Christian Thalmaier
Die Farbe der Robe
70 Jahre höchstrichterlicher Rechtsfetischismus
Souveränität ist im Grundgesetz des neuen deutschen Leviathans also gut versteckt. Sie lugt hinter der »Würde des Menschen« in Art. 1, also des allgemeinen Menschen überhaupt, einer Abstraktion, nur ab und zu hervor wie Rumpelstilzchen, das bis zum bitteren Ende drauf hofft, dass niemand seinen Namen kennt. Weder darf man also bei der Würde »des Menschen« an die bedürftigen und quälbaren einzelnen Menschen denken, noch beim Begriff der Würde an Immanuel Kant. Denn was der Parlamentarische Rat unter Würde verstand und auch die Methode, mittels derer das BVerfG, etwa im Urteil vom 21. Juni 1977 zu den verfassungsrechtlichen Grenzen lebenslanger Freiheitsstrafe, den Begriff mit allerlei ethischen Kalkulationen stopfte, hat mit dem kategorischen Imperativ Kants und seiner Ableitung der Würde aus der Fähigkeit der Menschen zur Freiheit und zur Autonomie wenig zu tun. Darum wird man sich nicht wundern, dass der vom Verfassungskonvent ursprünglich vorgesehene Wortlaut des Art. 1 des Grundgesetzes vom Parlamentarischen Rat abgelehnt wurde. Der Vorschlag lautete: »Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.« … Anders als etwa die französische Verfassung der V. Republik vom 4. Oktober 1958, die der Souveränität gleich zu Beginn einen eigenen Titel mit drei Artikeln widmet, kommt der Begriff der Souveränität im Grundgesetz kein einziges Mal vor. Deliberativ sollte die Bonner Republik sein und ihr Grundgesetz daher von Anfang an eine Einladung an alle, jeden Gegensatz der Interessen, jede schmerzliche Erinnerung an eine Zeit der Klassenkämpfe und den unaufhörlichen Kampf um Meinungsführerschaft nach Möglichkeit in ein bloß rechtliches Problem zu transformieren und sodann als rechtlichen Meinungsstreit oder Rechtsstreit auszutragen.
Christian Thalmaier
Immanenz und Indolenz
Reflexionen zu Manfred Dahlmanns Kritik des Heidegger-Marxismus
Zu Manfred Dahlmanns von früher Abneigung gegen philosophische Moden gesättigter Begabung gehörte die Fähigkeit, Heideggers untote Präsenz schon früh und auch dort wahrgenommen zu haben, wo Linke Anfang der 1970er Jahre auf dem großen Basar nicht mehr vorrangig die blauen und roten Bände erstanden, sondern sich zunehmend mit den bunten Patchwork-Büchlein – vom Merve-Verlag für die allerneuesten Diskurse ertüchtigten. Sein Gespür für das Nachleben des Nationalsozialismus nicht gegen die Universität, sondern in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten, brachte ihn am Otto-Suhr-Institut seit 1975 auf Kollisionskurs mit dem Großmeister des akademischen Postnazismus: Michel Foucault. Diesem widmete er seine 1980 bei Johannes Agnoli eingereichte Diplomarbeit, in der er mit subtilen Analysen das Rätsel der Macht als Fetischisierung eines »absoluten Subjektes« entschlüsselte, in welcher die Reflexion auf das automatische endgültig vergessen war. So konnte sich Heideggers Sein nach dem linguistic turn, auf dem Umweg über Frankreich und camoufliert als »die Macht« 25 Jahre nach der Kapitulation und einer langen Latenzzeit im Freiburger Husserl-Archiv auf seine unverfügbar seinsgeschichtliche Entbergung und Wiederkehr in den Diskursen der Postmoderne auch in Deutschland vorbereiten.
Christian Thalmaier
Das Patent als Mörder
Zur Kritik des Juristensozialismus in Zeiten von Corona
Weil das so ist, wird und kann der Staat das im Patentrecht normierte Recht am geistigen Eigentum nur zum Schutz der nationalen Gesundheit und Sicherheit und nur in der Weise lockern, dass dabei die »Wertgarantie des Eigentums« am gewerblichen Schutzrecht nicht verletzt wird. Aufgrund der Beschränkung seiner Souveränität auf das Staatsgebiet und wegen der Konkurrenz der Staaten untereinander geht ihn außerhalb der Staatsgrenzen noch nicht einmal die Volksgesundheit etwas an. Warum das gar nicht anders sein kann, zeigt die von Marx begründete Kritik der politischen Ökonomie, die als Kritik der politischen Ökonomie die Kritik des Staates als Form einschließt. Staatskritik in diesem Verständnis unterscheidet sich als Formkritik von der am jeweiligen politischen Inhalt orientierten bloßen Beanstandung des zwischen Liberalismus und Keynesianismus oszillierenden und in sich antinomischen Staatshandelns auch dann ums Ganze, wenn der Keynesianismus »bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« (IfSG) wieder einmal Konjunktur hat.
