Dieter Sturm
Entschärfung der Subjektphilosophie, Verdrängung der Gesellschaftskritik
Eine 30 Jahre zu spät gekommene Rezension
In der Tat erscheint es so, als ob der Kongress sieben Jahre nach Sartres Tod weniger den Versuch darstellen sollte, die Widersprüche und Brüche in dessen Denken zu entfalten und ihn mit anderen Denkrichtungen im Bewusstsein ihrer unaufhebbaren Differenzen zu ihm zu konfrontieren, als vielmehr entweder Einzelaspekte seines Denkens oder dieses als vermeintlich einheitliches oder besser: kontinuierlich fortgeschrittenes philosophisch-theoretisches Unternehmen an damals aktuelle Diskussionen in Philosophie und Sozialwissenschaften anzugliedern und sie gleichsam für sie »fruchtbar« zu machen. Zu bemerken ist eine wohlwollende Fokussierung auf den späteren Sartre, der seine frühe Philosophie der vermittlungslosen – und potentiell gewaltsamen – Konfrontation von Subjekt, Objekt und dem Subjekt-Anderen in eine aktivistische »Sozialontologie« überführt hat, die weiterhin keine gesellschaftliche Vermittlung kennt, aber stattdessen die vormals rein existentiellen Kategorien nach Maßgaben des Kampfes des Proletariats gegen die Bourgeoise »sozialisiert«. … Damit zusammen hängt auch die Interpretation Sartres aus dem Geist der kommunikations- und handlungstheoretischen Nachfolger der Kritischen Theorie, wie sie auf dem Kongress vor allem durch Axel Honneth und Hauke Brunkhorst vertreten waren, denen am Verschwinden sowohl des immer nur als Einzelnes möglichen Subjekts in einem »apriorischen Intersubjektivismus« als auch am Begriff von gesellschaftlicher Totalität, wie ihn die ältere Kritische Theorie entfaltet hat, gelegen ist.
Dieter Sturm
Gemeinschaft statt Nation
Anmerkungen zu den Abgründen der europäischen Ideologie
Es entbehrt vor dem Hintergrund dieses latenten oder – wie bei Menasse – manifesten antikapitalistischen und antiamerikanischen Affekts, schließlich auch nicht einer gewissen Logik, dass in Plädoyers für ›mehr Europa‹ von der Rolle Deutschlands stets auf eine Art die Rede ist: Deutschland wird einerseits als ein Land unter vielen angesprochen, das sich hartnäckig weigert, seine Souveränität (seinen ›nationalen Egoismus‹) zugunsten einer fortschreitenden transnationalen europäischen Solidarisierung zurückzustellen; und es sei andererseits nur deshalb besonders heftig zu kritisieren, weil es besonders mächtig sei, nicht aber als das Land, das mit Nationalsozialismus, Shoah und Vernichtungskrieg selbst maßgeblich zum janusköpfigen Charakter der europäischen Einigung beigetragen hat. Denn es ist dieser janusköpfige Charakter – in Form einer Union, die nicht zum Staat werden kann und darf und somit aber erst recht viel Spielraum dafür lässt, je nach Interessenslage die nationale Souveränität eines Staates gegen die eines anderen oder aber auch die ›Überwindung‹ nationaler Souveränität im Namen eines Staats (oder ›Volks‹) gegen einen anderen Staat auszuspielen –, der von jenen Proeuropäern ihrerseits letztlich bejaht wird.
Dieter Sturm
Freiheit zum Wahn, Vollendung des Zwangs
Sartres und Adornos Kritik des Antisemitismus und deren philosophische Voraussetzungen
Sartre und Adorno kommen in ihrer Kritik des Antisemitismus, ausgehend von völlig unterschiedlichen Grundlagen, zu erstaunlich ähnlichen Befunden. Adorno ist diese Nähe nicht entgangen. In einer Fußnote in The Authoritarian Personality merkt er an: »There is marked similarity between the syndrom which we have labeled the authoritarian personality and the ›portrait of the anti-Semite‹ by Jean-Paul Sartre. … That his phenomenological ›portrait‹ should resemble so closely, both in general structure and in numerous details, the syndrome which slowly emerged from our empirical observations and quantitative analysis, seems to us remarkable.« Adorno kam später merkwürdigerweise nie mehr auf »Sartre’s brilliant paper« zurück; und Sartre nahm von den Arbeiten der Kritischen Theorie offenbar überhaupt keine Notiz. Dass der, der die Bekämpfung des Antisemitismus nicht der auf unabsehbare Zeit vertagten Revolution überlassen will, mit Adorno den Judenhass als ein der falschen Gesellschaft Entsprungenes und ihn zugleich – nicht nur aus pragmatischen, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen – mit Sartre als »freie und totale Wahl« begreifen muss, soll im vorliegenden Beitrag dargelegt werden.