Florian Ruttner
Wiederkehr des Immergleichen im Antisemitismus – erläutert am Beispiel eines Antizionisten der ČSSR
Gegen diese Einsichten fährt Kolár die auch im Oktober 2023 wieder beliebt gewordene Argumentationsstrategie, quasi mit dem Hinweis, dass all die Vernichtungsdrohungen (wenn Kolár sie nicht überhaupt leugnet beziehungsweise herunterspielt) ja nicht im Vakuum entstanden seien, diese in einen größeren Kontext gestellt werden müssen, hier den eines auf einen billigen Ökonomismus heruntergebrochenen Imperialismus. Denn es gehe »in Wirklichkeit nicht um einen Konflikt des kleinen, schwachen Israels mit zwei Millionen Einwohnern mit der starken arabischen Welt von 80 Millionen, sondern um den Konflikt der industriell nicht entwickelten arabischen Länder mit den am meisten industrialisierten und reichsten imperialistischen Mächten.« Israel würde da zwar einerseits nur eine Nebenrolle spielen, aber eben unter mächtigem Schutz stehen. Folglich, so dreht Kolár das Argument um und vertauscht wieder Täter und Opfer, erinnere – mit Blick auf die Vergangenheit – »Israel deshalb nicht an die Tschechoslowakei im Jahre 1938, sondern weit eher an die Sudetendeutschen dieser Zeit. Die wurden auch der Welt als ungeschützte verfolgte Minderheit vorgestellt, in Wirklichkeit aber hatten sie das starke nazistische Deutschland im Rücken.« Offenbar war Kolár durchaus bewusst, wie skandalös sein Vergleich war, denn schon im nächsten Satz betonte er, diesen gar nicht gezogen zu haben, er wolle »damit klarerweise kein Gleichheitszeichen zwischen die nazistischen Sudetendeutschen und die Israelis setzten«. Es folgt aber keine Erklärung, warum er das, was er doch gerade getan hat, doch nicht getan hat, sondern ein Hinweis, auf den sich bis heute alle, die gerne kontextualisieren und die vom horror vacui geplagt sind, einigen können: »Die Israelis gerieten selbst durch die Politik ihrer Regierung in diese nicht beneidenswerte Lage der Verbündeten des Imperialismus gegen den weltweiten Fortschritt.« Die Juden sind selbst schuld, und damit ist wohl das zentrale durchgängige Motiv jeglichen Antisemitismus auf den Punkt gebracht.
Florian Ruttner
Adorno und die sekundären Banausen
Einige Vorbemerkungen zu Adornos Vortrag Laienkunst – organisierte Banausie?
Auch wenn sich Adorno sehr offensiv gegen den Vorwurf des Bildungsdünkels wehrte, sogar gleich zu Beginn eine ›declaration of intention‹ formulierte, sollte hier dann doch genau dieser Vorwurf wiederkehren. Trotz aller Deutlichkeit, mit der Adorno in seinem Vortrag versuchte hatte, zu zeigen, dass es ihm um Inhalte ging und letztlich um das individuelle Glück, finden sich in dieser Diskussion fast klassisch alle Vorwürfe, Missverständnisse und Argumentationsfiguren versammelt, die jeder kennt, der einmal Positionen der kritischen Theorie in Streitgesprächen vertreten hat. Die Diskussion ist auch noch bemerkenswert, da sie die Hoffnungen, die Adorno am Ende seines Textes formulierte, dass die Resistenzkraft des Geistes sich besonders im Feld der Kunst erweisen könnte, relativiert. Denn das ist nur möglich, wenn man überhaupt an so etwas wie ästhetischer Urteilskraft festhält. Gerade dagegen wurde aber am Ende der Diskussion argumentiert, und dieser Absage, die sich als Ablehnung einer elitären Haltung missversteht, stand auch später noch eine steile Karriere bevor.
Florian Ruttner
Pangermanismus als Behemoth
Zur Bedeutung von Masaryk und Beneš für die Kritik des Staats
Die historische Rolle des Pangermanismus vor und während des Ersten Weltkriegs, wie er von Masaryk und Beneš kritisiert wurde, lässt sich so vielleicht in Anlehnung an einen Buchtitel auf den Punkt bringen: Paul Massing nannte seine klassische Studie zur Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, in der er das Aufkommen von antisemitischen Massenbewegungen im Bismarkschen Reich beschreibt, und dabei besonders die Rolle der völkischen, pangermanischen Bewegungen unterstreicht, in der amerikanischen Originalausgabe griffiger und treffender Rehearsal for Destruction, in etwa »Generalprobe zur Vernichtung«. Diese Bezeichnung lässt sich auch weiter als nur auf den Antisemitismus bezogen fassen, der selbst mit dem völkischen Pangermanismus untrennbar verquickt ist, denn in dieser Periode entwickelten sich die Elemente dessen, was später im Nationalsozialismus zusammenfand.
