Joachim Bruhn

Joachim Bruhn

Materialistische Aufklärung oder Manipulation von links?

Materialistische Aufklärung oder Manipulation von links? Über das Verhältnis von Theorie und Agitation heute
Heft 24, Sommer 2024 Parataxis

Wer von Vermittlung spricht, sagt Herrschaft: Nicht, wie der Marxismus, gar: der Marxismus-Leninismus sagt, geht es darum, Theorie und Praxis zu vermitteln, sondern, wie Materialismus es fordert, die Bedingung der Möglichkeit ihres Auseinandertretens theoretisch zu kritisieren und praktisch zu destruieren. Es ist dieser intellektuelle Vermittler, der, wie jeder Verkäufer die Reklame, einer Didaktik, Pädagogik und besonderen Technik bedarf, um seine Ware, das heißt die Aufklärung, das heißt das Denken in der Warenform, unter die Leute zu bringen, heiße diese Manipulationskunst nun (Bundeszentrale für) »politische Bildung« oder eben, von links, Agitation und Propaganda. Indem der Intellektuelle jedoch die Funktionen der Vermittlung und Synthesis reklamiert, okkupiert er nichts anderes für sich als das idealisierend zur Prämisse von Aufklärung schlechthin stilisierte Recht des Aufklärers selbst, dem Zwang zur materiellen Reproduktion durch die freiheitsträchtige Pflicht der geistigen Produktion zu entkommen. Er reklamiert das Privileg, aber er reklamiert es nicht im Zuge eines eigennützigen Lobbyismus, sondern als bloß arbeitsteilig mit der theoretischen Arbeit an der Einsicht in die Notwendigkeit von der Gesellschaft betrauter Kommissar.

Joachim Bruhn

Adornos Messer

Über die materialistische Kritik der politischen Ökonomie und die theoretische Praxis der linken Intellektuellen

Heft 21, Winter 2023 Essay

Adornos Messer ist unmittelbar nützlich für das Verständnis des Marxschen Kapitals. Denn Das Kapital ist keine Wissenschaft und kann keine Wissenschaft sein, wie etwa Dieter Wolf und Michael Heinrich beweisen wollen; es ist unmittelbar, schon der Untertitel sagt es, als »Kritik« bestimmt. Ihre Bücher, nach über zehn Jahren wiederauf­gelegt, atmen den Staub der akademischen Gruft, in dem sie ihren Gegenstand beerdi­gen wollen. Ganz zutraulich nennt Dieter Wolf sein Buch einen »Beitrag zur Marxschen Werttheorie«, als sei das denn die Möglichkeit: eine »Theorie« des Werts. Und selten trägt ein Werk von theoretischem Anspruch seinen Irrtum so auftrumpfend im Titel wie Michael Heinrichs Die Wissenschaft vom Wert. Denn kann es eine »Wissenschaft«, das heißt die Arbeit, eine Sache der Vernunft transparent und intelligibel werden zu lassen, dort geben, wo die Sache selbst das blanke Anti der Ratio verkörpert, die Widervernunft, das heißt Selbstwiderspruch der Gattung? Kann Vernunft, als subjektives Bemühen gefasst, etwas verstehen, gar: »rekonstruieren«, in dem sie nicht an sich schon, wie unbewusst und objektiv auch immer, enthalten wäre? Wo ist die Vernunft im Selbstwiderspruch der Gattung? Wenn sie am Anfang nicht ist, kann sie auch in den Ableitungen nicht sein.

Joachim Bruhn

Warum können die Marxisten nicht lesen?