Christian Thalmaier
»Muss ein lieber Vater wohnen«
Zur politischen Ökonomie der Vaterschaft, Teil III
Es ist hier nicht der Ort, der Frage nachzugehen, ob Freud sich in allen Winkeln seines Werkes auf erweisbare historische Befunde stützen konnte. Hier kommt es allein auf seine grundstürzende Entdeckung an: dass die aus der Tradition oder anderen Quellen erinnerten Ereignisse mit Erinnerungsspuren der psychoanalytisch erhellbaren Individualgeschichte eines jeden Einzelnen in der Weise koinzidieren, dass sich der Mord als das gemeinsame Dritte zeigt, sei es als verdrängte Tat oder als verdrängter Wunsch. Beide treffen in der Erfahrung des Einzelnen auf die Kastrationsdrohung, in der sich die Kontinuität der Gewalt als Attribut der Souveränität in der Geschichte und im Individuum erhält. Dass Christus den Mordwunsch gegen den Vater unüberbietbar radikal ausagieren konnte, indem er sich ohne jedes Schuldgefühl selbst ermordete, lässt ihn aus den zahlreichen Glaubensgeschichten als den Erblasser einer im Innersten narzisstischen Philosophie hervortreten, die in Hegel ihren Höhepunkt und im Kapital als Inbegriff realer Abstraktion und Selbstzerstörung der Gattung ihre falsche Wirklichkeit fand.
Christian Thalmaier
Eros und Identifikation
Reflexionen zum Begriff der Gegenidentifikation
Der explizite Bezug auf die Psychoanalyse legt es nahe, sich den kontradiktorischen Begriff der Identifikation als zentrales Moment bei der Lösung des Ödipuskomplexes durch eine die Kastrationsgefahr abwehrende Identifikation des Knaben mit dem bedrohlichen Vater zu vergegenwärtigen. Materialistische Kritik bewahrt dieses gewissermaßen anthropologische Moment einer ersten Identifikation mit dem ersten Aggressor auf, zeigt aber ihren ideologischen Überschuss in der Identifikation mit allem, was der Vater jenseits von Schutz und Sorge repräsentiert und exekutiert, also mit der Abstammungslinie, dann mit Staat, Volk und Nation und schließlich mit dem zum Opfer bereiten und gewillten Soldaten. Diese überschießende Identifikation will Gegenidentifikation durch Reflexion auf den produktiven Grund stillstellen.
Was aber bleibt dann im gegenidentifikatorischen Selbstvollzug der »gesamten Person« des Kritikers übrig, das Gegenidentifikation genannt werden könnte? Ist die Aufforderung zur Gegenidentifikation dann mehr als die durch Provokation intensivierte zur Reflexion und zum Nachvollzug des politischen Urteils? Oder entspricht in der Gegenidentifikation doch auch etwas jenem vorideologischen Moment der Identifikation, das in der Psychoanalyse thematisch wurde?
Christian Thalmaier
»Muss ein lieber Vater wohnen«
Zur politischen Ökonomie der Vaterschaft (Teil II)
Hiob hat aber noch nicht die Kraft, den durch keinen Gedanken und kein Flehen zu schließenden Abgrund zwischen sich und seinem Gott nicht nur zu erleiden und mit dem verhaltenen Trotz des verlassenen Kindes hinzunehmen, sondern in freier Zustimmung als eine absolut notwendige Trennung auszuhalten, die aus der antinomischen Verfassung Gottes folgt, und die Gott als den Schöpfer selbst begrenzt. Hiob und seine Freunde hätten daher den Allmächtigen aus logischen Gründen selbst dann nicht in den Kreis der Rechtsdiskutanten bitten können, wenn dieser sich auf die Friedensgruß- und Stuhlkreisliturgie der heutigen Kirchen eingelassen hätte. Sie könnten das auch dann nicht, wenn sie mit C. G. Jung vorher einem unreflektierten Gott ferndiagnostisch Soziopathie und moralische Deffizienz attestierten. Denn da Gott sich als das unendliche Wesen aus logischen Gründen endlichen Wesen niemals angemessen mitteilen kann, muss er trotz des Bilderverbotes auch in der jüdischen Bibel zur anthropomorphen Projektionsfläche für alles werden, was Menschen zur Abwehr und Sistierung von Antinomien zur Verfügung steht. Dazu gehört neben den Münchhausiaden der Philosophie die Anreicherung des Numinosen mit affektiven Dissonanzen, wie sie der Gott der Juden nicht nur im Buch Hiob zeigt, und die an der Bergpredigt aufgewärmten Kirchentagsbesuchern heute die Rationalisierung ihrer antijudaischen Affekte erleichtern.
