Gerhard Scheit
Naturen
3. Teil: Absoluter Geist und theologischer Vorbehalt
Wenn Fichtes Wissenschaftslehre aus dem Kantischen ›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, ein ›Ich existiere‹ macht, das als absolutes Subjekt sich selbst setzt und alles andere Existierende, damit auch die Natur, als das Nicht-Ich erst hervorbringt, so liegt darin letztlich eine mit den Begriffen der Kritik der reinen Vernunft formalisierte und verallgemeinerte Darstellung der Paranoia vor, einschließlich der Bedingungen der Möglichkeit pathischer Projektion. Das Wesen des absoluten Ichs ist damit die unendliche, unbeschränkte oder reine Tätigkeit. Alle endliche Tätigkeit ist nur als das Mittel der reinen Tätigkeit als Endzweck untergeordnet. Es kann seiner selbst als diese Kausalität nur bewusst sein, wenn es sich sein eigenes Nicht-Ich als Wider- und Gegenstand erschafft. Das ›Ding an sich‹ ist damit aber abgeschafft, und das absolute Ich nimmt alle nur denkbaren Züge einer Psychose an, die auf die narzisstische Kränkung durch jenes ›Ding an sich‹ zu reagieren nicht müde wird. Es gibt keine Dinge an sich, sondern nur für uns, damit wir an ihnen umzubildendes Material haben, sie sind nur, was wir aus ihnen gemacht haben bzw. machen sollen. Das absolute Ich vermag nur von dem Ding affiziert werden, das es sich selbst geschaffen hat, um eben davon affiziert zu werden und um es letztlich wieder zu überwinden, in sich zurückzunehmen: Politisch gesprochen, ist das absolute Ich der Staat, der den Staat im Staat bzw. den Weltmarkt überwindet, und zum geschlossenen Handelsstaat wird; ökonomisch gesprochen ist es die Arbeit, die den Gegenstand bzw. die Natur überwindet, sodass der Reichtum – wie im späteren Gothaer Programm der Sozialdemokratie – aus der Arbeit allein entsteht: Staat ohne Kapital, Arbeit ohne Natur. Das ›Ding an sich‹, das bei Kant das Gemüt affiziert und die Ursache, aber nicht der Inhalt der sinnlichen Erfahrungen ist, ohne die das ›Ich denke‹ eine völlig leere Vorstellung bleiben muss, findet sich bei Fichte durchgestrichen und durch ein Nicht-Ich im Inneren des absoluten Ichs ersetzt – als bloßer Anstoß einer Produktion, die Natur und damit die teleologische Urteilskraft wie deren Kritik überflüssig macht.
Gerhard Scheit
Die Rackets und der Todestrieb
Freud gesteht zu, dass der Todestrieb um so viel schwerer zu erfassen sei als die Libido; dass er gewissermaßen nur als Rückstand hinter dem Eros zu erraten wäre »und daß er sich uns entzieht, wo er nicht durch die Legierung mit dem Eros verraten wird. Im Sadismus, wo er das erotische Ziel in seinem Sinne umbiegt, dabei doch das sexuelle Streben voll befriedigt, gelingt uns die klarste Einsicht in sein Wesen und seine Beziehung zum Eros. Aber auch wo er ohne sexuelle Absicht auftritt, noch in der blindesten Zerstörungswut läßt sich nicht verkennen, daß seine Befriedigung mit einem außerordentlich hohen narzißtischen Genuß verknüpft ist, indem sie dem Ich die Erfüllung seiner alten Allmachtswünsche zeigt.« Es ist hier die massenpsychologische Identifikation, die es nahelegt, vom Todestrieb zu sprechen als ihrem »Rückstand«. Wenn die Libido in der Stellung der Massenindividuen zur Führerfigur sozusagen gebunden ist und deshalb vor jenem unmittelbar zerstörerischen und selbstzerstörerischen Verhalten bewahrt, so ist dieser Rückstand in den Beziehungen zu jenen Objekten zu erkennen, die außerhalb des Rackets projiziert werden, wobei dieses ›außerhalb‹ nicht selten im Inneren des Rackets selbst ausgemacht wird: als jemand, der hier keine »absolut bündigen Garantien der künftigen Zuverlässigkeit« bietet.
Gerhard Scheit
Der praktische Imperativ nach Auschwitz bei Jean Améry
Über das gebotene Scheitern des »radikalen Universalismus« (Omri Boehm)
Niemandem aber unter denen, die sich heute – gegen die aktuelle Regierung von Netanyahu gewandt (obwohl hier Folter gar kein Thema ist) – auf seinen letzten Artikel zu Israel eifernd politisierend und moralisierend berufen, kommt natürlich in den Sinn, dass er, wenn er zunächst den Primat des jüdischen Staats zugunsten abstrakter Moralphilosophie zurücknahm, etwas von seiner eigenen, immer schwieriger werdende Lage innerhalb der deutschsprachigen Öffentlichkeit preisgegeben haben könnte; mit anderen Worten: dass es sich um den Beginn eines vollständigen Rückzugs, wenn nicht eine der Ankündigungen seines baldigen Suizids handelte. So wie alle, die sich nach dem 7. Oktober auf diesen Artikel berufen wollen, um den praktischen Imperativ, den Primat des jüdischen Staats, auszulöschen, darüber geflissentlich hinweggehen, dass Améry am Ende des Textes die Zurücknahme selbst wieder zurücknahm, oder anders ausgedrückt: dass der radikale Universalismus, mit dem er anhebt, zuletzt doch an diesem Imperativ scheitern muss.
Gerhard Scheit
Naturen
2. Teil: Rohes chaotisches Aggregat und sich selbst organisierende Wesen
Weil der Mensch nur als moralisches Wesen zum Endzweck der Schöpfung taugt, verwandelt sich nicht nur der Gottesbeweis in ein moralisches Postulat, es gibt für die Menschen als Lebewesen auch keine Versöhnung mit der Natur. Also gilt für diese letzten Paragraphen der Kritik der Urteilskraft dann doch der Einspruch der Dialektik der Aufklärung, so wenig er auch der Kritik der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft in den vielen vorangegangenen Paragraphen gerecht wird: In der Methodenlehre vollzieht sich noch einmal, was Adorno und Horkheimer die Revokation von Kants eigenem Denken nennen: die Selbsterhaltung, wenn sie sich auf den Endzweck beschränkt, degradiert die innere und äußere Natur der Individuen zum Mittel des szientifischen Prinzips. Die Frage, ob die Menschen nicht glückselig sein könnten, ohne sich als Endzweck der Schöpfung zu verstehen, in dem Wissen nämlich, die Schöpfung als Selbstzweck zu begreifen, kommt Kant so wenig in den Sinn wie der Gedanke, dass zwar die Bedingungen, wodurch jeder die Möglichkeit haben soll, glücklich zu werden, selbst nicht übersinnlich sind und schlechthin unbedingt sein können, aber eben diese Unbedingtheit doch gerade dem Anspruch zukäme, sie für alle durchzusetzen. Der praktische Imperativ, den Menschen niemals bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Selbstzweck zu behandeln, erhielte aber allein dadurch seine volle inhaltliche Bedeutung und unterschiede sich nicht mehr von dem Marxschen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes und verlassenes Wesen ist.
Gerhard Scheit
Rechtspositivismus und politische Theologie im jüdischen Staat
Zum Konflikt über die Justizreform in Israel – mit einem Nachtrag zum 7. Oktober
Wenn in Politik und Öffentlichkeit der postnazistischen Welt direkt oder indirekt die Annahme als Gewissheit ausgegeben wird, dass Demokratie und Völkerrecht wie geschaffen seien, eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern, handelt es sich sozusagen um einen hypothetischen Imperativ nach Auschwitz – also einen Imperativ nach dem Muster: Wenn du Y willst, tue H!, der etwa auch lauten könnte: Si vis pacem, para bellum (Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor). Beim kategorischen und praktischen Imperativ hingegen wird übers Hypothetische gerade hinausgegangen, indem Mittel und Zweck in einem wie auch immer kausal vorgestellten Zusammenhang nicht voneinander getrennt zu denken sind: negativ beim kategorischen, wie ihn Adorno formulierte, dadurch, dass vom Mittel überhaupt nicht gesprochen wird; positiv beim praktischen, wie er erst noch zu formulieren wäre, darin, dass es in Gestalt des jüdischen Staats mit dem Zweck wirklich zusammenfällt: Geschaffen, jedem weiteren Versuch in irgendeinem Staat auf der Welt der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung vorzubeugen und entgegenzuwirken, ist er selbst bereits als dieser Zweck anzuerkennen. Denn wenn beim praktischen Imperativ von Kant die »Idee der Menschheit« der »Zweck an sich selbst« ist – praktisch darin, dass er den Formalismus in der Maxime des kategorischen transzendiert – hat »Hitler … den Menschen im Stande der Unfreiheit«, der nun einmal in der Existenz von Staaten (als notwendiger Bedingung des Kapitalverhältnisses) begründet liegt, auch einen neuen praktischen Imperativ aufgezwungen, der auf die Mittel-Zweck-Relation zielt, wovon der kategorische schweigt: nämlich den Staat derer als Zweck an sich selbst zu bestimmen, welche aus jener Idee der Menschheit (durch die »pathischen Projektionen« einer allgegenwärtigen »verfolgenden Unschuld«, die partout in ihnen die »abstrakte Dimension« des Kapitals verkörpert sehen will) nicht nur ausgeschlossen, sondern mit diesem Ausschluss praktisch und vollständig vernichtet werden sollten. Der antizionistische Hass fordert im Sinne negativer Urteilskraft eben darin den Superlativ heraus: Nicht nur handelt es sich um die zeitgemäß geschärfteste Form des Antisemitismus, er gibt zugleich den politischen Geltungsgrund dieser (um es einmal nicht in den Begriffen der Psychoanalyse oder der politischen Ökonomie auszudrücken) größten und wirkungsmächtigsten Lüge der sogenannten Menschheit am reinsten zu erkennen: die Juden dürfen keinen eigenen Staat haben, weil sie zum Zweck ihrer Vernichtung jederzeit frei verfügbar sein sollen, wo, wie und wann immer Kapitalverhältnis und Weltmarkt auseinanderzubrechen drohen.
Gerhard Scheit
Naturen
1. Teil: Die Träume der frühen Geisterseher des Kapitals erläutert als späte Metaphysik
Denn anders als der Begriff der Natur, der in ›freier‹ Natur nicht vorkommt, kommt der Begriff der Gesellschaft in der unfreien Gesellschaft sehr wohl vor, und das auszudrücken, ist ohne Anleihe bei Hegel gar nicht möglich. So heißt es in den Grundrissen: »Der Begriff des Reichtums ist so zu sagen in einem besondren Gegenstand realisiert, individualisiert«; und im Zweiten Band des Kapitals: »Abstraktion in actu«. Das Kapital ist das Haupt, in dem diese Abstraktion stattfindet, aber es denkt nicht; ist kein Gehirn, wie es menschliche Individuen haben, wodurch etwas gewusst oder nicht gewusst, wodurch also gedacht werden kann. Dass diese Individuen aber auch etwas tun können, was sie nicht wissen oder wissen wollen, ist Bedingung fürs Kapitalverhältnis, wenn auch keine hinreichende, und erzeugt den Schein, dass dieses Verhältnis in den Individuen denkt: »Sie wissen das nicht, aber sie thun es«, sagt Marx eben deshalb über die Menschen, soweit sie »ihre Produkte auf einander als Waaren« beziehen und darin gezwungen sind, »ihre verschiednen Arbeiten abstrakt menschlicher Arbeit gleichzusetzen«. Damit halten sie – ohne es zu wissen –, in ihrem Tun, in dessen Eigenschaft als »Funktion des Kapitals«, an einem Zweck über alle anderen Zwecke hinweg fest, und solange sie das tun, ist jenes Als-ob der Totalität in ein Id est verwandelt und die Totalität Wirklichkeit. Daran scheitert auch die Kantische Kritik der Urteilskraft, und zwar gerade dort, wo es unmittelbar um diese Gesellschaft geht: in den teleologischen Anmerkungen über Staat und weltbürgerliches Ganzes, Fortschrittsbegriff und Handelsgeist. Letzterer trägt seinen Namen nicht zufällig. Wenn sich Kant in der »Methodenlehre« seiner Kritik dem Politischen zuwendet, möchte er wieder vergessen machen, was er die Anhäufung der »Naturen« betreffend, die Natur heißt, doch für durchaus möglich halten muss: »ein rohes chaotisches Aggregat und nicht die mindeste Spur eines Systems« – obwohl »wir ein solches nach transcendentalen Gesetzen voraussetzen müssen«.
