Birte Hewera

Birte Hewera

Wem gehört die Erinnerung?

Überlegungen zu Zeugenschaft und Kulturindustrie

Heft 06, Frühjahr 2015 Parataxis

So ergibt sich die paradoxe Situation, dass einerseits die Darstellung des Verbrechens in den Formaten der Kulturindustrie mit stets neuer Verblendung einhergeht, andererseits aber dadurch die Möglichkeiten einer anderen Sicht und einer anderen Erinnerung überhaupt erst zur Debatte gestellt wurden. Diese grundsätzliche Ambivalenz bezeugt Theodor W. Adorno bereits fast zwanzig Jahre vor der Ausstrahlung von Holocaust. Er berichtet von der Aufführung eines Theaterstücks über Anne Frank, in dessen Folge eine Zuschauerin erschüttert geäußert habe: »Ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen«.Adorno sieht in der Erschütterung der Frau zwar das Potential zu einer Einsicht, zugleich diene die dramatische Gestaltung des Einzelschicksals jedoch als »Alibi des Ganzen«, das darüber vergessen werde. Adorno kommt zu dem Schluss: »Das Vertrackte solcher Beobachtungen bleibt, daß man nicht einmal um ihretwillen Aufführungen des Anne-Frank-Stücks, und Ähnlichem, widerraten kann, weil ihre Wirkung ja doch, so viel einem daran auch widerstrebt, so sehr es auch an der Würde der Toten zu freveln scheint, dem Potential des Besseren zufließt.«

Birte Hewera

Wider die Unmoral des Zeitvergehens

Zum 100. Geburtstag Jean Amérys

Heft 01, Herbst 2012 Parataxis

Es ist ein Kontinuum, das ihn von den Nürnberger Gesetzen, über Prügel und Folter, nach Auschwitz geführt hat, das Gemeinsame ist der Antisemitismus, der die Forderung nach Vernichtung in sich enthält. Die Inkommensurabilität von Auschwitz hat Améry nie in Frage gestellt, er hat sie vielmehr erhärtet und sich verbeten, den Nationalsozialismus mit anderen totalitären Regimes gleichzusetzen, und auch die Folter durch die Nazis sah er als wesenhaft verschieden von den Umständen, unter denen in anderen Regimes gefoltert wurde. Lediglich eine einzige Situation gibt es, hinsichtlich der Améry in Betracht zieht, dass etwas Ähnliches wie Auschwitz sich wieder ereignen könnte, er spricht sogar von einem möglichen »Über-Auschwitz«. Es ist dies die Situation des Staates Israels, die Bedrohung dieses Staates durch die ihn umringenden arabischen Länder und damit die Bedrohung aller innerhalb und außerhalb Israels lebenden Juden. Aber gerade diese Parallelisierung enthält das Wissen um den eliminatorischen Antisemitismus von einst, sowie das Wissen um sein Fortbestehen. Es ist die berechtigte Angst, dass die Juden noch einmal der Vernichtung anheim gegeben werden könnten, während die gesamte Welt nichts tut, dies zu verhindern.

Alle Ausgaben

→ Jetzt Abo abschließen

Newsletter

Gerne informieren wir Sie über Neuerscheinungen, Vortragsveranstaltungen, Rezensionen usw. usf. auch via E-Mail. Hierzu können Sie sich in unseren Newsletter eintragen. 
Ihre Anmeldung konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuchen Sie es erneut.
Ihre Anmeldung war erfolgreich!
magnifiercrossmenuarrow-up