Christian Thalmaier
»Muss ein lieber Vater wohnen«
Zur politischen Ökonomie der Vaterschaft
Bela Grunberger liest die vermeintlich frohe Botschaft symptomatologisch als Fallbericht eines die ödipale Integration in die Realität des Judentums aufgrund schwerster Traumatisierung verweigernden Narzissten und erkennt im Rahmen einer streng an der Schrift orientierten Anamnese auch in der ruhelosen Wanderschaft das Symptom: »Narzissten haben ›Sohlen aus Wind‹«. … Grunberger stellt fest, dass Jesus sich als »zeitlos« außerhalb der Abstammungslinie situiere: »Christus ist doppelt: zeitlos, ist er Gott: ›Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham ward, bin ich‹, läßt Johannes ihn sagen (8,58). Christus tritt so aus der grammatischen Logik der gewöhnlichen Sprache heraus; er ist aus einem anderen Stoff als der Gründer des Judaismus; er situiert sich außerhalb der Abstammungslinie Abraham – Isaak – Jakob, die diesen nichtdarstellbaren Gott bewundert, dem der Judaismus die gesamte narzißtische Besetzung vorbehält, indem er sich jede Identifizierung mit der Gottheit untersagt.« Im Lichte der grenzüberschreitenden und außerordentlich erfolg- und folgenreichen paulinische Theologie und Missionspraxis ist nochmals festzuhalten: Christus situiert sich zeitlos außerhalb der Abstimmungslinie. Diese Abstammungslinie ist aber nichts weniger als der Begriff der gesellschaftlichen Synthesis der alten patriarchalen Welt. Diese ist mindestens dreifach vertikal in der Stufenfolge von Gott, dem Monarchen und seinen Priestern und den Vätern geordnet, und der Monarch wird als heilig ambivalenter Mittler zwischen Gott und den Vätern, der Transzendenz des namenlos Unbegreiflichen und der innerweltlichen Macht verstanden und in der Regel anerkannt. Weil diese Abstammungslinie aus dem transzendenten Raum kommt und von dort aus alles Endliche berührt, hat jeder dem Gesetz als der Selbstmitteilung Gottes hörend Gehorchende am Absoluten Anteil. Das ist das anfänglich platonische Moment schon im vorplatonischen Judentum: Methexis. Indem Christus aber mit der historischen Zeit und der genealogisch verfassten Synthesis des Judentums bricht, krümmt er die Abstammungslinie vom innerweltlichen Ende her gewissermaßen nach innen und begründet so eine radikal neue Fühl- und Denkform: die vaterlose Figur des scheinbar absoluten weil rein innerlichen Selbstverhältnisses.
Christian Thalmaier
»Adorno denkt anders«
Kritik und Autorität
Es ist aber nicht das »Antlitz der Menschheit, die es noch gar nicht gibt«, das hier leuchtet, sondern das Dämmerlicht einer Melancholie, die zwischen elegisch verspielter Todessehnsucht und losgelassener Verachtung oszilliert und den Grundton auch vieler anderer Texte Klaues bestimmt. Denn die Perspektive, aus der allein betrachtet werden könnte, wie das Meer das Antlitz der Menschheit wegspült, bedarf des Poetenhügels, auf dem der müde gewordene Kritiker am Tag danach den Tod der Menschheit beklagt und doch in wohliger Erschöpfung ihren endgültigen Rückgang in nichts als Natur feiert. Zu Unrecht wähnt sich der kritische Poet in dieser Position dem Kinde nahe, das vielleicht wirklich einmal intentionslos jenes Bild in den Sand zeichnete, und führt dessen Hand in gesteigerter Nachträglichkeit aus dem freien Spiel der im Kind erwachenden Erkenntniskräfte in das Gehäuse der erwachsenen Metapher.
Christian Thalmaier
Vor dem Gesetz
Über einige Motive bei Kafka, Adorno und Freud
Indem Kafka in zarter Verstocktheit alle Prozeduren der Abwehr, die logisch und genetisch letztlich in der Verneinung realer Gewalt gründen, zu unterbrechen sucht, bewahrt er die Erfahrung des Kindes vor der siegreichen Unaufrichtigkeit der Erwachsenen, die in der tagtäglichen Feier gelungener Identifikation über das Wünschen des Kindes und die Wahrheit seiner Not zu siegen nicht aufgehört haben. Hin und her gerissen zwischen dem drohenden Untergang des Subjekts und seiner Selbsterhaltung durch Identifikation erfahren Kafkas Protagonisten in reflektierter Regression daher die Scham als die der allgegenwärtigen Schuld vorgängige Gestalt der Introjektion von Gewalt.
Christian Thalmaier
Actio libera in Causa oder die Liebe zum Recht
Schließlich kann auch der kategorische Imperativ nach Auschwitz entgegen Adornos Anweisung diskursiv als ableitbarer Befehl gelesen und so als Provokation auf Freiheit, die sich – ganz hegelsch – selbst zu begründen hat, gänzlich verfehlt werden. Überlesen und im Zitat oft weggelassen wird, daß Adorno schon das Bedürfnis nach der Begründbarkeit des Imperativs mit theologischem Anklang als »Frevel« und damit als Verfehlung wider ein bilderloses Heiliges begreift. Diese Verfehlung besteht in einer heillosen Indolenz und grenzenlosen Begriffsstutzigkeit, die ohne die freie Abwendung des Blicks von dem, was geschah, nicht möglich wäre. Das affektschuldige Individuum aber, das den kategorischen Imperativ zum bloßen Zitat verdinglicht, nimmt zur Kenntnis und findet gar plausibel, daß es etwas tun solle, was es als unbelehrbarer Theoretiker lieber müssen würde.