Gerhard Scheit
Beginnt der Ukrainekrieg, die Sicherheit Israels zu untergraben?
Anmerkungen zur reflektierenden Urteilskraft aus aktuellen Anlässen
So eindeutig die Parteinahme für die Ukraine gegenüber Putins Regime sein muss, soll das »Minimum an Freiheit« den ganzen Sinn behalten, für den Franz Neumann die Formulierung prägte, auch dieser Krieg kann unabhängig von einem praktischen Imperativ nach Auschwitz nicht beurteilt werden, einem Imperativ, der es – anders als der kategorische, aber von ihm nicht zu trennen – mit dem Verhältnis von Mittel und Zweck beziehungsweise Selbstzweck zu tun hat: Durchsetzung und Verteidigung der Vermittlungsformen, wie sie allemal dem Kapitalverhältnis Rechnung tragen – bürgerliche Grundrechte, rule of law, Gewaltenteilung … – niemals nur als Zweck zu begreifen, der das Schlimmere barbarischen, vorkapitalistischen Zwangs verhindere, sondern jederzeit zugleich als Mittel, die Antisemiten, die Feinde Israels zu bekämpfen. Dabei kommt dem jüdischen Souverän als dem einzelnen, empirisch Gegebenen gegenüber den allgemeinen politischen Formen wie Demokratie und Völkerrecht, die als die heutigen Universalien des Politischen verstanden doch höchste Geltung beanspruchen wollen, kategorische Bedeutung zu. Denn diese Formen, in denen das Kapital sich in den verschiedensten Staaten reproduziert und für das staatliche Institutionen idealerweise nur die Voraussetzungen für seine Zirkulation einschließlich des Zugangs zum Weltmarkt schaffen, das heißt die Zirkulation eben nicht durch die eigenen hierarchisch-bürokratischen beziehungsweise racketförmigen Kommandostrukturen ersetzen wie in Staaten ohne Wahlen, Gewaltenteilung und unabhängiger Zentralbank – diese Formen können ihrerseits weder logisch, also an sich, noch historisch, also nach Auschwitz, das Besondere sein, subsumieren oder ersetzen, von dem im Sinne des kategorischen Imperativs nach Auschwitz auszugehen ist.
Gerhard Scheit
Die Tatsachen der Naturgeschichte als Ideologie
Eine verschenkte Gelegenheit, das Gemeinsame von »Queer-Aktivisten« und »Trans-Skeptikern« zu erkennen
Schiebt ein kleines Mädchen einen Spielzeugkinderwagen mit einer Puppe darin vor sich her, meint der kulturwissenschaftliche Hausverstand dem sozialen Geschlecht in actu und der naturwissenschaftliche Hausverstand dem biologischen Geschlecht in actu zu begegnen. Beide klammern aus, was ihren Abstraktionen von sex und gender zu Grunde liegt. Materialistische Erkenntniskritik interessiert es darum wenig, dass die einen also ›biologisch‹ und die anderen ›gesellschaftlich‹ argumentieren – eine im Kern politische Aufteilung wie rechts und links.20 In welcher Weise deren gemeinsame Denkform aufgewiesen und der Kritik unterzogen werden kann, erhellt hingegen am deutlichsten die Entwicklung der Psychoanalyse.
Gerhard Scheit
Das Ende des geistigen Tierreichs
Ein Essay über Scherzo und Trauermarsch der Fünften Mahler
Adornos Mahler-Deutung entspricht der Negativen Dialektik, die er aus der Umdeutung der Hegelschen gewann – das geistige Tierreich als Endstation … Der heilige Antonius, der den unbelehrbaren Fischen predigte, hat abgedankt, er ekelt sich vor sich selber: Ausdruck der total gewordenen Immanenz des Weltlaufs, der allein vom Weltgeist zurückgeblieben ist. … Ekel am Kontrapunkt, das alles in äußerster Anspannung von harmonischer und kontrapunktischer Kunst. Aber es ist ein Ekel ohne die Angst, vom ›ekelhaften‹ Objekt »als dessengleichen erkannt zu werden« – frei von dieser Angst, wie Kafkas Prosa frei von ihr und vom Erstaunen ist, wenn sich Gregor Samsa in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt findet.
Gerhard Scheit
Die schmale Straße des Messias: Über Albert Drach
Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, Albert Drachs berühmtester Roman, beginnt damit, dass der galizische Talmudschüler Schmul Leib Zwetschkenbaum, unter einem Zwetschkenbaum sitzend, verhaftet wird. Anders als Josef K. in Kafkas Prozess erfährt er, warum das geschieht: Er wird beschuldigt, die Zwetschken des Baums gestohlen zu haben. Es folgen Gefängnis, Irrenanstalt und eine gescheiterte Flucht, die ihn – nunmehr beschuldigt der Brandstiftung, weil er einen Fluch ausgestoßen hat – wiederum vors Gericht bringt und in die Irrenanstalt. Diesmal wird das Verfahren jedoch eingestellt und Zwetschkenbaum kann auch die Anstalt wieder verlassen. Als er von einer angeblichen Erbschaft seines Bruders erfährt, macht er sich auf die Suche nach ihren geheimen Verwaltern. Dabei heften sich zwei Kleinkriminelle auf seine Spuren, die ihm das Erbe abjagen wollen. An deren Stelle wird er nun wegen Hehlerei verhaftet. Bei dem neuerlichen gerichtlichen Verfahren tritt zutage, dass es sich bei dem Vermögen nicht um das Erbe des Bruders handelt, der vielmehr unter anderem Namen noch lebt. Stattdessen hat es der Rechtsanwalt Dr. Schimaschek, der zusammen mit Zwetschkenbaum im Irrenhaus saß, als eine Art Bußgeld eingesammelt bei den Personen, die sich an Zwetschkenbaum vergangen hatten. Der mit der Untersuchung gegen Zwetschkenbaum betraute Richter, Baron Dr. Xaver Bampanello von Kladeritsch, ordnet nun die Abfassung eines umfassenden Protokolls an – es ist eben dieses große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, das man gelesen hat.
Gerhard Scheit
Was ist Wahrheit? Und was Gegenidentifikation?
Aufforderung, Manfred Dahlmann zu lesen
Statt nach Wahrheit zu suchen, die positiv nicht unmittelbar zutage treten kann, und deutlich zu machen, warum, erhält aufs Neue die sinnliche Gewissheit Vorrang: Es gäbe einerseits historische Tatsachen und andererseits Narrative; bei den Tatsachen fragt sich niemand, auf welcher Grundlage sie als Tatsachen überhaupt wahrgenommen werden können und als geltend betrachtet werden; bei den Narrativen wird als erwiesen betrachtet, dass die Tatsachen bloße Versatzstücke des Erzählens sind – und indem es als Erzählen bezeichnet wird und nicht als Ideologie, erspart man sich auch darüber, was überhaupt erzählt werden kann, weiter nachzudenken. In der Gewissheit, die Tatsachen auf ihrer Seite zu haben, behandeln dann die einen den Holocaust oder den jüdischen Monotheismus als Narrativ Israels, die anderen die postkoloniale Theorie und den Antirassismus als Narrativ der Antisemiten beziehungsweise Antizionisten. Letzteres macht allerdings einen Unterschied ums Ganze – nur kann eben diesen Unterschied nicht begreifen, wer verleugnet, dass »zwischen Antisemitismus und Totalität von Anbeginn der innigste Zusammenhang« bestehe, wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt. Gerade von Totalität, das heißt vom Kapitalverhältnis, will man ja im Namen der Tatsachen und der Narrative, der News und der Fake News keinen Begriff mehr haben.
Gerhard Scheit
»Hier üben wir die Hegemonie / Hier sind wir unzerstückelt«
Eine Anmerkung zur deutschen Ideologie in der kommenden Inflation
Durch das Retirieren auf Innenpolitik und Anti-EU-Propaganda wird immerhin Israel weitgehend aus der Schusslinie genommen, ja sogar als Identifikationsobjekt ausersehen, wenngleich die Rhetorik eines antisemitischen Charakters nicht gänzlich entbehren muss. Ganz anders stellt sich die Situation von den erdölexportierenden Ländern aus dar, denn deren Sonderstellung auf dem fortbestehenden Weltmarkt ermöglicht eine Art Surrogat für Autarkiepolitik, auf die allein schon das Zinsverbot im Islam ausgerichtet ist, und dieses Surrogat zeigt seine verheerende Wirkung in dem davon finanzierten Djihad im ›Haus des Krieges‹. Denn das ›Haus des Islam‹ ist der geschlossene Handelsstaat unter den Bedingungen des fortbestehenden Weltmarkts, Islamic Banking die zeitgemäße Form der »Brechung der Zinsknechtschaft« und Antizionismus die Speerspitze des Antisemitismus.
Soweit aber die Deutschen – und hier namentlich weniger die rechten Nachfolgerackets des Nationalsozialismus als deren linke Gegner, ihres Zeichens Kritiker der Islamophobie – außenpolitisch agieren und diese Außenpolitik auch im Inneren durchsetzen, bereiten sie dem Djihad den Boden durch konsequentes Appeasement, wenn nicht Kollaboration– mit nicht geringer, wenn auch wechselnder Ausstrahlungskraft auf die Außenpolitik der USA. In gewisser Weise kehrt damit die deutsche Ideologie zu dem Ausgangspunkt zurück, an dem Marx und Engels sie einst durchschauten. Um darzulegen, »welche borniert-nationale Anschauungsweise dem vorgeblichen Universalismus und Kosmopolitismus der Deutschen zugrunde« liege, zitierten sie aus Heinrich Heines Wintermärchen die Zeilen: »Franzosen und Russen gehört das Land, / Das Meer gehört den Briten, / Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritten. / Hier üben wir die Hegemonie / Hier sind wir unzerstückelt«.
Gerhard Scheit
Wie eine Religion der anderen die Unwahrheit hinzufügt
Drei Thesen über den Begriff des Politischen in der Religionskritik mit einem Exkurs über Philosophie und Sklaverei
Nach neueren, gut begründeten Annahmen etwa der Saarbrücker Schule um Christoph Luxenberg und Karl-Heinz Ohlig (die sich auch auf Ignaz Goldziher, einen der Väter der Islamwissenschaft, beruft), der im angelsächsischen Raum bereits die Arbeiten von John Wansbrough und dessen Schüler vorangegangen waren, kann der Islam selbst keineswegs als eine plötzlich und ex nihil vollzogene Neugründung vor dem 8. Jahrhundert verstanden werden: Auf eine Rivalität mit einer neuen Religion oder auf einen Religionsstifter namens Mohammed, dessen Taten von der islamischen Überlieferung im 7. Jahrhundert angesiedelt werden, finde sich weder in christlichen und jüdischen, noch auch konkret in arabischen oder anderssprachigen Quellen dieses wie auch des folgenden Jahrhunderts ein Hinweis. Vielmehr ist von einem längeren, über Jahrhunderte sich hinziehenden Prozess auszugehen, der sich zunächst im Koran niedergeschlagen hat: Aus einem Lektionar, dem eine vermutlich von anti-trinitarisch gesinnten Christen angefertigte Übersetzungsversion der Bibel zugrunde lag und worin muhammad noch ein Gerundiv war und als Prädizierung von Jesus als dem »Gepriesenen« firmierte, wurde schließlich das exklusive, der Tora wie den Evangelien übergeordnete Buch eines eigenen Propheten arabischen Ursprungs namens Mohammed, der selber allerdings darin lediglich vier Mal beim Namen genannt wird, in den jedoch die Erinnerung an einen arabischen Stammesfürsten eingegangen sein mag, der wie seine umayyadischen Nachfolger mit den Juden noch Bündnisse geschlossen (worauf auch verschiedene Gebote wie das der Beschneidung hindeuten) und zugleich – soweit er dem Christentum nahestand – gegen die Auffassung von der Dreifaltigkeit Gottes sich gewandt haben dürfte.
