Was die Bösartigkeit ohnegleichen ausmacht, die dem in den zu rettenden Seelen unentwirrbar verschlungenen antichristlich-antijüdischen Komplex eignet, das ist gerade seine Ambivalenz. Als der heilige Konrad, Bischof von Konstanz, im dortigen Münster die sogenannte Mauritius-Rotunde errichtet hatte, die inwendig eine Nachbildung des Heiligen Grabes zu Jerusalem umfaßt, bestimmte er sie zum Mittelpunkt der Zelebration eines jährlich wiederkehrenden liturgischen Passions-und Osterspiels; sie wäre demnach, wie Helmut Maurer in seiner großen Stadtgeschichte vermerkt, »die älteste erhaltene nachantike Bühne«. Einer obskuren Chronik zufolge ist es bei dieser frommen Handlung einmal geschehen, daß das aufgepeitschte Volk die Geißelung des Christusdarstellers jählings in die eigenen Hände nahm und ihn erschlug. Sollte das Ereignis wirklich stattgefunden haben, wäre in ihm eine Wahrheit durchgebrochen, die Bach zuinnerst vertraut war, daß nämlich niemand anders als die erlösungsbedürftigen Sünder selbst, die das Opfer des Retters annahmen, ihn – theologisch – ans Kreuz geschlagen haben: felix culpa. So heißt es in dem Gebet, das den Schlußchor der »Matthäus-Passion« vorbereitet: »O selige Gebeine, seht, wie ich euch mit Buß und Reu beweine, daß euch mein Fall in solche Not gebracht. Mein Jesu, gute Nacht!« Dadurch wird aber die Freude über Marter und Hinrichtung, durch die doch das Heil kam, keineswegs zunichte: die moralische Aporie ist unauflösbar und ausweglos. Daß die Lust am Schmerz, und zwar die unbegrenzte, ihren Sitz im Zentralnervensystem des Christentums hat, tritt in traditioneller Kirchenmusik allenthalben, wenn auch in der Regel nicht ganz so schamlos wie bei Rossini zutage, dem Meister der Frivolität, in dessen »Stabat Mater« zu den tragischsten Textstellen die jubilatorischsten musikalischen Eingebungen erklingen.