lassen, wenn sich nur ein Jeder exakt der Ordnung fügt, die es (in jedem einzelnen Kopf durchaus unterschiedlich, hier aber in seiner Inhaltsleere dem Massenbewusstsein absolut äquivalent) als fixe Idee vor Augen hat, durch nichts zu erschüttern. Im Gegenteil, dieses Bewusstsein, das seine Leere mit Gewissheit verwechselt, verfestigt sich zum Ressentiment in genau dem Maße, je weniger es seinen Wahn in die Realität zu projizieren vermag. So recht Benjamin also hat, so wenig kann man seine Hoffnung teilen, es gäbe irgendeinen Weg, in den Massen Vernunft zu verankern. Im Massenbewusstsein wie in der Weiterentwicklung der Technologien wird, unterhalb aller Ereignisse, bis ins kleinste Detail hinein die Ästhetisierung der Politik betrieben und fortschreitend vervollständigt, also die künftige Vernichtung vorbereitet. Demgegenüber existiert nirgendwo, außer (und selbst dort nicht allseits) in Israel, ein Begriff von der Bedrohung, die von dem, wie sich bei Heidegger zeigt, in sich antisemitischen Total-Allgemeinen (das sich im Namen Kapital den ihm adäquaten Ausdruck gegeben hat) ausgeht. Keine Detailkritik, so geboten sie auch sein mag, entkommt dieser Ästhetisierung heutzutage, sondern, wie die bisherige Benjamin- (und auch Adorno‑)§Exegese beweist, früher oder später erliegt sie ihr.

Wenn die Vernunft in Zukunft nicht (als von Grund auf erst noch zu implementierende) doch noch, wie unwahrscheinlich das auch sein mag, durchgesetzt wird, dann hat sie (und sei es negativ) nie außerhalb der Vorstellungswelt Einzelner irgendwo geschichtlich in irgendeinem Allgemeinen je existiert – diesem Befund dürfte auch Benjamin zustimmen. Man muss sich jedenfalls endlich von der Vorstellung lösen (die von Benjamin zwar nicht offen propagiert wird, von der er sich aber auch nicht eindeutig genug und durchgängig distanziert), es gäbe Opfer in der Geschichte, die der (oder auch nur: einer) Vernunft den Weg bereitet hätten oder auch nur hätten bereiten können.

Manfred Dahlmann

Kapital, Geld und Wert

Heft 07, Herbst 2015 Essay

Marx war, das können wir ihm zuschreiben, ohne ihm Unrecht zu tun, von dem gleichen Ehrgeiz getrieben, wie alle Ökonomen der Neuzeit: Auch seine Kritik sollte durchgängig in operationalisierbaren Wertausdrücken gründen. Setzt man dabei aber Wert- und Preisausdruck auch bei der Bestimmung des Kapitalbegriffes in eins, dann droht unterzugehen, dass Geld- und Kapitalzirkulation zwar ineinander verschoben sind, aber auf je anderen Maßeinheiten aufbauen müssen. Trennt man sie, dann muss man offen zugeben und, das gebietet die philosophische Aufrichtigkeit (Jean-Paul Sartre), dann auch ausweisen, dass der Sprung in die (Quasi‑)Metaphysik unvermeidbar ist.

Inwieweit es Marx gelungen ist, die Metaphysik in seiner Darstellung auf deren unvermeidbaren Kernzu reduzieren, und die Größen, mit denen er operiert, tatsächlich in einen Status zu versetzen, der dem szientistischen Anspruch auf Messbarkeit genügt, können wir hier unmöglich im Detail untersuchen, ebenso wenig, ob die Operationalisierungen, die er vornimmt, bis in alle Einzelheiten hinein korrekt sind – was, wäre das der Fall, angesichts der Komplexität der Materie an ein Wunder grenzen würde und schon deshalb nahezu unmöglich ist, weil sich diese Komplexität bis heute vielfach potenziert hat. Uns reicht der Nachweis, dass Marx, was die Möglichkeiten der Formalisierung ökonomischer Prozesse betrifft, der aktuellen Realität – und das nachprüfbar – sehr viel näher kommt als alle heutigen Ökonomen zusammen, und geben uns mit der Angabe des Weges zufrieden, wie die Operationalisierung prinzipiell durchzuführen wäre.

