Esther Marian

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Jean Améry und die Neue Linke

Heft 08, Frühjahr 2016 Parataxis

Amérys Aufsätze zum Antisemitismus, die sich heute noch ebenso aktuell lesen wie vor vierzig Jahren, waren Appelle an die Protestbewegung, sich auf sich selbst zu besinnen und zu erkennen, dass Israel kein faschistisch-imperialistischer Aggressorstaat war und auch kein Land wie irgendein anderes, sondern »die Zufluchtsstätte, wo Überlebende und Verfolgte nach langer Wanderschaft sich in tiefer Erschöpfung niederließen«. Noch in der Hoffnung, dass die Linken bloß geschichts- und realitätsblind und nicht antisemitisch waren, zeigte Améry, warum jeder Angriff auf Israel in der Tat ein Angriff auf die Juden darstellte …

Esther Marian

Psychoanalytische Frauenbiographik und die Theorie der Geschlechterdifferenz

Teil 2

Heft 06, Frühjahr 2015 Essay

Während Freuds Verhältnis zur gesellschaftlichen Norm zweideutig ist – die Inhumanität der »Bekenner des ›Normalmenschen‹« war ihm zuwider – tritt seine Schülerin Helene Deutsch als Verteidigerin der Norm gegen eine sich bereits abzeichnende Auflösung auf … Nicht die Flucht, die George Sand unternahm, sondern nur ein Einlenken in den »weiblichen Entwicklungsweg« ermöglicht einer Frau ein befriedigendes Sexualleben, lautet die unmissverständliche Botschaft an Leserinnen und Zuhörerinnen … Dabei ist das, was Deutsch als »Weiblichkeit« empfiehlt, zum Fürchten: über die Angstträume der kleinen Aurore, dass ein ihr geschenkter Polichinelle, ein »Wurstl in rotgoldener Kleidung« sie und ihre Puppe mit Feuer vom Ofen verfolge, sagt sie: »Und dieser rotgoldene Wurstl, der sie feuersprühend und angsterregend bedrängte, ich glaube, er war der einzige Mann ihres Lebens, demgegenüber George Sand vollkommen weiblich empfand.« Das »weibliche« Empfinden reduziert sich damit auf das angst- und zugleich sehnsuchtsvolle Erwarten der »aktiven Tat« des Mannes, einer empfundenen oder realen Vergewaltigung, die für Deutsch am »aktiven Organ« und damit an den »anatomischen Gegebenheiten« zu hängen scheint. Wenn Deutsch schließlich Sand für ihre Meinung rügt, man überschätze die Bedeutung der anatomischen Geschlechtsunterschiede, und die Diagnose trifft, die Verschmähung des »weiblichen Masochismus« habe bei Sand, da Frauen aufgrund ihrer »Organlosigkeit« zu einer produktiven Umsetzung aggressiver Strebungen im Sexualleben »die anatomischen Mittel fehlen«, nur dazu führen können, dass sie Männern »Böses tat« und »von einem Teil der Umwelt mit Fluch belegt wurde« – dann ist dies nicht nur ein Anschlag auf jeden Versuch, aus der verordneten Passivität auszubrechen; Deutsch verkennt auch die Größe von Sands Einsicht und ignoriert gerade einige der avanciertesten Thesen Freuds.

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Psychoanalytische Frauenbiographik und die Theorie der Geschlechterdifferenz

Teil 1

Heft 05, Herbst 2014 Essay

Wenn Freud trotz seines Bewusstseins davon, wie zweifelhaft angesichts der »sozialen Ordnungen«, welche die Frau »in eine passive Situation drängen«, endgültige Aussagen über die Herkunft der Geschlechtscharaktere sind, gleichzeitig meint, der anatomische Unterschied müsse sich »doch in psychischen Folgen ausprägen« und an einer häufig kritisierten Stelle proklamiert: »Die Anatomie ist das Schicksal«, dann ist selbst dies nicht bloß eine Anpassung ans Vorurteil, sondern rührt von einem wirklichen theoretischen Problem her: wie nämlich, wenn man eine völlige oder weitgehende Unabhängigkeit der psychischen Charaktere von der Anatomie annimmt, die Korrelationen zu erklären sind, welche unter den bestehenden Verhältnissen bei erwachsenen Menschen zwischen ihrem jeweiligen anatomischen Geschlecht und dem, was als psychische »Männlichkeit« oder »Weiblichkeit« firmiert, unzweifelhaft bestehen. Die Psychoanalyse geht nicht nur von einer konstitutionellen »Bisexualität«, sondern mehr noch, von einer »polymorph-perverse[n]« Anlage aus, in welcher jede Art der Sexualbetätigung und geschlechtlichen Charakterformation als Möglichkeit enthalten ist, und steht deshalb vor der Schwierigkeit, erklären zu müssen, wie aus dem polymorph-perversen Kind, dessen Triebe nur locker
unter dem Primat einzelner erogener Körperzonen wie des Mundes, des Anus und dann des Genitales stehen, eine Frau oder ein Mann wird, deren oder dessen Sexualtriebe, wie von der Gesellschaft gefordert, sich vereinheitlichen und in den Dienst der Fortpflanzung treten.