Florian Ruttner
Die Natur ohne Eigenschaften
Grenzen der Akademie
Der Band stellt also den lobenswerten Versuch dar, auf den gesellschaftskritischen blinden Fleck der zeitgenössischen Kultur- und Sozialwissenschaften hinzuweisen und ein wenig Sand in das Getriebe des akademischen Kulturwissenschaftsbetriebs und der Theorien, die momentan im Schwange sind, zu streuen. Und mit diesen sieht es, wie die Herausgeber unterstreichen, düster aus: Menschenfeindliche Ideen einer »anthropozän strukturierten Geosphäre« machen die Runde, in der sich die Menschen nicht so wichtig nehmen und lieber verwundert darüber sein sollten, in einer Welt zu leben, »in der die Seienden nunmehr das Sein darstellen« und sich so dem Sein, einer irrationalen Allgewalt unterwerfen sollen, beziehungsweise sich auf radikale »Verschiebungen der Sprecherpositionen – menschlicher und nicht-menschlicher« – einstellen müssen, was immer das dann auch im Detail heißt.
Florian Ruttner
Das Orgium des Professor Flaig: Geschichtsrevisionistisch gegen den Islam
Flaig meint, mit dem Hinweis auf die ›josephische Unterscheidung‹ zwischen Theokratie und säkularem
Staat sei schon das Problem gelöst: dieser sei, wenn er nur mittels direkter Demokratie regiert werde, unproblematisch und rational. Dass Hobbes den Staat mit Bedacht als einen »sterblichen Gott« begriff, dass also selbst der säkularste Staat der Welt Eigendynamiken entwickelt, die sich hinter den Rücken der Bürger durchsetzen, davon will Flaig nichts wissen. Die Opfer, die der Einzelne diesem sterblichen Gott erbringen muss, rationalisiert er. Damit fällt er aber, mag er noch an anderer Stelle Wahrheit und Vernunft hochhalten, dem Irrationalismus anheim, sie verlieren jeden Eigenwert und werden nur noch Narrative, die den Staat rechtfertigen.
Florian Ruttner
Relieving the Chairborne Division
Über die Kritische Theorie beim OSS und ihre Kritiker
Einige dieser Berichte sind schon seit längerer Zeit aus den Archiven des OSS, das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst wurde, ausgehoben und publiziert worden, etwa in den Feindanalysen, die einige Texte Marcuses versammeln, oder auch in den Studien Alfons Söllners. Nun erschien ein weiterer Sammelband, angesichts dessen nicht nur Jeffrey Herfs Vorwurf, dass die Kritische Theorie sich nicht mit historischem Material abgegeben habe, entkräftet werden kann; es lässt sich daran auch zeigen, warum die Theoretiker von der Sache selbst getrieben wurden, die allgemeine, moderne Seite des Nationalsozialismus zuungunsten einer historischen ›Sonderwegsdarstellung‹ zu betonen; und schließlich wäre anhand der neuen Publikation darzutun, wo tatsächlich die Probleme dieser Analysen liegen.
Florian Ruttner
Schlafwandler und gebrochener Zombie
Autoritärer Charakter und bürgerliche Subjektivität bei Hermann Broch und Boualem Sansal
Wird bei Broch das traumhafte, irrationale Moment immer stärker, schlafen die Schlafwandler also immer tiefer und sind sich ihres Schlafwandelns immer weniger bewusst, so beschreibt Sansal gewissermaßen das Aufwachen – und welche Leiden mit diesem prekären Prozess verbunden sind. Das Individuum wird sich bei ihm seiner erst gewahr und sieht sich einer bedrohlichen Welt gegenüber. Dabei gelingt es Sansal, Elemente des autoritären Charakters gegen diesen zu wenden: Momente der beschädigten Charaktere, die sowohl Rachel als angepasster Businessman als auch Malrich als islamistischer Mitläufer sind, werden durch den Schock, den die Konfrontation mit der Vergangenheit des Vaters auslöst, plötzlich zu aufklärerischen Impulsen. Sansal seziert den autoritären Charakter und benutzt dessen Teile als künstlerisches Material.
Florian Ruttner
Credit rating agencies: Konjunkturen eines Feindbilds
Die Ironie bei der Geschichte ist, dass die Ratingagenturen ebenfalls mit dem Anspruch antraten, Investitionen sicherer zu machen, durch höhere Transparenz Informationsgefälle auszugleichen, und so Krisen zu vermeiden oder doch zu dämpfen. Eine kurze Geschichte der Ratingagenturen ließe sich also mit dem Spruch »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert« überschreiben. Sie, die heute entweder als Beschleuniger oder gleich als Ursache der Krise angesehen werden, sahen sich als Reformer, die die Finanzsphäre rationaler machen wollten – und wurden auch so gesehen.