Manfred Dahlmann

Ökonomie und Ideologie

Heft 06, Frühjahr 2015 Essay

So sehr die Subjekte sich auch darum bemühen, Maße für ihre ideelle Gedankenwelt zu entwickeln, indem sie Alles und Jedes in allen möglichen Formen quantifizieren, es existieren schlichtweg keine objektiven Messverfahren (und -einheiten), auf welche sie zurückgreifen könnten, um die Geltung ihrer Maßstäbe auszuweisen. Befriedigung kann sich nur im Subjektiven einstellen, an einem Ort also, wo jedes Anlegen eines quantifizierenden Maßes willkürlich ist, da in ihm der Satz der Identität keine Grundlage vorfindet, sondern nur in ihn projiziert werden kann. Um solche Projektionen handelt es sich etwa bei dem Überlegenheitsgefühl, das sich allgemein einstellt, wenn Deutschland Fußballweltmeister geworden ist, bei der allseitigen Freude, wenn die Partei, die man gewählt hat, auch an die Regierung gelangt ist, bei der Bestätigung, die jedermann in sich verspürt, wenn er vom Chef gelobt wird. Denn diese emotionalen Aufwallungen stehen allein für sich selbst und sind, warenförmig idealisiert und quantifiziert, nichts als Ausdruck der Vernunftwidrigkeit des ökonomischen Ganzen. Solcherart psychischer ›Mehrwert‹ lässt sich, rationalisiert, der betriebswirtschaftlichen Logik, an der auch alle Politik sich ausrichtet, zwar umstandslos subsumieren und diese Subsumtion erfolgt allgegenwärtig, erreicht aber die Basis nicht, auf der diese Logik sich konstituiert.

Manfred Dahlmann

Die Subjekte der politischen Ökonomie

Heft 05, Herbst 2014 Essay

Der zentrale und von uns schon hervorgehobene, für die aktuelle Krisenentwicklung maßgebliche Fakt (und dieser wird kaum noch geleugnet, auch wenn öffentlich nicht darüber geredet wird) ist: Nicht zuletzt der Erfolg der Antiinflationspolitik hat dazu geführt, dass die Geldmenge mittlerweile ein Vielfaches der Preissumme der aktuell produzierten Warenmenge ausmacht. Eine Hauptaufgabe der aktuellen Politik besteht zweifellos darin, den Eigentümern des von Grund auf überflüssigen Geldes das Vertrauen zu vermitteln, dass sie trotz dieses Inflationspotentials darauf rechnen können, ihr Geld in Zukunft in genau die Waren tauschen zu können, die sie glauben, zum aktuellen Zeitpunkt damit erwerben zu können. Wie dieses Vertrauen mit der rigiden deutschen Sparideologie generiert werden kann (und soll), wurde an anderer Stelle dargelegt. Hier geht es darum, deutlich darauf hinzuweisen, dass es politischen Akteuren grundsätzlich unmöglich ist, gesamtökonomisch notwendige Maßnahmen zur Vermeidung von Krisen, sei es die Entwertung von Geld, sei es die Zerstörung von Waren, bewusst strategisch in Angriff zu nehmen. Beides geschieht entweder hinter dem Rücken aller Akteure oder gar nicht – es sei denn, man kann Notwehr gegen einen äußeren oder inneren Feind als Rechtfertigung in Anspruch nehmen. Und was das Geld betrifft: Es entwertet sich sowieso nur, mit den wenigen, andernorts vermerkten Ausnahmen, ›automatisch‹, also in der Form von Naturkatastrophen oder Schicksalsschlägen, entweder in einer Inflation oder dann (was allerdings nur das Buchgeld betrifft), wenn Submärkte (wie der Aktien-, Devisen- oder Immobilienmarkt) kollabieren. Und in deren Crash wird der politische Submarkt unweigerlich mit hineingezogen. Politiker, die für eine bewusste Entwertung von Geld (oder Waren) plädieren würden, weil sie deren Notwendigkeit im Interesse des ökonomischen Ganzen erkannt haben, stünden von vornherein mit zumindest einem Bein in einer psychiatrischen Anstalt.