Gerhard Scheit
Die schwächste messianische Kraft: Warten auf Godot
Auf die Frage, warum wir erst heute, ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, das Stück zu verstehen beginnen, antwortet François Rastier im Grunde: Weil wir selbst zu Juden geworden sind. Zunächst sucht er sich zwar noch von der Philosophie Giorgio Agambens zu distanzieren, wenn er schreibt: »Die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan und der Völkermord in Ruanda haben aus der nationalsozialistischen Vernichtung so etwas wie ein Paradigma der zeitgenössischen Kultur gemacht. Und über diese Kultur streiten sich die Partisanen des Pathos und der Ästhetisierung wie Steiner, Agamben oder Littel mit den Partisanen der historischen Luzidität wie Hilberg, Vidal-Naquet oder Thanassekos.« Doch er selbst ist es, der schließlich die empirische historische Lektüre umschlagen lässt in eine schlecht allegorische ganz im Sinne von Agambens Konstruktion des »Muselmanns«: Wladimir und Estragon werden zu Allegorien dafür, dass die Menschen allesamt als Juden zu gelten hätten, als ob »nicht mehr die ewige Trivialität des Todes sondern die Verfolgung selbst die Grundlage des menschlichen Daseins in der Gegenwart« wäre: »Seit sechzig Jahren wohnen wir der Ausweitung der ›Grauzone‹ (Primo Levi) bei: alle Menschen sind potentielle Opfer.« Und daher gilt offenbar: »als mögliche Opfer sind alle Menschen Juden« – und können sich darum mit Wladimir und Estragon identifizieren. Mit anderen Worten: Es gibt keine Antisemiten mehr, oder wenn, dann sind auch sie eben Juden. Dieser fliegende Wechsel von einer empirisch historischen Lektüre, die ohne die Juden zu nennen nicht auskommt, zu einer geschichtsphilosophischen Konstruktion, in der die Juden verschwinden sollen, leistet einer Schuldumkehr Vorschub, wie sie Anders und Adorno bei ihren Zeitgenossen beobachten konnten. Ihre eigene Deutung der Beckettschen Stücke ist dem genau entgegengesetzt. Statt die Lage der Juden als Allegorie des menschlichen Daseins in der Gegenwart zu verstehen, konzentrieren sie ihre Reflexion desto mehr auf das Kreatürliche.
Gerhard Scheit
Carl Schmitt und die freiheitsliebenden Taliban
Die Politik, die heute von der Kommunistischen Partei Chinas betrieben wird, erscheint vor diesem historischen Hintergrund eigenartig gespalten: Sie wirkt als willentlicher Beschleuniger, was den imperialistischen Versuch betrifft, den Weltmarkt von ›innen‹, von den Verträgen her zu zerstören und den US-Hegemon durch Großraumpolitik beiseitezuschieben; aber als Beschleuniger wider Willen, was die Bedrohung Israels anbelangt, wie das Verhältnis zum Islam im Allgemeinen und zum Iran im Besonderen zeigt – wobei hier das Besondere die fast schon erreichten Kapazitäten sind, in dem für den Islam beanspruchten Großraum des Nahen Ostens den Staat der Überlebenden der Vernichtungslager auszulöschen.
Gerhard Scheit
Planetarisches Verbrechertum
Über den Antisemitismus in Heideggers Seinslogik
So gewiss das Heideggersche Sein für den Wert steht, der sich nicht mehr verwertet, so gewiss, dass es nicht genügt, den Antisemitismus als Personifizierung der abstrakten Seite des Kapitals zu definieren, denn diese Seite kann nur dann personifiziert werden, wenn es ein Subjekt gibt, das sich eben dadurch von jedem Objekt befreit: Flucht vor seiner eigenen Freiheit, auf der es sich selbst abschafft. »Bleibt kein Ausweg, so wird dem Vernichtungsdrang vollends gleichgültig, worin er nie ganz fest unterschied: ob er gegen andere sich richtet oder gegens eigene Subjekt.«
Gerhard Scheit
Retter des Seins oder Heros des Überlebens
Über Mythos, Philosophie und Polis bei Martin Heidegger und Klaus Heinrich – mit einem Exkurs zu Ulrich Enderwitz’ Reichtum und Religion
Heidegger deutet Homers Odysseus nicht wie Adorno und Horkheimer als kritisches Paradigma des identischen, zweckgerichteten, männlichen Charakters des Menschen, der seine Triebe, die Natur und die anderen Menschen beherrscht und überlistet, um sich selbst zu erhalten, sondern als den unumwundenen Heros des Seins zum Tode, der das Sein noch nicht vergessen habe und sich deshalb verbergen müsse. So entwirft auch Heidegger ein Paradigma, aber als Vorbild für das Subjekt, das sich selbst abschafft. Auch er interpretiert die Odyssee oder die Ilias von der Polis aus, nur dass diese Polis bei ihm als eine Art deutscher Hades entworfen wird. … Nun nimmt aber auch Heidegger etwas vom wirklichen Charakter der Polis insofern wahr, als er das innere Gleichgewicht der gegeneinander gerichtete Kräfte als Notwendigkeit der „Unverborgenheit des Seienden“ darstellt, die sozusagen zusammen mit dem Sein im modernen Staat, der das Gewaltmonopol aufgerichtet hat, vergessen sei. … Darum wäre es vollkommen falsch, die Polis mit den Begriffen des neuzeitlichen Staatsdenkens zu bestimmen, denn der Polis sei das Wesen der Macht fremd, sodass auch die Kennzeichnung der Macht als »böse« hier keinen Boden habe. »Das im neuzeitlichen Staatsdenken gemeinte Wesen der Macht gründet auf der metaphysischen Voraussetzung, daß sich das Wesen der Wahrheit zur Gewißheit und d. h. zur Selbstgewißheit des sich auf sich selbst stellenden Menschenwesens gewandelt hat, und daß diese auf der Subjektivität des Bewußtseins beruht. Kein moderner Begriff ›des Politischen‹ reicht zu, um das Wesen der Polis zu fassen.« Aber der Nationalsozialismus reicht zu.
Gerhard Scheit
Sterbehilfe für den Souverän
Historische Randglossen zu einer abendfüllenden Travestie von Ferdinand von Schirach
Der verschobene Plotpoint der Schirachschen Dramaturgie besteht aber darin, dass am Ende der fiktiven Diskussionen im Publikum real darüber abgestimmt wird, wer recht hätte beziehungsweise der Sieger wäre – in diesem Fall also darüber, ob der ärztlich assistierte Suizid, wie ihn sich Herr Gärtner wünscht, ermöglicht werden sollte. … Dieser ›Gimmick‹, mit dem Schirach das Publikum anlockt, tut offenbar im Kulturbetrieb seine Wirkung, wie auch der Rezensent der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erstaunt feststellt: Durch das Stück Terror wurde der Autor in Deutschland zum meistgespielten Dramatiker, und Gott »brachte es im Corona-Jahr 2020 in nicht einmal zwei Monaten auf 99 Aufführungen an acht Theatern«. Die Gründe dafür sind in einer schlichten, gegen die Moderne gerichteten Dramaturgie zu suchen, die sich gerade darin als raffiniert erweist, dass sie auch den ideologischen Bedürfnissen des heutigen Theaterpublikums in Deutschland sehr entgegenkommt. Während traditionell der Schluss einer Tragödie als deren neuralgische Stelle erscheint, der Punkt, an dem der Autor nicht selten Farbe zu bekennen sich herausgefordert sieht, um die Frage zu beantworten, wie er es denn nun mit dem Staat halte, nimmt sich Schirach genau hier, am Ende seiner Stücke, als Souverän des Textes scheinbar zurück und verkündet in Brecht’scher Manier: Verehrtes Publikum, los, such’ dir selbst den Schluss – den er ihm aber längst eingeflüstert hat. Die Form ist auch dabei der niedergeschlagene Inhalt, denn der entpuppt sich als Verdrängung des Souveräns. Nur ist es eben keine ästhetische, wie sie Hegels Dialektik beschwört, sondern eine kulturindustrielle, der allein die Einsichten aus der Dialektik der Aufklärung gerecht werden können.
Gerhard Scheit
Menschen mit Nazihintergrund und ihr ehemaliger Führer im Weißen Haus
Zwei Glossen
Die Gesellschaft wird in Teile zerlegt und diese sind mit den Farbstiften der Intersektionalität identitätspolitisch zu markieren, mittlerweile farblich nuancierter durch die »multidirektionale Erinnerung« (Rothberg). Die roten Sektionschefs können sich dann bei Vergabe von Subventionen und Projektgeldern danach richten. Soweit verläuft alles in sozialdemokratischen Bahnen – und führt weit weg von radikaler Kritik, der es im gleichen Maß um die Einheit gehen muss wie um die Teile selber. Für solche Teile, die sich zur deutschen »Mehrheitsgesellschaft« addieren lassen, sobald umgekehrt die jüdische Bevölkerung und andere Opfergruppen zu den Minderheiten gezählt werden, mag an sich die Bezeichnung ›Menschen mit Nazihintergrund‹ durchaus treffend sein (ungefähr so wie Götz Alys Volksstaat-Buch), nährt allerdings auf der anderen Seite auch einen gewissen nationalen Sündenstolz. Vor allem aber wird dabei nahegelegt, dass mit der Arisierung – in Analogie zur Kolonialisierung – das ganze Wesen des Nationalsozialismus auf den Begriff gebracht wäre. Genau so unterläuft aber die postcolonial theory – die auch für die Juden eine eigene Sektion vorsehen mag, allerdings nur als Minderheit in der Diaspora – nun sogar am Gegenstand des Nazierbes, was antideutsche Kritik einmal als Postnazismus bestimmt hat. Denn wird – wie in dieser Kritik – die Arisierung als eine von mehreren Phasen im Prozess der Vernichtung der Juden begriffen, der keinerlei kolonisierenden Zweck weil überhaupt keinen Zweck hatte, dann heißt das für die Einheit, die aus diesem Vernichtungsprozess hervorging, etwas ganz Bestimmtes, das postcolonial theory zu leugnen geradezu erfunden worden ist: Durchs Kapitalverhältnis konstituiert besitzt die Einheit nicht anders als vor der Shoah ein entsprechendes Potential, die Vernichtung erneut in Gang zu setzen – nur dass dieses Potential unter den neuen, vom Sieg der Alliierten über Nazideutschland geschaffenen Bedingungen nicht unbedingt dessen Nachfolgestaaten vorbehalten bleibt. Sein erweitertes ›Einzugsgebiet‹ nimmt jetzt vielmehr im Verhältnis zum jüdischen Staat Gestalt an, am konkretesten und gefährlichsten im derzeitigen Regime des Iran.
Gerhard Scheit
Der unbewaffnete Weltsouverän und die Bewaffnung des Gegengestors
Theorie des Zionismus, Kritik des Antizionismus. Teil 3
So wie zum zionistischen Gestor die Reflexion auf einen westlichen Hegemon gehört, so zum Gegengestor der Wahn vom Weltsouverän. Dessen Herz schlägt in der Vollversammlung der UN. Er sorgt dafür, dass die wirklichen Gewaltverhältnisse nicht zur Sprache kommen; dass die Inversion des Zionismus in Gestalt der jihadistischen Politik weitergehen und immer gefährlichere Formen annehmen kann. Er ist selbst nichts anderes als die pathische Projektion, wonach die Utopie vom ewigen Frieden eigentlich schon Wirklichkeit geworden wäre, gäbe es nicht Israel, das die Völker daran hindert, in dieser Utopie auch zu leben.