Der Anfang des Kapital und das Ende des Kapitalismus

Heft 20, Sommer 2022 Essay

Die Generalthese gleich am Anfang. Es scheint ein untrügliches Kennzeichen kommender großer historischer Katastrophen zu sein, wenn die Marx-Einführungen inflationär zunehmen. Also ich möchte das nicht gerade das Karl Marxsche Gesetz nennen, aber es scheint so zu sein, dass immer dann – wenn es wirklich bald ganz schlimm kommt, also wenn ein 4. August 1914 oder ein 30. Januar 1933 naht – das Bedürfnis von linken Akademikern sehr stark und kaum zu bremsen ist, dem Volk eine Einführung in Marx zu geben. Und das ist ein Spiel, das das gesamte Bürgertum gerne mitmacht, denn die ganzen Zeitungen sind voll damit. In der Rubrik Geld und Mehr lesen wir in der FAZ: »Hat Marx doch recht?« Dann lesen wir in der Süddeutschen Zeitung von der letzten Woche auf zwei Seiten, warum Marx recht hat und warum Marx unrecht hat. Es ist also ein großes Rechthaben über die bürgerliche Gesellschaft im Gange. Alle wollen recht haben. Und der FAZ-Autor aus der Spalte Geld und Mehr ist dann durchaus auch bereit, dem Marx zuzubilligen, dass er durchaus da und dort etwas gesehen hat, dass er den Grundwiderspruch dieser Gesellschaft an der Rolle des Geldes festgemacht habe und damit, dass die natürliche Tauschkette nicht mehr Ware-Geld-Ware, sondern Geld-Ware-Geld lauten würde. Es ist also irgendwie alles verkehrt geworden, aber immerhin hat Marx in manchen Punkten nicht falsch gelegen – er war alles andere als ein schlechter Ökonom, lobt ihn die FAZ. Und insbesondere habe er gesehen, dass die Gefahr einer Entkoppelung des Finanzsektors von der Realwirtschaft in der Tat eine Achillesferse des Kapitalismus sei. Also irgendwie hat der Marx schon was richtig gesehen: er war ein begnadeter Rechthaber und er soll ja auch sehr viel Richtiges über die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts gesagt haben – man weiß halt nicht, ob diese Dinge auch heute noch so richtig gelten. Merkwürdig ist diese ganze Konjunktur in Sachen, ob Marx recht hat. Es sind Bücher erschienen von Terry Eagleton Warum Marx recht hat, von Fritz Reheis Wo Marx recht hat und sogar das ZDF fragt sich Feiert Marx ein Comeback? Denn es ist so, wie das ZDF sagt, seit vielen Jahren steigt Marx aus der Mottenkiste – man möchte ihm wünschen, in unser aller Interesse, dass er endlich mal rauskommt.

Joachim Bruhn

Das Antideutsche im Kommunismus

Im Gespräch mit Werner Pomrehn, 2010

Heft 19, Winter 2021/22 Parataxis

Man muss aber auch historisch sehen, dass die deutsche Sozialdemokratie trotz verschiedentlicher Bemühungen, im Nachhinein ihre Geschichte zu renovieren, von Anfang an eine lassalleanische Partei gewesen ist, die auf der ganz falsch verstandenen hegelschen Staatsvergötterung aufbaut. Ferdinand Lassalle ist ja der Urvater der Sozialdemokratie und es wurde von Anfang an die marxsche Staatskritik ignoriert. Das ist es, was 1914 hervorbricht, und was die SPD natürlich niemals losgeworden ist. Es ist ein Mythos, dass die SPD jemals eine marxistische Partei gewesen sei. Das ist schon deswegen falsch, weil sie die marxsche Kritik an der Form Partei grundlegend ignoriert. Und das ist genau der Lassalleanismus, der dann nachher von den Leninisten übernommen wird, und der 1917 in Russland in der ersten sozialdemokratischen Planwirtschaftsrevolution in der Geschichte zum Durchbruch kommt. Man weiß ja, dass Lenins Begeisterung für die deutsche Post kein Zufall war; dass eben der Staatskult dort bis zum Äußersten getrieben wurde, was eben in der Geschichte nur Leute wie Anton Pannekoek, die Rätekommunisten überhaupt, Rosa Luxemburg und einige wenige andere klar gesehen haben. Von daher ist es auch verständlich, dass in demselben Augenblick, in dem eine lassalleanische, etatistisch-sozialdemokratische Macht verloren geht, der Rücksturz in die, ich sage mal, friedlich-schiedliche Staatsillusion stattfindet.