Manfred Dahlmann

Die Mechanismen der Preisbildung

Heft 04, Frühjahr 2014 Essay

Der Begriff der abstrakten Arbeit löst jedenfalls kein einziges Problem, das Sozialisten, Kommunisten oder Philosophen mit ihrer Welterklärung eventuell haben, und auch kein einziges, das der hat, der irgendjemanden dazu bewegen möchte, zum Gegner des Kapitals zu avancieren, sondern schlichtweg (und einzig) das zentrale Problem aller gern von Linken so geschmähten ›bürgerlichen‹ Ökonomen: Denn letzteren gelingt es nicht, die von ihnen ermittelten Daten in ihr eigenes Theoriengebäude so zu integrieren, dass sich das Ganze der Ökonomie als Einheit darstellen lässt. Dieses Misslingen hat die verschiedensten Gründe; auch – allerdings eher selten – politisch-ideologische (und intellektuelle Unfähigkeit gehört am allerwenigsten dazu). Entscheidend ist, dass Marx diesen Ökonomen mit seiner Bestimmung der abstrakten Arbeit einen Vorschlag macht, wie sie ihre innertheoretischen Probleme (quasi ›mit einem Schlag‹) lösen können. Dass sie diesen Vorschlag (obwohl ihnen bis heute kein besserer eingefallen ist) nicht aufgreifen, hat natürlich ebenfalls die verschiedensten Gründe (unter anderem den, dass auch sie, wie die Linken, den Begriff der abstrakten Arbeit revolutionstheoretisch missverstehen). Zumindest für den Ideologiekritiker sollte dieser Stellenwert der abstrakten Arbeit in der Darstellung bei Marx aber unbedingt zur Folge haben, dass er sich zur Begründung seiner Kapital-Kritik, so wenig wie auf Religion, so wenig auf diesen Begriff – wie die Kategorien der politischen Ökonomie insgesamt – positiv beziehen darf: denn deren Kritik kann, wie die der Religion, nichts weiter sein als die Voraussetzung aller Kritik. Das heißt: So wie man religiösen (und moralisierenden) Marotten früher oder später erliegt, wenn man deren Voraussetzungen nicht hinreichend reflektiert hat, reproduziert man in seinem Denken und Handeln die Ideologeme der gängigen, falschen ökonomisch-politischen Praxis, wenn man das Durchdringen ihrer Funktionsbedingungen von sich fernhält.

Manfred Dahlmann

Das Geld und seine Wissenschaft

Heft 03, Herbst 2013 Essay

Den Beweis zu führen, dass der Marxsche Maßstab ökonomischer Prozesse dem der Ökonomen (also dem Preis) überlegen ist, und nicht nur das: sondern er notwendig ist, um das Kapital in der historischen Besonderheit seiner Existenz überhaupt begreifen zu können, ist alles andere als einfach – das kann auch anders nicht sein, denn sonst bliebe unerklärlich, warum er so gut wie nirgendwo Beachtung findet. Um diese Schwierigkeit in den Griff zu bekommen, sei der Versuch unternommen, die Richtung in der Darstellung, die Marx, wenn auch aus sehr guten Gründen, im Kapital gewählt hat, in gewisser Weise umzukehren, indem wir mit der Darstellung des ökonomischen Systems als Ganzem beginnen. Von diesem ausgehend sei dann, je nach Notwendigkeit in der Sache, zum Abstrakten vorgedrungen, auf dem das System aufbaut: den zur zweiten Natur erhobenen Begriffen Geld, Staat, Recht usw. im Allgemeinen; Markt, Konkurrenz, Wachstum, Produktivität, Krise und Kapital usw. im Besonderen. Es wird sich bei diesem Vorgehen herausstellen, dass sich die Unlösbarkeit der allermeisten ›Unzulänglichkeiten‹ des Systems, wie sie in der Öffentlichkeit verhandelt werden, darstellen lässt, ohne dabei auch schon auf den Marxschen Maßstab zurückgreifen zu müssen. Denn, und daran schon scheitern alle Ökonomen: das Ganze der Ökonomie lässt sich – gegen allem ersten Anschein – analytisch eben nicht aus dem Verhalten seiner Teile (oder Elemente) erschließen (oder auch umgekehrt: das Verhalten der Teile nicht aus der Existenz des Ganzen), mit welchem Maß auch immer man misst, mit welchen Methoden und Definitionen auch immer man vorgeht.

Manfred Dahlmann

»Der Mensch ist antinomisch geschaffen«

Wissenschaftslogik und Politik bei Hermann Broch

Heft 03, Herbst 2013 Essay

Der Einzelne kann seiner Einsamkeit nicht entgehen; um sie abzuwehren, begibt er sich in einen »Dämmerungszustand«, der ihn wie einen Schlafwandler reagieren und agieren lässt. Verhindern aber kann er nicht, dass Ereignisse eintreten, die ihn aus dieser Dämmerung herausholen und ihn erfahren lassen, dass er ein Ich hat, das ihn zu einem besonderen Individuum, mit seinen eigenen Erfahrungen macht. Entscheidend für Broch ist – und daraus bestimmt sich für ihn das, was den Wahn definiert –, wie das Ich auf diese Erkenntnis reagiert. Greift es dann zu Drogen oder Hitler, oder gerät es in Panik, um sich der nächstbesten Masse einzuordnen, dann verfällt es dem Wahn.