Gerhard Scheit
Pandemie und Weltmarkt
Kleine Polemik gegen den Geist des Klassenkampfs und den Wahn der Großraumordnung
Entweder das Kapital verwertet sich und die Klassenverhältnisse werden ›modernisiert‹ in den fortlaufenden Krisen dieser Verwertung, um in deren Bewältigung dem Weltmarkt Rechnung zu tragen, wobei eben auch der einzelne Staat, als wäre er autonom, Hand anlegt – oder die Verwertung selbst ist so illusionär geworden wie die politisch-ökonomische Bestimmung eines Klassenverhältnisses sich ad absurdum führt, weil die Krisenbewältigung dazu übergegangen ist, den Weltmarkt selbst zu zerschlagen und an dessen Stelle Aneignung von Reichtum jenseits von Verträgen tritt. In letzterem Fall schlägt dann aber auch die große Stunde der Volks- oder Glaubensgemeinschaft … Zur Zeit der ersten Gegenmaßnahmen zu prognostizieren, in welcher der beiden Weisen staatlicher ›Krisenbewältigung‹ ein Ereignis wie eine Pandemie als Brandbeschleuniger wirken wird, erscheint umso abwegiger, je rascher und weitreichender es die Bedingungen der Zirkulationssphäre affiziert. Eben dessen sich bewusst hätte eine Kritik der politischen Ökonomie, die dem kategorischen Imperativ nach Auschwitz zu folgen bereit wäre, so deutlich als irgend möglich zu unterscheiden zwischen einem temporären (oder periodischen) Primat der Politik und einem totalen; zwischen einem Primat, der als vorübergehende Krisenmaßnahme im Sinne des Weltmarkts wirkend noch irgendwie verstanden werden kann, und einem, der längst auf etwas anderes zielt: auf eine jeweils von ›einem Volk‹ oder ›einem Glauben‹ getragene »Großraumordnung« der Autarkie, die – wie das Carl Schmitt propagiert hat – an die Stelle des »universalistisch-imperialistischen Weltrechts« des Weltmarkts treten soll.
Gerhard Scheit
Hess, Marx und Herzl
(Exkurs zu Theorie des Zionismus, Kritik des Antizionismus)
Ebenso wird der falsche, weil gegen Vermittlung an sich gerichtete Schluss aus der Kritik der politischen Ökonomie bei Moses Hess schließlich doch konterkariert durch seine Auffassung des Gesetzes, die er spezifisch jüdischen Traditionen des Denkens verdankt. Zu dieser Auffassung nötigt ihn die geschichtliche Erfahrung »der Kinder« eines »Stammes, der, wie kein Volk der Weltgeschichte, ein zweitausendjähriges Märtyrertum standhaft ertragen« habe. Auf die Verfolgung der Juden kommt Hess sonst nur an wenigen Stellen seiner Schrift zu sprechen und doch ist ihre Erfahrung entscheidend für seine Erkenntnis von der Notwendigkeit eines eigenen Judenstaats. Denn der Stamm sei zur Selbsterhaltung bei den denkbar widrigsten Umständen nur imstande gewesen, weil er »das Banner seiner Nationalität, die Gesetzesrolle, um deretwillen er verfolgt worden, stets hoch empor gehalten und heilig gehalten hat …« In dem Nebensatz ist die ganze Entlarvung des Antisemitismus angedeutet: Um der Gesetze willen, womit die Juden sich vom Opfer entfremdeten, sind sie gerade verfolgt worden. Und darum kann Moses Hess auch die Gesellschaft des neuen Staats, kaum dass »ein frommer jüdischer Patriot« sie »in Vorschlag gebracht« habe, nur in einer Weise ins Leben treten sehen: Nicht nur als »Anbau des heiligen Landes durch jüdische Arbeiter unter dem Schutze der westlichen Kulturvölker«, sondern so, dass »der Wohlstand unter dem Schutze des Gesetzes und auf der Grundlage der Arbeit« entstehe – wodurch auch die Auffassung von der freien Assoziation der Produktivkräfte dahingehend korrigiert wird, dass es doch nur eine freie Assoziation von Individuen geben könne. Der Gedanke des Gesetzes und welche Bedeutung er für die Selbsterhaltung der Juden spiele, rettet im Gedankengang von Hess das Individuum als Selbstzweck, bewahrt es davor, in der kollektivistisch gedachten Produktivkraft der Arbeit unterzugehen.
Als Theodor Herzl 1901 Rom und Jerusalem las, notierte er in seinem Tagebuch: »Welch ein hoher edler Geist. Alles, was wir versuchten, steht schon bei ihm. Lästig nur das Hegelianische seiner Terminologie. Herrlich das Spinozistisch-Jüdische und Nationale. Seit Spinoza hat das Judentum keinen größeren Geist hervorgebracht als diesen vergessenen verblaßten Moses Heß!«
Gerhard Scheit
Auf der neuen Seidenstraße der Theorie
Vier Thesen zur Existentialontologie des Gelds – anlässlich von Manfred Dahlmanns Kritik an Frank Engster
So entpuppt sich das Geld in der Wertformanalyse als Einheit weder des unter ihm Befassten noch gar des aus ihm und von ihm Herausgesetzten, also eben nicht (wie Hegels Geist) als Totalität synthetisierender Begriff, sondern als rein formale, inhaltsleere Identität an und für sich (im Sinne des Kantischen Transzendentalsubjekts): Identität, »die alle sonstigen Auffassungen von Einheit transzendiert: repräsentiert in dem Gleichheitszeichen in den damit versehenen Wertgleichungen des ersten Kapitels des Kapitals«. Das Gleichheitszeichen der Wertgleichungen setzt »eine abstrakte Quantität voraus, die von der ganzen Meßbarkeit von Gebrauchsmengen Abstraktion macht«. Dieser Quantitätsbegriff ist an keinen bestimmten Gebrauchsinhalt gebunden, hat nichts »Empirisches zum Inhalt«, etwa elektrische Spannung, er kann »nur gedacht werden« (Alfred Sohn-Rethel).
Gerhard Scheit
»… eine spannende ethische Diskussion, die die Welt noch sehr beschäftigen wird«
Der Aufbau des chinesischen Sozialkreditsystems und die Proteste in Hongkong
Die Lehre der Volksrepublik besteht nun darin, dass die Partei selbst zur treibenden Kraft werden muss, die Zirkulationszeit gen Null zu reduzieren, und alles immer in Hinblick darauf kontrolliert, ob es zugleich dazu dient, diese Verkürzung im Ganzen zu gewährleisten. Der Warentausch soll hier immer zugleich der Weg der staatlichen Kontrolle werden, innerhalb und außerhalb des Staats: Außerhalb lässt sich das daran studieren, wie die Kreditverträge aussehen, die man seit längerem schon entlang der »neuen Seidenstraße« anbietet und mit der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) propagiert; innerhalb zeigt es sich an der Entwicklung des sogenannten Bonitätssystems, das wohl nicht zufällig unter der Ägide der Zentralbank und in engster Kooperation mit Digitalunternehmen wie der Alibaba Group ausgearbeitet wird. Das Geld ›verschwindet‹ zwar ebenso wie in den westlichen Gesellschaften in immer größerem Tempo in der Zirkulation und auch die chinesische Zentralbank musste in letzter Zeit den Leitzins senken und die Geldpolitik lockern, aber der Staat, der es garantiert, gewinnt im selben Maß neue, unmittelbare Macht über fremde Territorien und eigene Untertanen.
Gerhard Scheit
Wertgesetz, Weltmarkt und Judenhass
Über einige Voraussetzungen, den Wahn der Autarkie zu kritisieren
Soweit nun im Kapital im Zusammenhang mit der Zirkulation auf dem Weltmarkt von den »internationalen Werten« der Waren die Rede ist, wird vorausgesetzt, dass es sich zwar um den Vergleich verschiedener Stufen nationaler Arbeitsintensität handelt, dies sich hier »in einer unbegrenzten«, das heißt: von einer einzelnen Nation nicht begrenzten »Reihe verschiedner Gebrauchswerte« darstellt. Umgekehrt ist es die durchaus begrenzte Reihe der Gebrauchswerte, in der sich die nationale Arbeitsintensität innerhalb der Nation selbst darstellt, die gerade den Schein erzeugt, dass die konkreten Arbeiten nicht vollständig in jener gespenstischen Gegenständlichkeit verschwinden, vielmehr dieses Abstrakte der Wertsubstanz schon in seiner Voraussetzung, in der mechanischen, zerstückelten, inhaltlich leeren aber doch physiologisch wahrzunehmenden Tätigkeit liegen müsste und darum auch zu bejahen wäre. Nur im Horizont nationaler Arbeitsintensität kann die Illusion aufrechterhalten werden, oder besser: das fetischistische Bewusstsein, es handle sich um keine Verselbständigung des Werts als Kapital, und nur so können die der »Intensifikation« unmittelbar Ausgesetzten im Angesicht des Souveräns noch immer sagen: »Wir sind das Kapital«, denn wir machen all diese mechanische, zerstückelte, inhaltlich leere und so gesehen abstrakte Arbeit, die trotz der stets vielbeschworenen Automatisierung und Digitalisierung nicht zu verschwinden sich anschickt. Mit anderen Worten: Erst die Reflexion auf den Weltmarkt ermöglicht der Kritik der politischen Ökonomie einen radikalen Begriff abstrakter Arbeit, der sich von der Illusion befreit hat und dem Fetisch widerspricht, die konkreten Arbeiten könnten als konkrete in der Substanz des Werts irgendwie aufbewahrt und damit auf gerechte Weise gegeneinander getauscht werden.
Gerhard Scheit
Zur politischen Ökonomie des Gegenhegemons
Was die deutsche Linke an Michael Hudson hat
Hudsons Begriff des Finanzimperialismus ist exakt so angelegt, dass mit ihm die Geschichte der deutschen Katastrophenpolitik vollständig camoufliert werden kann: Gerade sie erscheint als unmittelbares Resultat der US-Politik und der von ihr gedeckten »Parasiten« – und es entbehrt nicht der Logik, dass der Autor Deutschland heute umso nachdrücklicher anempfiehlt, aus dem System des US-Finanzimperialismus auszubrechen und das Bündnis mit dem Iran zu suchen. Kein Wunder also, dass Michael Hudson als amerikanischer Stargast zur diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin eingeladen wurde.
Gerhard Scheit
Primat der Außenpolitik und Gegenidentifikation
Ein imaginäres Gespräch (mit realen Fußnoten)
Die Identifikation mit der AfD oder der FPÖ, deren Aufstieg mit der Flüchtlingskrise der letzten Jahre erfolgte, kann solchermaßen keine Gegenidentifikation in der beschriebenen Bedeutung sein, insofern sich die rechtspopulistische Propaganda nicht nur gegen den Weltmarkt richtet, sondern zugleich gegen die hegemoniale Macht der USA; im besten Fall ist diese ihr gleichgültig wie jede außenpolitische Frage. (Darum ist es so unbeschreiblich dumm und grob fahrlässig, die AfD als die einzige konsequent israelsolidarische Partei zu bezeichnen; Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn eine solche Partei im Bundestag säße.) Der Grund, der in dieser Identifikation sichtbar wird, ist keiner, sondern Apotheose der nationalen Organisation von Arbeit oder anders gesagt: Wahn der Autarkie oder mit Fichte gesprochen: der geschlossene Handelsstaat. In diesem Sinn fordert Björn Höcke eine »raumorientierte« Wirtschaftspolitik beziehungsweise »wirtschaftssouveräne Staaten«, und möchte nur allzu gerne mit dem »Investitionsverbot raumfremden Kapitals« und dem »Migrationsverbot raumfremder Bevölkerungen« an Carl Schmitts »Interventionsverbot raumfremder Mächte« von 1939 anknüpfen. Vorbereitet wird diese Möchtegern-Katastrophenwirtschaftspolitik durch eine Art Verklärung des Rechtsstaats , die darauf beruht, ihn isoliert zu betrachten, wie um zu verdrängen, dass es diese vielen schönen Rechtsstaaten nicht mehr geben würde und weiter geben kann, ohne eine gleichfalls rechtsstaatlich verfasste, hegemoniale und das heißt eben: bis an die Zähne bewaffnete Macht. Deren Hegemonie resultiert aus ihrer beherrschenden Stellung auf dem Weltmarkt, gegen die der Wahn der Großräume sich zu erheben sucht. (Dieser Zusammenhang deutet sich im Übrigen schon bei Fichte selber an…: Er bezeichnet seine Schrift im Untertitel eben nicht umsonst als »Anhang der Rechtslehre«.)
