Aljoscha Bijlsma

Aljoscha Bijlsma

Einstand des Sinnlosen

Zu Theodor W. Adornos Ästhetik nach Auschwitz. Vortrag, gehalten am 27. Juli 2023

Heft 23, Winter 2024 Essay

Zwischen Claude Lanzmann und Imre Kertész gibt es viele Gemeinsamkeiten. Sie haben beide der Aufgabe, die Wahrheit mitzuteilen, die Erfahrung der Objektivität zu ermöglichen, in völliger Einsamkeit sich überlassen. Sie haben versucht, in der Isolation, allein mit ihrem Material, das Äußerste in eine ästhetische Form zu objektivieren. Bei Lanzmann ist das Material eine Sammlung von 200 Stunden Filmmaterial, das unter extremsten Bedingungen aufgenommen wurde, bei Kertész ist das Material seine eigene Erinnerung. Beide betonen die akribische Konstruktion, beide finden durch akribische Konstruktion Wege, das schlechthin Inkommensurable nicht kommensurabel zu machen – ein solches Vorhaben wäre blanker Hohn – aber mitteilbar, und ermöglichen für den Betrachter die Erfahrung von Objektivität.

Aljoscha Bijlsma

Schwierigkeiten bei der Lektüre der Erstauflage des Kapitals

Heft 21, Winter 2023 Essay

In der Erstauflage heißt es, noch bevor die Wertsubstanz als gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit gefasst wird, ein Gebrauchswert habe »nur einen Werth, weil Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisirt ist«, während es ab der zweiten Auflage an gleicher Stelle heißt, ein Gebrauchswert habe einen Wert, »weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist.« Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Substanz des Werts hängen wesentlich mit der Bedeutung dieses kleinen Adjektivs zusammen; dass die Marx-Interpretation allerdings immer wieder über dieses Wörtchen stolpert, liegt auch daran, dass es bei Marx selbst eine erstaunliche Konfusion gibt. Die Metaphorik, derer Marx sich bedient, etwa die des Wertes als »Arbeitsgallerte«, hilft nicht weiter, denn sie verleitet dazu, sich unter »Substanz« doch wieder ein Konkretes vorzustellen – »Kristalle« etwa einer »gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz«. Was gemeint ist, erschließt sich nur über den Umweg einer Reflexion über den Status der Abstraktionen. »Die Arbeit« existiert nicht, sondern es existieren verschiedene Arbeiten, die jeweils von einem leiblichen Individuum ausgeübt werden. Von diesen qualitativ verschiedenen Arbeiten abstrahiert der Begriff der Arbeit überhaupt, oder »Arbeit sans phrase«, wie Marx sie etwa in der Einleitung zu den Grundrissen nennt. Bei diesem Begriff beginnt die Konfusion. Marx charakterisiert die Arbeit sans phrase als diejenige einer »Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehn und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist,« als ob die Nominalabstraktion, die als Arbeit überhaupt von den qualitativ verschiedenen Arbeiten getroffen wird, irgendetwas mit deren Qualität zu tun hätte. Ihm schwebt hier der Begriff der abstrakten Arbeit als der gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit bereits vor, aber er wird mit jener Nominalabstraktion vermengt und dadurch unklar. In der Erstauflage wird der Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeit dann mit einer gewissen Nonchalance eingeführt: Der Wert der Ware schwanke selbstverständlich nicht je nachdem, ob der Arbeiter faul oder fleißig sei, sondern es zähle eben nur die gesellschaftlich notwendige Arbeit, die hier mit der Entwicklung der Produktivkräfte enggeführt wird. Ab der zweiten Auflage gibt es dann jene Stellen, an denen der gesellschaftliche Durchschnitt zum Problem wird: »Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als eine und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie aus zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht«, heißt es hier etwa im gleichen Absatz. Es fragt sich also, wie die Vergleichung der zahllosen individuellen Arbeiten zustande kommt.

Aljoscha Bijlsma

Sonate, que me veux-tu?

Heft 17, Winter 2021 Essay

Adorno hat an verschiedenen Stellen den Gedanken exponiert, die Musik sei im Sinne einer materialen Formenlehre zu interpretieren. Der Terminus mag unglücklich gewählt sein, weil einer solchen Lehre die Dynamik des Gegenstandes entgleiten würde, sobald sie eben zur Lehre sich verfestigte. An der Idee ist aber festzuhalten. Oberste Priorität hat die Beobachtung, dass die große Musik – wie gelungene Kunst überhaupt – nicht in dem Immanenzzusammenhang aufgeht, den sie konstruiert, sondern dass sie diesen Immanenzzusammenhang an gewissen Stellen aus ihrer eigenen Dynamik heraus transzendiert. Der wichtigste Charakter, die wichtigste Formkategorie, die am Gegenstand zu entwickeln ist, ist die der Erfüllung, die als ein musikalischer Zustand beschrieben werden kann, in dem die »Frage aller Musik«: »wie kann ein Ganzes sein, ohne daß dem Einzelnen Gewalt angetan wird«, für einen Augenblick beantwortet erscheint, bevor der Spieler oder Hörer sich wieder daran erinnert, dass es nur Musik war, in der ein solcher Zustand aufblitzte.

Aljoscha Bijlsma

»Genug des Schollenzaubers«

Robert Minders Heidegger-Kritik

Heft 18, Sommer 2021 Essay

Dichter in der Gesellschaft – das Werk des französischen Germanisten Robert Minder (1902 – 1980) kreist um die unscheinbare Präposition des Titels jenes Bands, in dem auch seine Heidegger-Kritik erstmals erschien. Minder fragt in seinen ab 1962 in verschiedenen Kompilationen erschienenen Essays danach, ob und inwiefern der Dichter in der Gesellschaft oder vielmehr neben dieser existiert; ob der Dichter »eingebürgert« ist oder sich, mangels der Möglichkeit solcher Einbürgerung, sein »inneres Reich« erschafft. Sehr »allgemein – zu allgemein – dürfte man vielleicht sagen: in Deutschland ist der Dichter, der Künstler in erster Linie Bürger einer anderen Welt; in Frankreich ist er in weit größerem Ausmaß citoyen«.

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