Günther Anders

Günther Anders

Löwith-Besprechung (1942)

Erstveröffentlichung

Heft 13, Herbst 2018 Essay

Auf diese Marxdarstellung Löwiths wollen wir näher eingehen. Denn sie ist, trotz der Neutralität seiner eigenen Position, trotz der Reakademisierung antiakademischer Tendenzen, vorzüglich. Das gilt insbesondere von der Darstellung des Verhältnisses des jungen Marx zu Hegel, das über die üblichen Darstellungen des Abhängigkeitsverhältnisses weit hinausgeht. (Der Marx des »Kapital« ist ohnehin von Löwith nur beiläufig behandelt.) Nach Löwith besteht Marxens Abhängigkeit von Hegel in weit mehr als der »Übernahme« der Dialektik, nämlich in der Anerkennung und Übernahme des Hegelschen »Ideals« (wenn dieser Ausdruck der »Unversöhntheit« für den Versöhner Hegel benutzt werden darf). Dieses »Ideal« besagt: Der Mensch, dessen Natur in »Vermittelung« oder Entäußerung oder Arbeit bestehe, solle dieser seiner Entäußerung gewachsen sein (was bei Hegel das »an und für sich Sein« bedeutet); der gesellschaftlich existierende Mensch soll die von ihm selbst erzeugte Welt (und damit sich selbst) in seiner Gewalt behalten; er solle – politisch – die »substantielle Einheit« (polis) und die »subjektive Einzelheit« (Christenmensch) zugleich sein. Freilich behauptet Hegel, außer in der Frühzeit seiner »Jenenser Realphilosophie«, dass diese Einheit oder Einheiten in der modernen Ökonomie und in den modernen Staaten faktisch realisiert seien. Um mit der Wirklichkeit versöhnt sein zu können, projiziert er das Ideal in sie zurück; um was wirklich ist, vernünftig zu finden, behauptet er, das Vernünftige sei wirklich. Der junge Marx zerreißt die Gültigkeit dieser Behauptung, ohne die Gültigkeit des Ideals zu bestreiten. Was Hegel feststellt, will Marx herstellen. Diese Löwithsche Deutung des Verhältnisses Hegel – junger Marx ist ausgezeichnet und gibt uns die Einsicht, wie eng das Marxsche Unternehmen mit den Wurzeln der europäischen Moraltradition verknüpft ist.

Günther Anders

Die entscheidende Konvergenz

Aus der Rede zum Dank für den Adorno-Preis 1983

Heft 10, Frühjahr 2017 Essay

Adornos und meine Darstellung der Beschädigung, Dehumanisierung und möglichen Annullierung des Menschen könnten zusammen wohl so etwas wie eine Enzyklopädie der apokalyptischen Welt bilden. Ein trauriges Team stellen wir dar.

Günther Anders

Die entscheidende Divergenz

1982

Heft 10, Frühjahr 2017 Essay

Gefragt, welches der entscheidende Unterschied zwischen Adorno und mir sei, antwortete ich, dass er, obwohl durch immensen Einfluss »praktisch tätig«, über die Unmöglichkeit von »Praxis« (im Sinne von Revolution) nicht nur (wie er sein Leben lang vorgab) verzweifelt gewesen sei – letztlich war ja die Tatsache Sowjetrussland, also die »missglückte Revolution«, Anlass und Inhalt seines gesamten Werkes; sondern dass er das »Nicht-handeln Können« als ein »Nicht zu handeln brauchen« letztlich begrüßt habe …

Günther Anders

Adorno-Gespräch

Wien, Mitte Mai 1966

Heft 10, Frühjahr 2017 Essay

Im Laufe des Gesprächs frage ich ihn, ob er u.U., wenn hier eine Matinee über Grass-Brecht arrangiert werden würde, mitauftreten würde, ob er Brecht gegen die blöde Attacke durch Grass in Schutz nehmen würde. Darauf antwortete er, er sei nicht wie Benjamin, Viertel oder ich der Faszination Brechts erlegen und er möchte nicht als Fahnenträger Brechts auftreten. Brecht sei Terrorist gewesen – er bezog sich da vor allem auf die frühen Stücke wie die »Maßnahme«, ich gab auch zu, behauptete sogar von mir aus, dass ein gewisser gemeinsamer Zug der Vorliebe für terroristische Situationen in den Zwanzigerjahren Nazi- und kommunistische Schriftsteller verbunden habe. Dass dieses Element aber bei Brecht überwunden worden sei, und die Figur des freundlichen Menschen Zentralfigur geworden sei – was Adorno zugab, aber gerade diese Figuren empfand er als unerträglich »schmarrenhaft sentimental«. – In anderen Worten: gegen die skandalöse Attacke von Grass persönlich aufzutreten, weigerte er sich. –

Günther Anders

His-Dur

Heft 10, Frühjahr 2017 Essay

Die Irritiertheit zwischen Adorno und mir begann an dem Abend im Jahr 30, an dem ich ihn, gerade in Frankfurt zu einem Vortrag angekommen, auf einem Kostümball der Philosophischen Fakultät kennenlernte. Und zwar dadurch, dass ich ihm »kostümiert« vorwarf, dass alles, was ich von ihm kenne, in His-Dur notiert gewesen sei. Er verstand das blitzartig. Als der unmusikalische Tillich fragte: »in was?« und ich die Erklärung verweigerte, weil deren Verständnis große technische Kenntnis voraussetzte, entstand eine sekundenlange Komplizität zwischen Adorno und mir. Länger als ein paar Sekunden währte seine Dankbarkeit freilich nicht. Diese Ambivalenz der Beziehung hat bis zum Ende angehalten.