Manfred Dahlmann

Die Liebe zum Recht als Liebe zum Souverän

Ein ›Lob‹ auf den Positivismus

Heft 02, Frühjahr 2013 Essay

So wenig wie der Rechtspositivismus im besonderen heilt der Bezug auf die positivistische Denkform im allgemeinen das Subsumtionsproblem, sondern verschärft es eher, so dass dessen Unlösbarkeit zum einen offensichtlicher wird – und einem kritisch-distanzierten Bewusstsein vom Recht eventuell auf die Sprünge hilft –, und zum anderen darauf verweist, dass das Verhältnis von Besonderem zum Allgemeinen in dieser Gesellschaft generell nur als ideologisches, von Grund auf verkehrtes begriffen werden kann. Vor allem was diese Verkehrung betrifft wäre aber auf einen im Positivismus generell zum Ausdruck kommenden Aspekt des vom Kapital konstituierten Realitätsbewusstseins hinzuweisen, der möglicherweise über dieses hinaus zu weisen vermag.

Manfred Dahlmann

Finanzkrise und deutsche Kriegskasse

Heft 01, Herbst 2012 Parataxis

Die deutsche Politik setzt zunächst alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein, das Vertrauen der Geldanleger – das A und O einer jeden Politik – in ihre Stabilitätspolitik zu rechtfertigen und zu stärken. Denn diese Geldanleger – je weniger Geld sie wo auch immer angelegt haben, umso mehr – sehen sich, nicht ohne Grund, vor einem Zerfall des Geldwertes stehen (in dem sich allerdings ›nur‹ empirisch realisieren würde, was real längst der Fall ist), in dessen Verlauf sie ihre mühsam angesammelten Ersparnisse, oder auch ›Reichtümer‹, zu verlieren drohen. Die Basis, auf der Deutschland dieses Vertrauen akquiriert, ist, anders als in den USA, sein besonderer, zweifellos historisch bedingter Begriff von Einheit, wie er in seinen Institutionen verankert ist und von seiner Ideologie gedeckt wird. Philosophisch ist Einheit auf Deutsch als ›Mangel an Sein‹ bestimmt, was politisch heißt: die deutsche Souveränität ist immer als erst noch zu verwirklichende gedacht – ein Gedanke, auf den ein politisch bewusster Amerikaner (Brite oder Franzose) gar nicht erst kommen kann. Getragen wird dieser Einheitsgedanke von einer, natürlich von deutschem Gebiet ausgehenden Kernbewegung (besonders die letzten Jahrzehnte ist das die Einigung Europas), um die sich eine Vielzahl kleinerer Einheiten schart, die gegeneinander konkurrieren und dabei um ihre politische Autonomie zutiefst besorgt sind, aber für sich weder die Mittel haben noch überhaupt die Absicht, dem von Deutschland ausgehenden Souveränitätsgedanken etwas entgegenzusetzen.

Manfred Dahlmann

Autonomie und Freiheit oder: Ästhetik wozu?

Adornos ›Vorrang des Objekts‹ als notwendige Basis vernünftigen Engagements

Heft 01, Herbst 2012 Essay

Um unser Problem zu lösen, können wir nun fragen, von was im Individuum Luhmann in seiner allgemeinen Systemtheorie abstrahiert. Oder auch anders, aber auf dieselbe Antwort hinauslaufend: was eigentlich unterscheidet den Menschen von einem lernfähigen, sich aus sich selbst heraus bewegenden Roboter? Die Antwort scheint einfach, gegen sie wird aber nahezu durchgängig in dieser Gesellschaft verstoßen: einen Roboter kann man so konstruieren, dass er autonom agieren kann, der Roboter aber kann auch in dieser seiner Autonomie nur wiederum Roboter – oder auch sonst alles mögliche –, aber keinen Menschen konstruieren. Wie immer man das, was der Mensch seinem Begriff nach ist, bestimmt, darin, einen Roboter mit eingebauter Autonomie zu konstruieren oder irgendetwas anderes, ist der Mensch eines mit Sicherheit nicht: autonom, sondern: frei. Ohne Anerkennung dieser Differenz zwischen Freiheit und Autonomie hätte der Begriff Autonomie keinerlei eigene Existenzberechtigung, er könnte umstandslos mit Freiheit synonym gebraucht werden. Von genau dieser Freiheit also abstrahiert Luhmann, wie Wissenschaftler in ihren Definitionen generell, wenn sie über Gesellschaft reden.

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