Christoph Hesse

Christoph Hesse

Ein Filmemacher bei der Arbeit: Claude Lanzmann

Heft 17, Winter 2021 Essay

In dem hier abgedruckten Interview, das zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erscheint, spricht Claude Lanzmann nicht so sehr über den Film Shoah als vielmehr über die Arbeit an diesem Werk. Der Filmkritiker und -historiker Jean-Michel Frodon, der dieses Interview im Jahr 2006 führte, erklärt, es sei ihm nicht darum gegangen, den schon zahlreich erschienenen Texten über Shoah einen weiteren hinzuzufügen; ihn interessierten allein technische Fragen, wobei man Technik im klassischen sowohl wie im modernen Sinne verstehen mag, nämlich als Kunst und als technische Apparatur. »Dieses Interview«, so Frodon, sei »ganz den technischen und künstlerischen Entscheidungen des Filmemachers gewidmet – Produktion, Dreharbeiten, Ton/Bild, Montage –, die die Existenz von Shoah erst ermöglichten.«

Christoph Hesse

Hermann Borchardt, ein konservativer Radikaler

Heft 15, Herbst 2019 Essay

Offenkundig haben die zwei Jahre in der Sowjetunion sowie die unverhoffte Rückkehr nach Deutschland, wo er zunächst fünf Monate als »Bürger 3. Klasse« und dann zehn weitere als Lagerhäftling zubrachte, Borchardts Leben sehr viel schwerer beschädigt als alle sonstigen Zumutungen des Exils. Schaden nahm nicht nur, was man Geist oder Gemüt zu nennen pflegt (von etwas wie Hoffnung ganz zu schweigen), sondern auch sein Leib unmittelbar: infolge der Misshandlung im Lager verlor er sein Gehör und den Mittelfinger seiner rechten Hand. In der Sowjetunion, wo er als »Spez« aus dem Ausland sogar manche Privilegien genoss, fand er sich zwar mit allerlei grotesken Vorschriften konfrontiert, doch selbst keinen Repressionen ausgesetzt. Was er dort mitansah und was andere ihm zutrugen, insbesondere über die Hungersnot während des ersten Fünfjahrplans sowie über die Zwangsarbeit, zu der Hunderttausende willkürlich deportiert wurden, reichte jedoch hin, um all das, was die Genossen im Westen darüber verbreiteten, als fabelhaften Betrug zu erkennen. Die Erfahrungen, die Borchardt allein in diesen Jahren machen musste, mögen leicht erklärlich erscheinen lassen, warum aus dem einstigen Revolutionär der Reaktionär wurde, als den seine ehemaligen Freunde ihn schließlich mieden; ein Resignierter, dem aber noch manche der Fortschrittlichsten wohlwollend nachsahen, dass ihm auf seinen abenteuerlichen Umwegen das richtige Urteilsvermögen abhanden gekommen sei.

Christoph Hesse

Das Telefonbuch von Manhattan

Einträge Leo Löwenthals zur Kritik der Postmoderne

Heft 12, Frühjahr 2018 Essay

»Ich habe einmal einem der bedeutendsten Vertreter des Dekonstruktionismus … gesagt: ›Wissen Sie, mit Ihrer Methodologie kann ich überhaupt kein Kriterium finden, bei de[m] ich einen Unterschied zu machen vermag in bezug auf das, was das Manhattan-Telefonbuch darstellt und was eine Tragödie von Shakespeare.‹« Ein Unterschied besteht darin, dass das Telefonbuch von Manhattan zwar etliche Namen aufführt, doch kein einziges Individuum darstellt. In einer Tragödie von Shakespeare hingegen nimmt das Individuum, noch ehe es gesellschaftlich Stellung bezieht (denn in freier Natur kommt es, wie Marx gegen Rousseau beweist, nicht vor), eine Gestalt an, die sogar seine künftige geschichtliche Verurteilung überragt; dies gilt, nebenbei, auch für die autoritäre Persönlichkeit, der er in der Figur des wütenden Caliban, des »Anderen«, wie man heute sagen würde, bereits Konturen verleiht, die sich erst im 20. Jahrhundert deutlich abzeichnen. Die historische Bedeutung noch der überlebten Begriffe erschließt sich, wenn man sie nicht in der Gewissheit des eigenen Bescheidwissens historisiert. Shakespeares Historiendramen sind phantastische Erfindungen, mithin »Konstrukte«, als welche der postmodern geschulte Über-Blick ohnehin bald alles in der Welt identifiziert; als Werke ihrer Zeit aber stellen sie eine historische Wahrheit dar. Die Literatur, gerade die sogenannte schöne, die ja wahrhaftig schöner ist als das, was etwa im kulturwissenschaftlichen Seminar Literatur genannt wird, legt unter den aus vergangener Zeit überlieferten Zeugnissen nicht das unglaubwürdigste ab. Die Größe Shakespeares sieht Löwenthal nicht darin, dass er nach Gott am meisten geschaffen hat, jedoch zum Beispiel darin, dass in The Tempest, einer Romanze, die man tragisch sowohl wie komisch finden mag, »die romantische Liebe zum stärksten Ausdruck der Individualität« wird, und zwar kraft einer sprachlichen Gestaltung, in der sie solchen Ausdruck erst erlangt.