Gerhard Scheit
Die Selbsterhaltung als springender Punkt
Zur Dialektik der Aufklärung
Selbsterhaltung klingt nicht von ungefähr nach Selbstgenügsamkeit und ärmlicher Subsistenz als dem Gegenteil eines Glücksversprechens, dessen bloße Voraussetzung hier bereits zum Zweck und Ziel hypostasiert würde, etwa nach dem Motto: Zum Glück kann ich mich ja noch selbst erhalten. Als Voraussetzung begriffen ist über sie nur wie über den Materialismus, also negativ zu sprechen – im Hinblick auf »Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung«. Ins Positive gewendet sedimentieren sich jedoch an ihrem Begriff wie in einem falschen Imperativ sofort auch die Formen, in denen die Individuen nach Maßgabe der Aufklärung leben und überleben sollen, als ob Unmündigkeit und Selbsterhaltung sich ausschließen würden: Du musst um deiner Mündigkeit willen dich selbst erhalten können, darfst von anderen nicht erhalten werden, Paraphrase auf das berüchtigte ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‹. Verselbständigt von den Individuen und auf die Nation übertragen lautet er auf den Namen Autarkie und richtet sich in der Krise gegen den Weltmarkt, dessen Zerfall in eine Vielzahl barbarischer Einheiten er vorantreibt und damit erst recht Heteronomie, und zwar in unmittelbarer Weise, hervorbringt. Aber nur hier, wo gerade die Frage der Form zur Debatte steht, hat auch der zentrale Gedanke der Dialektik der Aufklärung, dass Selbsterhaltung als Prinzip der Vernunft in Selbstvernichtung der Vernunft übergeht, seinen Sinn. Wo sie – wie in der aufklärerischen »Wendung aufs Subjekt« – ausgeklammert wird, führt er in das Dilemma, gegen die Selbstvernichtung sich dann doch auf das quasi natürliche Bedürfnis nach Selbsterhaltung als »ein drastisches egoistisches Interesse« berufen zu müssen.
Gerhard Scheit
Philosophie der Selbstentwaffnung: Von Emmanuel Lévinas zu Giorgio Agamben
(Theorie des Zionismus, Kritik des Antizionismus 2. Teil)
Allerdings hatte für das Rätsel, warum Heidegger und Schmitt so umstandslos an die Stelle von Marx und Engels treten konnten, bereits Gershom Scholem die Auflösung gegeben, noch ehe es sich stellte, indem er eben jene Ontologie als „deutschtümelnde Kabbalistik“ charakterisierte. Weder Scholem noch Adorno, der die geniale Assoziation aufgriff, haben deren Inhalt expliziert. Umso mehr sind es nun französische, italienische und amerikanische Intellektuelle, welche sich ostentativ auf die Traditionen des Judentums berufen, wie Derrida, Agamben und Butler, die das Aperçu auf ihre Weise wörtlich nehmen, um sich offenkundig oder indirekt mithilfe der Kabbalistik an die Existentialontologie zu assimilieren … Heidegger und Schmitt sind lediglich von ihrem Deutschtümeln zu befreien und schon hat man die zwei wichtigsten Kabbalisten der Gegenwart gewonnen. Anders als Lévinas in seiner frühen Kritik des Liberalismus sind Derrida und Agamben – mit Scholem gesprochen – ‚Sabbatianer‘ nach Auschwitz. So ersetzen sie auch das Angesicht des Anderen, dessen Verklärung zum „Ereignis des Seins“ Lévinas dem Sein zum Tode entgegensetzte, durch das nackte Leben, das gar kein „Von-Angesicht-zu-Angesicht“ mehr kennen kann. Ihre Philosophie ist unausgesprochen oder explizit vom Standpunkt des ‚Muselmanns‘ im Vernichtungslager aus entworfen: ‚Muselmann‘ war in der Lagersprache das Wort für den, der jeglichen Überlebenswillen verloren zu haben schien. Aber sie ist es nur zu dem Zweck, dass der ‚Muselmann‘ als Jude nicht mehr genannt werden soll.
Gerhard Scheit
Wechselseitiger Gebrauch der politischen Eigenschaften
Die Ehe zwischen Linksintellektuellen und Rechtspopulisten zum Zweck des Appeasements
Was als kritische Metapher gemeint ist, wird manchmal leibhaftige Realität. Schon seit längerem kann bildhaft von einer symbiotischen Ehe gesprochen werden, die Linksintellektuelle und Rechtspopulisten in Deutschland und Österreich führen, so sehr brauchen sie einander, um Aufmerksamkeit zu erregen, Publikum und Anhänger zu gewinnen.
Gerhard Scheit
Die Bewaffnung des Gestors: Von Theodor Herzl zu Vladimir Jabotinsky
Theorie des Zionismus, Kritik des Antizionismus 1. Teil
Diese Umorientierung auf den Hegemon des Westens zeichnete die weitere Entwicklung des Zionismus vor: Im Ersten Weltkrieg, mit dem der deutsche Kaiser, den Herzl einmal als Kaiser des Friedens hatte sehen wollen, die deutsche Katastrophenpolitik zu exekutieren begann, gründeten Vladimir Ze’ev Jabotinsky und Joseph Trumpeldor die »jüdische Legion«: eine militärische Truppe zu dem Zweck, auf der Seite der britischen Armee in Palästina zu kämpfen. So wenig Unterstützung diese Idee zunächst in zionistischen Kreisen fand, sie konnte dennoch realisiert werden, und das noch ehe es Chaim Weizmann gelang, die englische Regierung zur Balfour-Erklärung zu bewegen. Wie Herzl verstand sich Jabotinsky als Führer »fremder Geschäfte«, hatte unmittelbar »keinen Auftrag«, konnte die Zustimmung derer, die am Handeln gehindert wurden, »nur vermuten« und darauf hoffen, dass sich im Nachhinein die Wahrung ihrer Interessen zeigen werde. In diesem Sinn schrieb er schließlich rückblickend: »Zieht man bloß die Kriegsepoche in Betracht, so gebühren fünfzig Prozent des Verdienstes an der Balfour-Deklaration der Legion. Denn die Welt ist kein Freigut, Einzelpersonen gibt man keine Balfour-Deklaration, man gibt sie einer Bewegung« – und zwar einer, die zu den Waffen greift. Erst mit der Bewaffnung sollte die Anleihe bei der römischen Rechtsfigur des Gestors aufgehen, sodass der Zionismus das Erbe Machiavellis und Bodins, Hobbes’ und Spinozas anzutreten nicht mehr gehindert werden konnte.
Gerhard Scheit
»… auf Grund von Auschwitz«
Über Peter Szondi
»Für Celan war Auschwitz kein Thema.« Diese Notiz, die Peter Szondi im Disput mit dem Literaturkritiker und ehemaligen SS-Mann Hans Egon Holthusen machte, ist vielleicht der wichtigste Satz, der über Literatur und Kunst nach der Shoah geschrieben wurde. Sie legt klar, wie Szondis eigene Antwort auf Adornos berühmtes Diktum, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«, zu verstehen wäre. Diese Antwort lautete: »Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.« Es geht bei diesem »Grund« um die Form des Gedichts, nicht darum, ob Auschwitz das Thema ist. Das Diktum Adornos hingegen ist ein Urteil, das gerade von der Form absieht. Die Provokation resultiert daraus, dass es fast zum Missverständnis einlädt, das Urteil als kategorischen Imperativ zu lesen: Du sollst keine Gedichte mehr schreiben, weil es barbarisch ist, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. So haben es Celan und Kertész offenbar verstehen wollen und noch in ihrem Missverständnis und in ihrer Ablehnung auf seine Wahrheit verwiesen.
Gerhard Scheit
Vorbemerkung zum letzten Kapitel von Hans Mayers Außenseiter
Wenn in Mayers Außenseiter-Buch der Rassismus keinen eigenen Schwerpunkt erhält, obwohl doch die Literaturgeschichte dafür gleichfalls einiges Material geboten hätte, so liegt es eben an der Intention, statt eine gemeinsame Schnittmenge von Feindbildern zu konstruieren, vielmehr die Übergänge von einer Projektion zur anderen zu suchen. (An ihre Stelle ist heute in der Forschung eine Art Schubladensystem der Diskriminierungsformen getreten, zu dessen Handhabung inzwischen auch ein Leitfaden entwickelt wurde mit dem passenden, bürokratisch klingenden Namen Intersektionalität.) … In seiner Interpretation der letzten These der Elemente des Antisemitismus scheint Mayer zunächst zu der Auffassung zu gelangen, dass die Feindbilder in der Gegenwart, in der Epoche nach Auschwitz, nun wirklich austauschbar geworden seien und eine beliebige Minderheit an Stelle der Juden den wahnhaften Hass auf sich ziehen könnte. Indem er aber den Satz von Adorno und Horkheimer zu Ende denkt, wonach nicht erst das antisemitische Ticket antisemitisch sei, sondern die Ticketmentalität überhaupt, erkennt er schließlich, dass von Beliebigkeit dabei nur in einem einzigen Sinn gesprochen werden kann: Um welches Ticket es sich auch immer handeln mag, es wird sich zu gegebener Zeit des Judenhasses zu bedienen suchen.
Gerhard Scheit
Clemenza di Tito als Terror- und Flüchtlingsoper
Kleiner Rückblick auf den Welttheaterschwindel von 2017
So bietet sich diese Spätseria wie von selbst zur Parodie der Souveränität an. Die Theatermacher der neuesten Salzburger Barockproduktion dürften etwas davon gespürt haben, dass die Übertragung der Handlung auf die gegenwärtige Lage in Europa in die reine und bloß alberne Travestie abgleiten muss: La clemenza di Tito oder: Wir schaffen das! Doch nicht nur um eine etwas tragischere Atmosphäre zu erzeugen, montierten sie andere Kompositionen Mozarts in die Oper ein, sie wollten gerade damit auch eine Art Aura für den Gegensouverän schaffen, den die Inszenierung in Wirklichkeit hofiert: eine Passage aus der c-Moll-Messe bei der Bitte um Erbarmen für die Flüchtlinge; Adagio und Fuge c-moll zur Vorbereitung der Terroristen auf das Attentat; das Miserere aus der c-Moll-Messe als Klage muslimischer Männer und Frauen nach dem Terroranschlag (einige Wochen nach der Titus-Premiere in Salzburg marschierten rund 200 Muslime unter dem Motto »Wir sind Muslime, keine Terroristen« über die Ramblas in Barcelona, wo wenige Tage zuvor der Terroranschlag mit 13 Toten und über 120 Verletzten stattgefunden hatte). Zuletzt lässt der Regisseur den großmütigen Herrscher an den Folgen des Attentats sterben, während bei Mozart gerade sein Überleben das gute Ende garantiert. Genauer gesagt: Der Souverän dieses Regietheatereinfalls begeht Selbstmord, indem er sich die Schläuche der intensivmedizinischen Behandlung, die ihn seit dem Anschlag ans Krankenbett fesselt, vom Leib reißt.