Günther Anders

Über die Esoterik der philosophischen Sprache

Heft 10, Frühjahr 2017 Essay

»Schon gut«, meinte Dr. A. »Wichtig ist mir allein der Gedanke, dass unsere Esoterik zuweilen nichts anderes ist als der Ausdruck dafür, dass wir nichts zu sagen haben wollen. Also nichts anderes als das Eingeständnis unseres Verzichtes auf Wirksamkeit. Einem solchen Verzicht haben Sie ja nun wirklich einige Male Ausdruck gegeben. In diesem Fall ist Esoterik also, im Unterschiede zum Normalfall der Esoterik, nicht Zeichen der Macht, nicht Zeugnis einer privilegierten Gruppe, sondern umgekehrt Beteuerung der eigenen Harmlosigkeit. ›Seht, wie schön unverständlich wir schreiben‹, scheinen wir zu beteuern. Oder: ›Wer wird auf unsere Rede schon hören?‹ Kurz: Wir berufen uns auf Narrenrechte.«

Professor T. machte eine empörte Geste.

»Meinen Sie die, wenn Sie für die Esoterik unserer philosophischen Sprache plädieren? Die schlechteste Rechtfertigung wäre das nämlich nicht. Dass derartiges oft nötig, und die Undurchsichtigkeit der Tarnungsmittel oft geboten war; und dass im Laufe der Jahrhunderte vieles Wichtige nur verbrämt mitgeteilt werden konnte, weil es, nackt ausgesagt, samt Sprecher sofort verbrannt worden wäre, das haben wir ja erlebt. Vielleicht ist es sogar erlaubt, darin die wirkliche Rechtfertigung der Esoterik der philosophischen Sprache zu sehen. Ich hoffe, Sie verstehen, Herr Kollege: Es ist wirklich ein neuer Punkt, den Sie da aufs Tapet gebracht haben. Esoterisch ist ja nicht nur die Sprache der privilegierten Gruppen, sondern auch die der gefährdeten oder der konspirativen.«
Professor T.’s Gesicht wurde immer abweisender. »Ich wüsste nicht, dass ich einen solchen Punkt aufs Tapet gebracht hätte.«

Günther Anders

Über Rilke und die deutsche Ideologie

1948. Aus dem Nachlass

Heft 07, Herbst 2015 Essay

Und tatsächlich ist auch die Figur, die der von Langenau [aus Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke] nun als »Spork« erkennt, unverkennbar: sie ist das genaue Gegenstück zu ihm selbst: Während er Seide und Wehmut ist, ist der Eisen und Verachtung – wobei R. Verachtung als Kraft, und damit als Tugend meint. Den Brief, den der Knabe ihm überreicht – eine Empfehlung für die Promotion zum Fähnrich – kann Spork offenbar nicht lesen. Die Apotheose des Analphabetentums und der reinen Gewalt ist unüberbietbar. Denn Spork verschmäht sogar zu reden: Reden ist für ihn ein läppisches Derivat des Fluchens, für das die Lippen gemacht sind.

Für den von L. ist er der Inbegriff von wahrer Größe. »Der Spork ist vor Allem. Sogar der Himmel ist fort.« Und in vollen Zügen genießt er vor der Allmacht des Anderen seine eigene Ohnmacht. Nur ein einziges Wort kommt von Sporks Lippen: »Cornet« – also die Beförderung zum Fähnrich. »Und das ist viel«, schließt Rilke diese Seite.

Das ist wirklich viel. Zwar ist der von Langenau nun Symbolträger geworden, im wörtlichsten Sinne des Wortes, und hat dadurch weiteres dichterisches Gewicht gewonnen – aber wofür die Fahne steht, welches Symbol der Fähnrich trägt oder verkörpert, das erfahren wir niemals. Wie begreiflich, dass dieses Buch die Lagerfeuerbibel der Jugendbewegung wurde und dass sie, in Tornister-Ausgabe, die deutschen Soldaten in den ersten Krieg begleitete. Dass sie sogar in der Nazijugend ihre weitere Verehrung genoss, ist umso bedeutsamer, als schließlich die femininen Züge des »Helden« der Dichtung durchaus nicht mit dem soldatischen (wenn auch mit dem Jugendbewegungs-) Ideal im Einklang sind. Aber die Idealisierung von »Symbolismus überhaupt«, die Ignoranz der Sache, für die man stirbt, und die Verehrung von Macht – diese drei Dinge zusammen haben die Dichtung für beinahe zwei Menschenalter einen Erfolg bleiben lassen.

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