Joachim Bruhn

Die Logik des Antisemitismus

Die ökonomisch-soziologische Reduktion des Wertbegriffs und ihre Folgen

Heft 17, Winter 2021 Parataxis

Und wenn wir nun versuchen, alles was im Verhältnis von Individuum als Körper, Leib, Bedürfnis einerseits und juristischer Person, als im individuellen Menschen präsenten ›allgemeinen Menschen‹ zu bedenken, dann kommen wir auf die grundlegende und basale Bestimmungen dessen, was Rassismus und Antisemitismus ist und wie der, in dem konkreten, einzelnen Individuum steckende, abstrakt-allgemeine Mensch (das kapitaltaugliche Individuum) – die Gattung, die sowieso schon gespalten ist in Herrscher und Ausgebeutete – sich auf eine verschobene Weise noch einmal spaltet in Untermenschen und Übermenschen: in rassistisch zu Bekämpfende und antisemitisch zu Ermordende, um so eine Identität zu erkämpfen, die in der juristischen Form des Subjekts versprochen und erzwungen ist, obwohl sie in dieser Form in keiner Weise produziert, oder garantiert werden kann. Es ist klar: die juristische Person im Subjekt ist die Unterstellung einer Identität in einem Körper, der selber naturverfallen, launisch, bösartig und schläfrig ist, aber es gibt Leute, die kaufen sich heute einen Porsche, um anzugeben zu wollen, und morgen wollen sie dafür nicht mehr zahlen, doch das geht nicht, denn es wird verlangt, dass die Raten über fünf Jahre bezahlt werden müssen, über fünf Jahre muss sich identisch geblieben werden, weil: Vertrag ist Vertrag und Pacta sunt servanda, und über den Pacta thront der Staat, der gewaltförmige Souverän als die Garantiemacht aller Verträge. Es wird also Identität unterstellt, erzwungen, gefordert, durch die juristische Form des Vertrages, die die Form, so wie an deren Oberfläche des Marktes, das Kaufen und Verkaufen, Aneignen und Enteignen sich vollzieht; als die Form, die der Kapitalprozess auf der Oberfläche annimmt. Das Privateigentum als dinglicher Besitz verspricht eine Identität, die die Kapitalakkumulation als ewiger Selbstbezug unmöglich garantieren kann.

Joachim Bruhn

Die politische Ökonomie des Antisemitismus

Über die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion

Heft 18, Sommer 2021 Parataxis

Wie kann es sein, dass dieses so oft als Fälschung enttarnte Machwerk nicht nur bis heute als Grundbuch des Antisemitismus, wie auch, natürlicherweise, der Konterrevolution gegen Israel wirkt, sondern dass es im Nazifaschismus zum Grundgesetz erhoben, das heißt der Judenhass zur Staatsräson, zum Inhalt und zum Wesen der politischen Souveränität wurde? Die Frage ist also die nach dem überaus intrikaten Verhältnis von Lüge und Ideologie; das heißt die Frage nach dem Grund dessen, dass die so harmlos freundlichen Aufklärungsversuche der liberalen Antisemitismusbeforschung systematisch nicht nur ins Leere gehen müssen, dass sie vielmehr den Antisemitismus, den sie als Lüge entlarven wollen, doch als Meinung hofieren und ihm somit als Ideologie stets neues Futter geben. Wolfgang Benz – ich erspare mir weitere Bemerkungen über diese traurige Gestalt – ist ja ein Paradeexemplar eben dieser liberalen Antisemitismusbeforschung. Und wenn er nun eine Broschüre veröffentlicht, Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung, dann heißt es eben hier, dass die Protokolle das Orientierungsbedürfnis in einer zunehmend unübersichtlicheren und immer stets komplexer werdenden Gesellschaft befriedigen, dass hier also eine »wahnhafte Konstruktion« gegeben wird, ein »Mythos«, ein »Konstrukt« und dann kommt noch das Wort, es sei ein »Diskurs«. – Das Wort »Diskurs« muss man ja eher postmodern französisch vor sich hin flöten, damit es auch richtig süffig wird. Also es werden Gründe genannt, dass hier eine Art Reduktion gesellschaftlicher Komplexität stattfinde, es wird nicht – mit guter Absicht nicht – auf dieses Rätsel der im Kapital inkarnierten gesellschaftlichen Synthesis rekurriert. Und so ist diese Literatur im Großen und Ganzen einfach nur Müll und das Einzige, was von dieser Literatur kein Müll ist, ist das Buch von Alexander Stein Adolf Hitler, Schüler der »Weisen von Zion«.