Gerhard Scheit
Einheit im Widerspruch
Zur Kafka-Deutung von Günther Anders und Theodor W. Adorno
Anders schreibt selbstironisch zur Neuausgabe von 1982, dass er in Kafka pro und contra sein Urteil »auf dem Höhepunkt antifaschistischer Erregung« gefällt habe, »in einem Augenblick also, in dem es für Unsereinen kein Thema geben konnte, das außerhalb dieses Umkreises hätte liegen können«, und so habe er sich eingeredet, »in Kafka einen Feind zu entdecken«. weil ihm »jede Unterwürfigkeits- und Assimilationsneigung gegen den Strich ging«. Ob zu Recht oder Unrecht sei ihm »K.’s Lieblingsbeschäftigung, die mit seiner angeblichen Schuld« als »eine Art von negativem Narzißmus, als voluptas humilitatis, als Masochismus« erschienen.
Gerhard Scheit
Das Appeasement der Souveränisten
Geert Wilders in der Weltwoche
Wer das »Leben unserer Kinder und Enkelkinder ernst nehme«, müsse die Grenzen bewachen. Es verhält sich mit dem ganzen ausführlichen Gespräch der Weltwoche so, als gäbe es Außenpolitik gar nicht mehr. Das herbeibeschworene Leben unserer Kinder und Enkelkinder ist nur der emotionale Ausdruck davon, dass ab nun von den Optionen einer hegemonialen Außenpolitik im Sinne des Westens vollständig geschwiegen werden soll.
Gerhard Scheit
Zwei kleine Illustrationen zu Manfred Dahlmanns Was ist Wahrheit? als Miniaturen von Hobbes und Spinoza
Spinoza kennt, soweit er Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit des Staats bestimmt, keinen Imperativ in Hinblick auf die Lage der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft. Denn das wäre eine Fortsetzung der »Auserwählung«, Staat im Staate, worin er im Allgemeinen eine große, wenn nicht die größte Gefahr für den Staat und damit für die Vernunft sieht. Er ist so gesehen der Urvater der Assimilation. Und doch erkennt er in den Zeremonialgesetzen, vor allem in der Beschneidung nach jüdischem Ritus, etwas an, das selbst auf ein notwendig Politisches verweist, auf die Gründung eines neuen Staats der Juden, weil sich vielerorts zeigt, dass die Identifikation von Staat und Vernunft für die Lage der Juden in der Diaspora offenkundig keine unbedingte Geltung beanspruchen kann; weil die Staaten eben, je nachdem, wie groß die Vernunft in ihnen ist und welche Rolle jeweils die Affekte haben, sich unterscheiden und diese Unterschiede für die Situation der Juden ausschlaggebend sein können.
Gerhard Scheit
Plädoyer für das Wörtchen ›man‹
Das Generalpronomen man ist damit das Wort, das es im Deutschen ermöglicht, auch dieses »Ärmerwerden«, das beide Geschlechter betrifft, ganz allgemein zu bezeichnen und sei’s nur nebenher, gleichsam in den Obertönen eines Satzes. Sein kritischer Gebrauch, so indirekt er auch sein mag, setzt aber voraus, dass zugleich der Subjektbegriff nicht preisgegeben wird; gerade er darf mit dem man nicht zusammenfallen. Sonst mündet das Wort wie von allein in den Holzweg der Heideggerschen Ontologie. Nicht von ungefähr findet es sich hier großgeschrieben, mit ihm wird der Subjektbegriff denunziert, es wird als Pejorativum abschätzig an dessen Stelle gerückt und zielt eben darin zugleich auf die Vernunft der Aufklärung, die vom Gedanken der Selbsterhaltung bestimmt ist.
Gerhard Scheit
»Völlige Vernichtung der Sexualität«
Otto Weininger zwischen Wagner und Freud – unter besonderer Berücksichtigung der Parsifal-Partitur
Für die Rezeption von Geschlecht und Charakter sollte es sich als entscheidend erweisen, ob die Identifizierung von Judentum und Weiblichkeit in dem Punkt, dass der Jude wie das Weib kein Ich hätte, übernommen wurde oder nicht. Freud hat gerade sie durchschaut, indem er die Bedeutung des Kastrationskomplexes herausstrich, und damit die Projektion selbst nach beiden Seiten hin aufgelöst. So konnte er aus der Idee der Bisexualität etwas ganz anderes entwickeln: eine Theorie der Sexualentwicklung. Karl Kraus wiederum, der dem jüdischen Antisemitismus von Weininger an einigen Stellen Konzessionen machte, hat die philosophische Gleichsetzung von Judentum und Weiblichkeit zurückgewiesen – sozusagen ohne sie psychologisch zu durchschauen: Er übernimmt Weiningers Auffassung, dass die Frau kein Ich habe, um die Sexualmoral der Männer, das »sexuelle Tirolertum«, die »Metaphysik der Schweißfüße«, bloßzulegen. Beide, Freud und Kraus, widersprechen Weininger aber an derselben Stelle: dort, wo in Geschlecht und Charakter die Natur als Nichts gilt; wo sie wie im letzten Akt des Parsifal vernichtet werden soll.
Gerhard Scheit
Die Frage der Hegemonie und die Resistenzkraft des Rechts
Oder: Warum die Kritik des Erdogan-Regimes wie jede Kritik auf Horkheimers Racket-Begriff nicht verzichten kann
Die Revidierung des einstmaligen Appeasements dank Churchills und Roosevelts Engagement, die – blickt man auf die damalige Entwicklung der Produktion in den USA – neue ökonomische Tatsachen schaffen konnte, ist gewissermaßen in Horkheimers Rekurs auf den philosophischen Idealismus, in die unabdingbare Spekulation auf die Versöhnung des Allgemeinen und Einzelnen, eingegangen. Doch der Rekurs, der es Horkheimer erlaubte, von der Resistenzkraft des Rechts überhaupt zu sprechen, erfolgte und konnte nur erfolgen vor dem Hintergrund der finstersten Prophezeiungen der Kritischen Theorie über die weltweite Durchsetzung der Rackets gegenüber allen rechtsstaatlichen Mechanismen – auch denen der USA. Und diese Prophezeiungen sind gleichfalls darin begründet, dass es sich eben um Mechanismen handelt, um Vermittlungsformen, deren Notwendigkeit – Zwangsgewalt und Gewaltmonopol immer vorausgesetzt – unabhängig vom Bewusstsein so wenig existiert, wie der sich selbst verwertende Wert, dem das Bewusstsein im Unterschied zum Recht blind zu folgen hat, auch nur ein Atom Naturstoff enthält. Darum ist es die natürlichste Sache von dieser Welt, dass die entsprechenden Rackets, die sich die Staatsgewalt aneignen, in und mit rechtsstaatlichen Methoden, die sie aus irgendwelchen Rücksichten noch beibehalten, darauf hinarbeiten können, diese selbst abzuschaffen, setzt aber im Individuum die Bereitschaft voraus, das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das es dem Recht verdankt, zugunsten einer subjektlosen Gemeinschaft preiszugeben, als deren ›Objekt‹ nur noch der »totale Feind« (Carl Schmitt) gelten kann.
Die Hoffnung zu enttäuschen, dass es in den Händen der Akteure auf den Märkten und in den Staatsapparaten läge, die Verwertung des Werts der Vernunft zu unterwerfen und das Irrationale an der Rationalität des Rechts zu bannen, gilt seit Marx zwar als der vornehmste Zweck der Kritik der politischen Ökonomie. Seit Auschwitz kommt als praktischer Imperativ aber die Aufgabe hinzu, diesen Zweck ebenso als Mittel zu betrachten, jeder Verharmlosung dessen, was droht, zu widersprechen – nicht zuletzt, wenn sie sich auf die Resistenzkraft des Rechts berufen zu können glaubt. Umso infamer ist es, von Souveränität als einer Maschine zu salbadern, die als solche das Schlimmste verhindern könne.
Gerhard Scheit
Anmerkung zu Moishe Postones Kritik an Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem
Moishe Postones Kritik an dem Buch Eichmann in Jerusalem lautet, dass Hannah Arendt hier (wie schon in ihrer Studie über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) die Antinomie zwischen Universalität und Besonderheit nicht aufgelöst habe: Ihr Konzept des Allgemeinen bleibe »abstrakt«, es erwachse nicht aus einer Betrachtung der »Besonderheit« oder »Spezifität« des Holocaust. Daraus resultiere bei ihr letztlich das haltlose Urteil über die Judenräte ebenso wie ihre Vermischung der eigenen Hoffnung in die Schaffung rechtlicher und politischer Institutionen, die auf einer neuen Kategorie der Menschheit beruhten, mit bestehenden rechtlichen Normen – und diese Vermischung geht natürlich zu Lasten des Staates Israel. Damit werde die Überlegung, in welchem Maß die juristische Form allein eine adäquate Reaktion auf solch ein erschütterndes historisches Ereignis konstituieren könnte, ausgeklammert.
Gerhard Scheit
Die Philosophie der Abschreckung und die Dialektik der Aufklärung
Über André Glucksmann 1927–2015
So gilt auch für Glucksmann, was für die konsequentesten der neokonservativen Denker kennzeichnend ist: In der Rückwendung zur antiken Philosophie wird der Ausweg aus den Aporien der Aufklärung gesehen, der aber letztlich nur noch tiefer in sie hineinführt. Das lässt sich auf unterschiedliche Weise an Leo Strauss wie an Eric Voegelin und Hannah Arendt zeigen. Bei Glucksmann aber nahm dieses Dilemma besonders grelle Formen deshalb an, weil er – in Sartrescher Tradition – unter allen Umständen am politischen Engagement festhalten wollte, worin freilich auch das Wahrheitsmoment liegt, dass es nach Auschwitz kein Denken mehr geben kann, dass »der Parteinahme zu den Umtrieben der Welt« (Glucksmann) sich enthielte. … Wer wissen möchte, woher bei Richard Herzinger die Schärfe seines Urteilsvermögens wie auch die Dumpfheit seiner Ressentiments kommen, lese die Bücher von André Glucksmann.
Gerhard Scheit
Flüchtlingsmonopoly und Israelsolidarität
Angenommen Jürgen Elsässers Magazin für Souveränität namens Compact würde für Souveränität nicht deshalb eintreten, weil man sich selber als »Maschinengewehr der Volkssouveränität« begreift und eben damit das deutsche Volk von den »räudigsten Elementen« der anstürmenden syrischen Horden der »Scheinasylanten« reinhalten will, sondern weil man sich durchaus für einen Staat im westlichen, liberalen und säkularen Sinn engagiert und insbesondere für die deutschen und europäischen Juden eintritt und sie vor muslimischen Antisemiten unter den Asylbewerbern zu schützen gedenkt. Dann hieße es eben nicht: »Sie bespucken und verhöhnen Euch, sie vergewaltigen unsere Frauen, sie wollen unseren Wohlstand, unser ganzes Land« und für diesen Zustand sei eine»antideutsche Regierung« verantwortlich – sondern der Protest gegen die Demontage der Souveränität wäre selbst antideutsch motiviert, insofern er sich immerhin auf Franz Neumann und Hannah Arendt stützen könnte, die den Nationalsozialismus als im weitesten Sinn staatsfeindliche, Souveränität und Gewaltmonopol auflösende Bewegung begriffen haben.Und solange dabei Juden, die bedroht werden und deren Bedrohung es abzuwehren gilt, wenigstens nicht als ›unsere Juden‹ bezeichnet werden, ist eine solche Verteidigung der Souveränität in Deutschland und Europa gewiss etwas anderes als die bloße Ergänzung von Elsässers Blog und Straches Rhetorik. Soweit aber die Souveränität des eigenen Landes zur Priorität gemacht wird, gibt es zumindest an einem Punkt Übereinstimmung mit jenen selbsternannten Maschinengewehren des Volks, und dieser Punkt drückt sich in der oft zu hörenden und vielfach variierten Forderung aus, die als die harmloseste erscheint, aber ganz der Stammtisch-Atmosphäre entspricht: Wer sich nicht an die Spielregeln hält,der soll nicht hereinkommen beziehungsweise abgeschoben werden. Schon die Vorstellung, es ginge um Spielregeln, zeigt nicht nur an, dass man keinen Begriff vom Elend hat und haben will (und auch nicht davon, wie es zur aktuellen Situation überhaupt kam), vor allem anderen schlägt sich darin nieder, wie ernst man eigentlich nimmt, was man verteidigen möchte, sobald nur endlich der jeweilige Souverän zum Ich geworden ist, das alle Vorstellungen muss begleiten können.