Christoph Hesse

In vergnügt lärmender Verzweiflung

George Grosz: Briefe eines Europamüden

Heft 10, Frühjahr 2017 Essay

»Seine Muse, ohne die es vermutlich zu keinem seiner Bilder gekommen wäre, hieß ›Ekel‹«, schreibt Günther Anders über Grosz. »Was immer der Primärsinn der Ausdrücke ›schlagende Ähnlichkeit‹ oder ›schlagendes Portrait‹ gewesen sein mag – und gewiß war als ›geschlagen‹ nicht der Portraitierte gemeint, sondern der Beschauer –, Grosz stellte ›schlagende Portraits‹ nun in diesem Sinne her, d.h.: er portraitierte seine Opfer, um sie damit wirklich zu treffen. Nicht nur ein aggressiver Realist war er also, vielmehr deshalb Realist, weil er aggressiv war.« Ein, wie man so sagt, gegenständlicher Maler und Zeichner bleibt Grosz unbeschadet aller geistigen und künstlerischen Wandlungen zeit seines Lebens, auch in New York, wo der einstige Dadaist und Kommunist darum als konservativ gilt. Er selbst macht sich einen allerdings durchaus ernst gemeinten Spaß daraus, wie ein aus der Zeit gefallener Rembrandt ans Werk zu gehen: einsam und unbeeindruckt von den Manieren und Moden, die er um sich herum wahrnimmt. Jackson Pollock zum Beispiel, den »Rohrschachtest-Rembrandt«, findet er immerhin höchst amüsant. Prinzipielle Vorbehalte gegen abstrakte Malerei, oder selbst das Ausquetschen von Farbtuben ganz ohne Malerei, hegt er keineswegs; nur reizt sie ihn selbst nicht. Die Phantasie sei »ein gefährliches Erbteil« und in der Bildenden Kunst »nur zur Vollendung zu bringen … durch genaues Naturstudium.«

Christoph Hesse

Ohne Namen

Die Darstellung der Verfolgung und Vernichtung der Juden im sowjetischen Kino (1938–1945)

Heft 06, Frühjahr 2015 Essay

Ein Ungenügen an der Vorstellungs- und Aussagekraft dokumentarischer Aufnahmen, wie es Lanzmann Jahrzehnte später polemisch zum Ausdruck bringt, empfanden allerdings schon zu jener Zeit auch manche sowjetische Filmemacher, aus wenngleich anderen Motiven: Denn ihnen ging es nicht um Erinnerung dessen, was sie selbst eben noch mitansehen mussten, sondern, neben der Aufnahme von Beweisstücken im historischen Prozess, um eine größtmögliche Mobilisierung der Bevölkerung mit dem Ziel, dem immer weiter um sich greifenden Morden Einhalt zu gebieten, die Deutschen zurückzuschlagen oder ihnen notfalls immerhin zu entkommen. Zu diesem Zweck wurden ab 1942 hinter der Front auch Spielfilme produziert, die nicht nur den Krieg, sondern insbesondere die von den Deutschen verübten Massaker an den Juden in Form einer fiktionalisierten dramatischen Handlung darzustellen oder zumindest anzudeuten versuchten.

Christoph Hesse

Lanzmann ici et Godard ailleurs

Heft 02, Frühjahr 2013 Essay

Pourquoi Israël ist jedoch allem romantischen Anschein zum Trotz nicht das Werk eines ungeahnten Talents, das plötzlich Gelegenheit bekommt, sich in seiner bis dahin unentdeckten Begabung auszutoben. Der Film ist das Produkt eines zwanzigjährigen Reflexionsprozesses, und das außergewöhnliche Talent, das Lanzmann bei der für ihn ganz neuartigen Arbeit unter Beweis stellt, lernt man vor dem Hintergrund dieser äußerst zögerlichen Entstehungsgeschichte erst zu schätzen. Das Verfahren, das den Film auszeichnet, hat er nicht den großen Vorbildern des Dokumentarfilms, nicht Robert Flaherty, Dziga Vertov, Joris Ivens oder John Grierson und auch nicht dem Free Cinema, dem Direct Cinema oder dem Cinéma vérité, sondern der eigenen literarischen Arbeit abgeschaut.

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