Joachim Bruhn

Die Einsamkeit Theodor Herzls

Der Hass auf Israel und die Arbeit der materialistischen Staatskritik

Heft 16, Sommer 2020 Parataxis

Wie kann man also einen Staat gründen, sagt Herzl, der einerseits sich aufschwingt, die Interessen von Leuten wahrzunehmen, die gar nicht sagen können, ob sie die von ihnen wahrgenommen haben wollen, und es gleichzeitig auf eine Art und Weise tun, die wesentlich nicht autoritär, nicht diktatorisch, nicht an den objektiven Interessen der Leute vorbei agiert. Das ist das Problem, das sich Herzl in seinem Buch Der Judenstaat stellt und da diskutiert er durchaus auf der Höhe der Staatsphilosophie um 1900 die verschiedenen Möglichkeiten, die es geben könnte. Er sagt, einerseits haben wir als Demokraten die Theorie des Vertrags. Staaten werden durch Verträge gestiftet, indem die Individuen in einem Vertrag beschließen, dass es besser ist, einen Staat zu haben, als keinen Staat zu haben. Und das sei die eine Theorie. Die andere Theorie sei, dass Staaten eben autoritär gestiftet werden – objektive Wertlehre – gestiftet von großen Männern, von Diktatoren, Monarchen, Cäsaren, Napoleonsgestalten und ähnlichen, das kann es ja auch nicht sein, also sagt er, nehmen wir doch mal die wunderbare Rechtsfigur des Gestors, den die alten Römer geschaffen haben, wonach der Gestor jemand ist, der die Geschäfte für jemanden wahrnimmt, der im Augenblick daran verhindert ist, sich aber dann, wenn er nicht mehr verhindert ist, vor diesem dafür rechtfertigen muss. Und das sagt er, ist die Jewish Agency. Die Jewish Agency verkörpert in sich als eine Art Souverän diese beiden einander ausschließenden Bestimmungen von demokratischer Ermittlung des Staatswillens und autoritärer Setzung des Staatsaktes.

Joachim Bruhn

»Nichts gelernt und nichts vergessen«

Vortrag, gehalten am 26. Februar 2010 in Hamburg

Heft 14, Frühjahr 2019 Parataxis

Am 13. August 1920 hat Adolf Hitler uns eine bis heute gültige Frage gestellt, als er im Münchner Hofbräuhaus seine erste überlieferte Rede über den Antisemitismus gehalten hat. Er fragte das Publikum: »Wie kannst du als Sozialist nicht Antisemit sein?« Das ist bis heute die Frage geblieben; und ich hoffe, dass die weiteren Ausführungen, die von der Geschichte des Antizionismus in Deutschland handeln sollen, diese Frage doch in einem nicht-hitlerischen Sinne helfen werden zu klären. Denn irgendwann zwischen der Wannseekonferenz und der Gründung Israels hat der Hass auf Israel jedwede Geschichte verloren. Danach gibt es keine Antisemiten mehr: weil alle es sind und jeder qua bürgerliches Subjekt schon sowieso. Der Antisemitismus wird nun zum logischen wie zum historischen Apriori, quasi zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins der Deutschen. Als außer Johann Georg Elser kein proletarisches Subjekt zur Verteidigung der Juden die Waffen erhob, als noch die Idee der Kommunistischen Internationale, die Weltrevolution für die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft ausgestrichen und durch Stalins »internationalen Patriotismus« ersetzt wurde, hatte sich die Kapitalgesellschaft mit sich selbst zur zwar negativen, aber doch fugenlosen Identität vermittelt. Das heißt, sie hatte sich historisch ausgemittelt, und sie hatte darin jedwede Idee eines Fortschritts der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit weit von sich gewiesen. Der Sinn der Geschichte selbst wurde liquidiert. Danach ist jede ›List der Vernunft‹, deren emanzipative Logik aus der bewusstlosen Wechselwirkung der ihrer selbst unbewussten Subjekte folgen sollte, nur Projektion und macht sich, so Adorno, »der Kardinalsünde schuldig: Sinn dort zu infiltrieren, der nicht existent ist«, und noch die unendlich tibetanisch-marxistische Gebetsmühle vom ›Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital‹ beweist, dass Adornos Frage, »ob es denn Geschichtsphilosophie ohne latenten Idealismus« geben könne, strikt verneint werden muss.

Joachim Bruhn

Das organisierte Nein

Heft 13, Herbst 2018 Parataxis

In alle Zukunft werden wir Johannes Agnoli nun vermissen müssen, seinen Charme, seine revolutionäre Geduld und machiavellische Ironie, die Weise, wie er das organisierte Nein sagte. Wie sein früh verstorbener Genosse Peter Brückner ist er ein Partisanenprofessor gewesen im Lande der Mitläufer, einer, den man jetzt zur Revanche aus den Verzeichnissen des Herrschaftswissens streichen wird, ein Betriebsunfall und einer, der, wie die Frankfurter Allgemeine einmal gutachtete, »am Bedarf vorbei« geschrieben, gedacht, gelehrt und gelebt hat: einer, der am besten nie gewesen wäre. Was Herrschaft als überflüssig befindet, das macht den Begriff der Subversion eben aus: Johannes Agnoli hat den Antagonismus gedacht und die Revolution, nicht, um daraus eine subversive Theorie zu verfertigen, sondern zum Zweck der kategorischen Kritik. Tante Grazie.

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