Gerhard Scheit
Von Hitlers willigen Vollstreckern zum Holocaust des Klimawandels
Kleine Nachbemerkung zu 20 Jahren Goldhagen-Debatte
Universalismus, Wissenschaft und Vernunft, die Snyder vor Hitler und Adorno retten möchte, kennen bei ihm nur eine Bestimmung und Grundlage: die Herrschaft des Staats. Damit hängt zusammen, dass es dem Zionismus bei Snyder kaum anders ergeht als der Kritischen Theorie. Er sieht sich zwar gezwungen, den Zionisten irgendwie zuzustimmen und anzuerkennen, »dass die Juden staatlichen Schutz benötigten«. Und wenn er im letzten Kapitel die Klimakatastrophe als Menetekel an die Wand malt, so nimmt er sogar etwas davon wahr, dass die Bedrohung, der sich der jüdische Staat heute ausgesetzt sieht, staatlicher Einheit in gewisser Weise spottet, obwohl er gerade dies viel zu wenig ausführt: Er kann nämlich die Gefahr nicht verschweigen, dass die Muslime »wie Hitler« die Juden für alle diese möglichen Umweltkatastrophen schließlich verantwortlich machen »könnten«. Aber mit einem einzigen Satz wendet er seine umweltbewusste Kritik der Weltverschwörungstheorie selber gegen jene, die ihr als Feindbild dienen: »Natürlich könnten die Israelis ihrerseits die Muslime für all das verantwortlich machen und versuchen, ihre amerikanischen Verbündeten in einen größeren Konflikt hineinzuziehen.« Nach dieser Volte bleibt nur noch die Aufgabe darzulegen, in welchem Maß die amerikanischen Verbündeten selbst dazu bereit sind – und hier zeigt sich Snyders Buch vom Herbst 2015 als Teil des beginnenden amerikanischen Wahlkampfs …
Gerhard Scheit
Sie sollen die Scham überleben
Versuch über Kafkas späte Tier-Monologe
Es berührt das innerste Vermögen von Kafkas Erzählkunst, dass der Monolog des Tieres im »Bau« als Verkörperung des Leviathan sich zwar erschließt, doch einer solchen Deutung zugleich etwas entgegensetzt. Dieser Widerspruch verdankt sich – wie der Überschuss an Bedeutung bei den »Forschungen eines Hundes« und »Josefine, der Sängerin« – der Unmittelbarkeit, die eben mit der Vorstellung evoziert wird, ein Tier würde plötzlich sprechen. Dessen Vereinzelung bestimmt im Bau so sehr die Form seiner Rede, dass der Gedanke, es könnte im Wahn des Selbstopfers, im Hirngespinst von Blut und Boden wirklich Ruhe finden, als der absurdeste des ganzen Textes erscheinen muss. Das in Aussicht genommene Opfer verbindet es so wenig wie sein Blut mit irgendeinem anderen Wesen. Der Ausweg in den Wahn, der sich politisch immer dort eröffnet, wo Leviathan zu zerfallen droht, ist ihm versperrt, weil dieser Wahn, der kein medizinisch fassbarer ist, nur als einer des Kollektivs, in der unmittelbaren Identifikation mit der absolut gesetzten Gemeinschaft, die an die Stelle des Leviathan treten soll, funktionieren kann. So wird diese Kreatur der Vereinzelung wieder zurückgestoßen in den circulus vitiosus seiner Angstphantasien, einer Paranoia, die durchaus ihre guten Gründe hat: Niemand wird daran zweifeln, dass seine Vereinzelung eine auf Leben und Tod ist. … Walter Benjamin schrieb, dass bei Kafka die Tiere am meisten zum Nachdenken kämen. Was die Korruption im Recht sei, das sei in ihrem Denken die Angst. »Sie verpfuscht den Vorgang und ist doch das einzig Hoffnungsvolle in ihm.« Die Angst schließt aus, dass es mit ihnen jemals soweit kommt wie mit Josef K. Doch für das Tier im Bau verkehrt sich das einzig Hoffnungsvolle dennoch in ein einziges Grauen, in dessen Atmosphäre der Text mitten im Satz »aber alles blieb unverändert« abbricht: »aber alles blieb unverändert, das«.
Gerhard Scheit
Das Verschwinden des Souveräns im Ausnahmezustand
Über Walter Benjamins immanente Kritik an Carl Schmitts politischer Theologie – vom Trauerspiel-Buch bis zu den Thesen »Über den Begriff der Geschichte«
Am Trauerspiel zeigt Benjamin die »Entschlußunfähigkeit des Tyrannen«: »Der Fürst, bei dem die Entscheidung über den Ausnahmezustand ruht, erweist in der erstbesten Situation, daß ein Entschluß ihm fast unmöglich ist.« Fällt er doch, so macht ihn gerade seine völlige Unabhängigkeit von normativen Orientierungen und Rückbindungen an das Recht abhängig von der »Willkür eines jederzeit umschlagenden Affektsturms«. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, aber in der Frage, wie die Entscheidung zustande komme, tritt der Widerspruch hervor: bei Carl Schmitt ist es das Nichts, das den Ausschlag gibt; bei Benjamin jedoch kommt gerade darin das beständig Verleugnete, mühsam Unterdrückte wieder zur Geltung: Resurrektion der Natur im Wahnsinn der Politik: »Nicht Gedanken, sondern schwankende physische Impulse bestimmen« den Souverän: »Zuletzt tritt der Wahnsinn ein«.
In diesem Zusammenhang steht bei Benjamin auch die Wendung der Trauerspieldichter zur Geschichte des Ostens, zu den Herrschaftsformen des Sultanats und des byzantinischen Kaisertums: Die Faszination, die für sie von den Quellen dieser Geschichte ausgegangen sei, habe sich sukzessive gesteigert: »Denn je mehr gegen den Ausgang des Barock der Tyrann des Trauerspiels zu einer Charge wurde, die ein nicht unrühmliches Ende in Stranitzkys wiener Possentheater fand, desto brauchbarer erwiesen sich die von Untaten strotzenden Chroniken Ostroms.«
Gerhard Scheit
Jüdischer Israelhass?
Was sie dabei antreibt, spricht Judith Butler selber indirekt an, wenn sie ihr Verhältnis zu den nichtjüdischen Aktivisten beschreibt, die gegen Israel mobilisieren. Während einstmals Arthur Trebitsch alles tat, um nicht mit dem Judentum identifiziert zu werden, beschäftigt sie wohl die Angst, in den Augen der anderen Linken mit Israel identifiziert zu werden, weil sie jüdischer Herkunft ist. Von dieser Linken geht offenbar ein stets wachsender Druck aus, dem Butler immer mehr nachgegeben hat, wie sich an ihren Publikationen seit Ende 1990er Jahre ablesen lässt. Mittlerweile avancierte sie dank dieser Anpassungsleistung zur Gallionsfigur etwa der BDS-Bewegung, denn niemand kann diese Bewegung, welche die Zerstörung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hat, unverdächtiger repräsentieren als eine Jüdin. Anders als Trebitsch, der ein Außenseiter und Desperado blieb und der außer in kleinen Kreisen kaum ernst genommen wurde, kann Butler als Israelkritikerin ihre Karriere, die sie mit der Versenkung feministischen Engagements im Gender Trouble begonnen hatte, bruchlos fortsetzen.
Gerhard Scheit
Der blinde Fleck der Kritischen Theorie und der Primat der Außenpolitik
Jede ungelöste Verdrängung beim Analytiker entspricht, so lautet die Freudsche Selbstreflexion, einem ›blinden Fleck‹ in seiner analytischen Wahrnehmung. Kann nun in jenem übertragenen Sinn von einer Verdrängung der Gewalt als dem Kern des Ideologischen gesprochen werden, zeichnet sich die Kritische Theorie von Adorno und Horkheimer auch und gerade in diesem Fall dadurch aus, dass sie der blinde Fleck, den sie selbst in der Wahrnehmung ihrer Kritik besaß, nicht ruhen ließ, ehe sie die ihm entsprechende Verdrängung auflösen konnte. Das zeigt sich nicht zuletzt an ihren Überlegungen zum Zionismus.
Es gehört nun zu den merkwürdigsten geistigen Erfahrungen der Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Kriegs, dass diese fast beiläufig, meist in privaten Briefen und in Notizen gemachten Überlegungen zum Dreh- und Angelpunkt jeder Kritik des Politischen geworden sind, die den kategorischen Imperativ nach Auschwitz ernst nimmt: Sie nötigen zu einem »Primat der Außenpolitik« (Leo Strauss), der nichts mit der Dominanz des Politischen übers Ökonomische zu tun hat, die der deutschen und, versteckt, der deutsch-europäischen Ideologie eignet, aber alles mit jenem Imperativ. Zwar hat das Institut für Sozialforschung in ihrem Engagement für den US-amerikanischen Souverän im Zweiten Weltkrieg längst vorgeführt, wie ein solcher Primat zu setzen ist, doch beinhaltet die Parteinahme für Israel zugleich etwas wesentlich Anderes, denn sie gilt keiner Macht, die wie die USA Welthegemon sein oder werden kann, sie gilt einem Staat, der gegründet worden ist, weil eben keine hegemoniale Macht unter den Staaten jene Vernichtung um ihrer selbst willen verhindern kann, die der Krise des Kapitals entspringt und immer derselben Projektion eines »totalen Feinds« folgt.
Gerhard Scheit
Je suis Charlie oder Wir sind das Volk
Michel Houellebecqs Unterwerfung und die Großkundgebungen von Leviathan und Behemoth
Allerdings weist in der Form der Darstellung nichts darauf hin, dass mit der neuen Herrschaft unter Ben Abbes keineswegs der Islam selbst gemeint sein kann, sondern die Art und Weise, wie sich die Wunschphantasien europäischer Bürger eine erfolgreiche Politik vorstellen – und insofern sitzt der Roman selbst diesen Illusionen auch auf. Gerade seine Stärken, die in der Demonstration der Freiwilligkeit der Unterwerfung liegen, erweisen sich als Schwächen, wenn es um die Frage der Gewalt geht. Houellebecq zeigt eine Gesellschaft, für die der Islam die grausame Praxis der Sharia gar nicht nötig hätte, nur fehlt in seinem Roman gerade die Faszination, die in Wirklichkeit der Freiwilligkeit zu Grunde liegt: die Sehnsucht in jedem Bürger, die äußere Krise und die inneren Widersprüche durch unmittelbaren Zwang und eine, von keinem abstrakten Recht gebremste Gewalt zu bewältigen – und darin liegt wohl auch die eigentliche Ursache, warum gerade das deutsche Feuilleton für den neuen Roman sich so begeistern konnte.
Gerhard Scheit
Nach Kafka
Imre Kertész’ negative Ästhetik
Auch die Helden Kafkas suchen mit allen Mitteln, ihre Vorstellungen von einer rationalen Ordnung der Welt sich zu bewahren, aber bei Kertész ist damit einerseits die Naivität eines Vierzehnjährigen gestaltet, andererseits – und hier liegt die fundamentale Differenz zu Kafkas Welt – weiß jeder, der diesen Bericht liest, immer mehr als das Ich des Schicksallosen, kennt von Anfang an den Weg in die Vernichtung, über den dieses Ich sich keine Klarheit verschaffen kann und will. Das Naive wird derart gesteigert, dass ein Bewusstsein imaginiert wird, das nur noch aus Verdrängung der Gewalt, die es fortwährend erfährt, zu bestehen scheint.
