Umfangreicher setzte sich Rosa Luxemburg im Herbst 1910 mit Fragen des Antisemitismus auseinander. Anlass war eine Pressekampagne in Warschau, in der versucht wurde, die Frage in den öffentlichen Raum zu stellen, wer eigentlich polnische Arbeiter führen dürfe. Gezielt wurde auf Rosa Luxemburgs sozialdemokratische Partei in Polen, die 1893 in Zürich unter anderem von ihr und Leo Jogiches gegründet wurde. In der Revolution 1905/06 hatte diese Partei eine herausragende Rolle gespielt, war auch in der Mitgliederstärke zu einer Massenpartei mit fast 40§000 Mitgliedern angewachsen. Als im Laufe des Jahres 1910 eine erneute Streikwelle in den Industriezentren im Königreich Polen anzuschwellen drohte, wurde plötzlich die antisemitische Karte gespielt: Juden hätten in der Revolution 1905/06 polnische Arbeiter auf die Schlachtbank geführt, hätten diese sinnlos geopfert. Gemeint waren Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, der in den Revolutionstagen wegen seines konspirativen Talents und den strategischen Fähigkeiten zur wohl wichtigsten Führungsfigur auf Seiten der Arbeiterbewegung aufgestiegen war. Nun wurde ihm, der ursprünglich aus Wilna stammte, vorgehalten, gar nichts mit Polen zu tun zu haben, sondern ein litauischer Jude zu sein, was insgeheim bedeutete, stets andere als die polnischen Interessen zu vertreten. Und Rosa Luxemburg wurde schwarz auf weiß erklärt, dass das Gift, das sie in ihren Schriften den polnischen Arbeitern verabreiche in seiner bedrohlichen Wirkung allemal schlimmer sei als jener Schnaps, den ihre Vorfahren dem polnischen Volk ausgeschenkt hätten. Angespielt wurde auf die Tatsache, dass im alten Polen auf den Adelsgütern die Schankwirtschaften, in denen der auf dem Gut produzierte Wodka unters Bauernvolk gebracht werden musste, meistens von Juden gepachtet wurden.