Esther Marian

»Von lauter Fraglichem, Unbekanntem umgeben«

Psychoanalyse, ästhetische Theorie, künstlerisches Ich

Heft 04, Frühjahr 2014 Essay

Man könnte Freuds ganzes Unternehmen als Entmachtung der Vaterfigur kennzeichnen, und zwar als endgültige, denn statt den Vater zu erschlagen und ihn eben dadurch wieder aufzurichten, wie es die »Urhorde« in Totem und Tabu, in der Massenpsychologie und im Mann Moses tut, ging es ihm darum, den psychischen Mechanismus aufzulösen, auf welchem die väterliche Macht beruht, und von der Vaterreligion wirklich nichts übrigzulassen als die Psychoanalyse einerseits, die durch sie freigesetzten Triebe andererseits. Wenn er dann beinahe ängstlich darauf beharrt, er lege es nicht auf die Erniedrigung der »Großen« an, so ist es, als fürchte er, die Vaterimago werde sich für ihre analytische Entlarvung als infantile Illusion rächen; seine Bilderstürmerei ist selbst noch befangen in dem Bildzauber, den sie zerstört. Das schlechte Gewissen, »man habe sich gegen Gott versündigt und höre nicht auf zu sündigen«, nach Freud wesentlich identisch mit Kastrationsangst, begnügt sich mit keiner geringeren Strafe als der Auspeitschung »nach Verdienst«. Das Mittel aber, dessen sich die Vaterimago zu ihrer Rache bedient, ist die dem Götzendienst verschriebene Urhorde, welche den Revolutionär zerfleischt.

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Zur Kritik des Marxismus

Manès Sperbers Analyse der Tyrannis

Heft 03, Herbst 2013 Essay

Erst 1943, als er von der Vernichtung der Juden erfuhr, verlor Sperber endgültig seinen Geschichtsoptimismus und sein Vertrauen in die Massen, das ihn bis dahin daran gehindert hatte, mit Deutschland und Österreich zu brechen. Doch schon in der Analyse der Tyrannis ist der Optimismus zurückgenommen. Die Beteuerung »Denn wir sind Optimisten« ist kaum mehr als ein hoffnungsloser Versuch, sich Mut einzureden, und wird zudem relativiert durch die Betonung der Grenzen der Psychologie und der Aussichtslosigkeit des ganzen Unterfangens. Wenn Sperber dann bekennt: »Wir vermögen nicht, die soziologischen Voraussetzungen der Tyrannis zu geben«, so ist dies nicht nur ein Eingeständnis einer theoretischen und historischen Niederlage, sondern es äußert sich darin auch ein Widerwille gegen jenen wissenschaftlichen Sozialismus, der alles erklären kann, weil er sich als unzweifelhafter Sieger der Geschichte wähnt.

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Redemptorische Gewalt

Jean Amérys Interventionen für Israel

Heft 02, Frühjahr 2013 Essay

Für das politische und intellektuelle Bezugssystem Amérys ist die Einsicht entscheidend, dass Gewalt notwendig und moralisch gerechtfertigt sein kann, und zwar ist sie es dann, wenn sie »die Affirmation des sich selbst verwirklichenden Menschen gegen die Verneinung des Menschen« ist. Die Theorie der Gewalt hinter diesen Gedankengängen geht auf Frantz Fanons 1961 erschienenes Manifest Die Verdammten dieser Erde zurück, das die überall in Afrika, Asien und Lateinamerika sich formierenden nationalistischen Entkolonialisierungsbewegungen nachträglich theoretisch begründete, und, von Sartre mit einer enthusiastischen Einleitung versehen, sowohl für den französischen Existenzialismus als auch für die Black-Power-Bewegung und die Neue Linke grundlegend wurde. Die Aneignung von Fanons Thesen zur Legitimation Israels ist insofern eine heikle Angelegenheit, als die Bewegungen, auf die sie zugeschnitten sind, sich fast durchgehend im Lager der Feinde Israels wiederfinden sollten.

Esther Marian

Das Pfeifen im Walde

Über Kitsch, Utopie und Grauen

Heft 01, Herbst 2012 Essay

Die Fragilität der »Interpretation im Lichte der Utopie«, wie Siegfried Kracauer sie übte, rührt nicht nur daher, dass sie der äußersten Anspannung bedarf, um die Denkformen zu transzendieren, die in der bürgerlichen Gesellschaft beständig reproduziert werden, weil sie der gedankliche Ausdruck ihrer Vermittlungsformen sind; beständig fällt deshalb ein Denken, das über diese Formen hinaus möchte, ohne doch andere stipulieren zu können, in das zurück, was es kritisieren wollte. Vor allem kommt sie nicht ohne eine petitio principii aus: sie muss das voraussetzen, was sie erst verwirklichen will, sie muss also annehmen, dass das Utopische, das ganz und gar anders sein soll als das unmittelbar Gegebene, diesem dennoch als Möglichkeit innewohnt, so dass es sich durch Kritik freisetzen lässt. Sie ist daher unbeweisbar, es sei denn durch ihre Erfüllung, und praktisch widerlegbar durch die universelle Vernichtung, auf die der Nationalsozialismus abzielt und die sein Wesen ausmacht: dieser gegenüber wird sie zu dem leeren Gerede, als das ihre Gegner in Vorwegnahme solcher Vernichtung sie schon im Vorhinein verhöhnen.

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