Gerhard Scheit
Boycott, Divestment, Sanctions
Der Weltsouverän als BDS-Aktivist
Vor Auschwitz sprach man von der Lösung der Judenfrage, nach Auschwitz spricht man von der Lösung des Nahostkonflikts. Die Feinde Israels haben jetzt für diese Lösung zusätzlich eine neue Strategie entwickelt: Zu der ›Zwei-Staaten-Lösung‹ gesellt sich die des ›One Democratic State‹. Israel soll gezwungen werden, sich selbst zu zerstören, seinen besonderen Status aufzugeben, der Staat aller vom Antisemitismus Verfolgten zu sein, und das Law of Return von 1950, das erste Gesetz Israels, das Gesetz, das jedem Juden und jeder Jüdin das Recht gewährt, nach Israel zu kommen, zurückzunehmen – indem es nun das Rückkehrrecht der palästinensischen Araber miteinschließen soll.
Gerhard Scheit
Über die Wut, die sich als Demut gefällt, und den Zorn, der zur Kritik gehört
Die Wut ist also nur der Selbsthass oder die Selbstverleugnung des Subjekts (das man schon in marxistischer Tradition auf das bürgerliche festzulegen pflegte). Sie findet sich darum nicht selten als Demut vergoldet. Und an die Stelle der Kritik tritt das bloße Distinktionsbedürfnis, dem die deutsche Linke – vor deren unbegrenzten Zumutungen es einen ekeln muss, selbst wenn man ihre Ideologie zu kritisieren nicht mehr imstande ist – ausreichend und unablässig Nahrung bietet.
Gerhard Scheit
Euromaidan und Khamenei-Putin-Pakt
Die Lage der Juden in der Ukraine ist nicht minder symptomatisch: Während sie sich im Land dem nationalistischen Fanatismus beider Seiten ausgesetzt sehen und zum Glück durch Sicherheitsexperten aus Israel für ihre Selbstverteidigung geschult werden sowie emergency assistance von der Jewish Agency erhalten, hat Israel selbst zu gewärtigen, dass der Konflikt die Position des Regimes im Iran stärken kann, dem Putins Staat nach dem Motto ›Der Feind meines Feindes…‹ näher denn je zu rücken droht, und auf diese Weise gewinnt Teheran den Vorteil, Russland gegen die EU noch besser auszuspielen, falls das überhaupt nötig sein sollte.
Gerhard Scheit
Die Substanz und der Leib
Über die Realabstraktion namens Arbeitskraft
In vollem Bewusstsein der philosophischen Tradition hat Karl Marx den Begriff der Substanz für den Wert gebraucht – aber mit derselben versteckten und kaum auszulotenden Ironie, mit der im Kapital vom »automatischen Subjekt« gesprochen wird. Abstrakte Arbeit, also gleiche menschliche Arbeit, Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft, bilde »die Substanz des Werts«. Substanz ist jedoch, was causa sui, Ursache seiner selbst ist, und nur so sich in seinen Attributen begreifen lässt. Marx sagt also wohlgemerkt nicht, abstrakte Arbeit bilde den Inhalt des Werts: es geht offenkundig um eine Form, die sich per se der Form-Inhalt-Dialektik nicht erschließt; die nur jenseits des Inhalts auf den Begriff zu bringen wäre. Das ist der Substanzbegriff, wie ihn Marx einführt, um die Logik Hegels, deren er sich so ausgiebig bedient hat, schließlich doch zu sprengen.
Gerhard Scheit
Die Misere von Herzinger & Posener: proisraelische Staatsräson, antiisraelische EU-Politik
Ein Neokonservativer, sagte Irving Kristol einmal, sei ein Liberaler, »who has been mugged by reality«. Dem Welt-Journalisten scheint etwas von dieser Realität im mugging fanatisierter Nichtraucher zu dämmern. Nicht zufällig aber schließt Herzinger seine scharfe Polemik gegen die »Gesundheitsmenschen« mit der biederen Pointe, es könne noch so weit kommen, dass »selbst das lebende Denkmal Helmut Schmidt … bald seine letzte Mentholzigarette ausdrücken muss«. Und nicht zufällig beginnt er seine im Übrigen ganz richtige Beurteilung von Obamas Politik nach dem syrischen Giftgaseinsatz vom 21. August 2013 wie ein Kabarettprogramm: »Barack Obama ist als Tiger gesprungen und landet als Bettvorleger.« In Deutschland und Österreich ernsthaft neokonservativ zu sein, ist mit einiger Konsequenz eben doch nur in der Gestalt des Humoristen möglich.
Gerhard Scheit
Verdrängung der Gewalt, Engagement gegen den Tod (Teil II)
Kojèves Vorlesungen über Hegel versuchten nichts anderes, als eben die Verdrängung der Gewalt zurückzunehmen – durch Rekurs auf das Herr-Knecht-Kapitel der Phänomenologie des Geistes. An die Stelle der Gemeinschaft, als Vernichtung um ihrer selbst willen, setzte er die Vernichtung der Herren durch die Knechte im Endkampf, welcher freilich kein Ende macht mit dem Sein zum Tode, mit der Herrschaft selber. Wenn der Knecht das Element des gewaltsamen Todes in sich aufgenommen und den Herrn vernichtet hat, tritt wohl ein Zustand ein, der sich nur noch mit Heideggerschen Kategorien beschreiben lässt, wovor aber Kojève aus irgendeiner Intuition heraus zurückschreckt. Sein zum Tode findet sich in seiner Hegel-Lektüre als gewaltsamer Tod jedenfalls nur scheinbar politisch konkretisiert, der Akzent wird auch bei ihm bloß darum auf tödliche Gewalt gelegt, damit von der Form der Herrschaft, der die Drohung mit ihr zugrunde liegt, abstrahiert werden kann.
Gerhard Scheit
Allegorien der Nation: Hannah Arendt und Zero Dark Thirty
Übrigens sollte Rosa Luxemburg eigentlich von Rainer Werner Fassbinder verfilmt werden, jenem Regisseur, der die Tradition der Opferverklärung im deutschen Film, wenn nicht begründet, so doch wesentlich erneuert hatte. Nach seinem Tod erwies sich Margarethe von Trotta als die geeignete Fortführerin seines Werks. Sie hat das Exzentrische getilgt und Fassbinders Idée fixe dem Fernsehformat angepasst, sodass sie auch als Lehrmaterial für die Schulen taugt. Zugleich reinigte sie den deutschen Film von jenem kruden Antisemitismus, wie er eben Fassbinders Filme kennzeichnet, indem sie ihn nämlich auf eine neue Ebene hob: War es bei Fassbinder in der Regel eine Deutsche, die von Juden gepeinigt oder im Stich gelassen wurde, so ist es nun in Hannah Arendt eine Jüdin, die von der Israel-Lobby und vom Mossad verfolgt wird.
Gerhard Scheit
Universalismus des Rechts und Partikularität der Zirkumzision
Traktat über die Religionsfreiheit
Die Dialektik der Aufklärung hat nichts an Aktualität eingebüßt. Die Vernunft, die davon abstrahiert, dass sie auf Ausbeutung beruht, nur weil diese Ausbeutung auf die Grundlage von Verträgen gestellt worden ist und durch das universelle Recht hindurch erfolgt, will ihr Misslingen nicht zugeben, das ihr die perennierende, das Partikulare besetzende Unvernunft vor Augen führt – und wird selbst zur universellen Unvernunft, zum Antisemitismus.
Gerhard Scheit
Eine Anmerkung zu Sartres Engagement-Begriff
Dient Parteinahme nur dem Distinktionsgewinn, ist sie so oder so bloß eine Laune und verschwindet, wenn dieser Gewinn nicht mehr winkt. Wie sollte es da verwundern, dass sie ihr Verhältnis zu materialistischer Kritik, das heißt: die Subjekt-Objekt-Beziehung, nicht reflektiert. So jedenfalls scheint Engagement wie ein plötzlich auffahrender, pathetisch gewordener Strukturalismus, als Dramatisierung von ohnehin determinierenden, objektiven Strukturen. Hat sich dann die Prophezeiung des solchermaßen Engagierten wieder einmal erfüllt, kommt sich der Prophet überflüssig vor: Er weiß sich in seinem Extremismus überholt von der Wirklichkeit, über sich nicht selten – nach neuem Distinktionsgewinn Ausschau haltend – in Demut vor ihr und verurteilt, als sei er nie dabei gewesen, die Dramatisierung als Alarmismus.
Gerhard Scheit
»… ihr habt den Tod gehasst«
Claude Lanzmann und die Kritik der politischen Gewalt – mit einem Exkurs über Jean-Luc Godard
Hegel bejaht die Herrschaft, soweit er, wie in der Phänomenologie, das Opfer als Voraussetzung des Geistes fetischisiert. Gegen diesen Krieg des Bewusstseins beruft sich Lanzmann auf seine »Brüder« aus den Sonderkommandos von Treblinka, auf das Leben, das er nicht anders als durch Hass auf den Tod bestimmt wissen will. Das prägt seine Methode des Filmemachens, die das Potential dieser Kunst geradezu neu entdeckt: Es gibt darin kein übergeordnetes, gottgleiches episches Subjekt, das losgelöst von den Erfahrungen der einzelnen Individuen als ein »außer der Welt hockendes Wesen« (Marx), etwa als neutrale Stimme eines Kommentators aus dem Off, die Vergangenheit Revue passieren lässt. Was immer auch erzählt wird, bleibt an die leibliche Präsenz des Erzählenden unaufhebbar gebunden, auch wenn seine Stimme aus dem Off kommt.
Gerhard Scheit
Die wirkliche Herrschaftsstruktur in Europa und der Rechts-Linkspopulismus
So sehr der permanente Raubzug, der im Tausch vor sich geht, und damit die fortwährende Ungerechtigkeit, die im Recht ihre Stütze hat, auch unmittelbar am eigenen Leib erfahren werden, so sicher jeder insgeheim weiß, dass sie es sind, die alles zuinnerst bestimmen und so evident es ist, dass der durch sie lukrierte, größere Anteil an der Mehrwertmasse ein, was die elementarsten Dinge betrifft, besseres Leben bedeutet – sie können an ihren unmittelbaren Erscheinungsformen politisch keineswegs dingfest gemacht werden, diese Unmöglichkeit gehört zur Totalität unabsehbar vermittelter Herrschaft. Der Charakter des Ausbeuters verschwindet notwendig in der Erkenntnis, dass er nur eine Charaktermaske der Ausbeutung ist, so wie umgekehrt der objektiv Ausgebeutete zugleich in seiner wie auch immer formellen Eigenschaft als Warenbesitzer und Staatsbürger ebenso objektiv auf der Seite der Ausbeuter steht – wobei jener Eigenschaft gerade im Zeitalter exorbitanter Rentenfonds und Staatsanleihen neues, inhaltliches Gewicht zuwächst. Das immer erbitterter werdende Interesse an einem starken Euro, das sich in allen Schichten der europäischen Bevölkerung zeigt, ist nun allerdings ein ganz besonderes Symptom dieses Zusammenhangs, weil es mit der ebenfalls wachsenden, inneren Abwehr eines gemeinsamen europäischen Staats einhergeht.
Gerhard Scheit
Verdrängung der Gewalt, Engagement gegen den Tod
Das Existentialurteil über das Ganze, das unwahr ist, weil es auf Gewalt beruht und Ausbeutung beinhaltet, und der kategorische Imperativ nach Auschwitz – wahrer Begriff von Widerstand und Engagement –, der die Freiheit als Unableitbares voraussetzt und die Anwendung von Gewalt einschließt, sind demgemäß aufeinander zu beziehen. Allein auf diese Weise ist Adornos Kritik zu entfalten. Erst wenn jenem Urteil aus Freiheit Genüge getan wäre, könnte auch die Gewalt als kategorisch geforderte überflüssig werden, so wie sie umgekehrt als Einheit des Ganzen, das heißt: vom Kapitalverhältnis erzwungene, dazu da ist, die Überflüssigkeit des Individuums, die durch die Ausbeutung bedingt wird, stets aufs Neue zu exekutieren – und zwar immer an jenen Individuen, die als Verkörperung der Ausbeutung imaginiert werden.