Alain Finkielkraut

Alain Finkielkraut

Revisionismus von links

Überlegungen zur Frage des Genozids. Vorabdruck

Heft 23, Winter 2024 Essay

Das Offensichtliche ist widerlegt: nicht aus Hass auf die Juden wird Hitler von seinem Versuch des Völkermords freigesprochen, sondern aus abstrakter Liebe zur Arbeiterklasse. Das Proletariat ist nur deshalb völlig unbesiegbar, weil es absolut versklavt ist, und es verkörpert die Idee der Menschheit nur deshalb, weil »die Menschheit allein, unendlich in ihrer Not und in ihrem Recht«, in ihm fortbesteht. An den Arbeitern vollendet sich eine Ungerechtigkeit der Gattung: keine Klasse, keine Nation oder Ethnie darf ihnen diesen Ehrentitel streitig machen. Die die Gaskammern leugnen, klagen die Juden nicht an, jüdisch zu sein (das heißt anders als die anderen, monotheistisch, aufklärungsfeindlich oder geizig), sondern den Gang der Geschichte durcheinanderzubringen und gegen die Dialektik zu verstoßen, indem sie für sich selbst ein Vorurteil in Anspruch nehmen, das größer sei als das Unrecht, das die Arbeiterklasse tagtäglich erleidet. Die moderne Geschichte will nur ein Verbrechen, und zwar das, welches jeden Tag gegen die Arbeitskraft verübt wird. Aufgabe der Revolutionäre ist es, unaufhörlich an die Schärfe dieses Skandals zu erinnern und zu verhindern, dass die Gesellschaft ihn zugunsten von Nebenpauschalen vergisst. Die den Antifaschismus heute für Mythologie und die Geschichte des Genozids für Augenwischerei halten, sind nicht judenfeindlicher als die Sozialisten zur Zeit der Dreyfus-Affäre. Was sie nicht dulden, ist, dass ein Statist oder Komparse sich anmaßt, die etablierte Ordnung zu stören und die Hauptrolle zu spielen. Dieses streng materialistische Denken erzeugt ein monströses Amalgam, wie es sich die phantasievollste Judenfeindschaft nicht hätte träumen lassen. Der Jude und der Nazi sind zwei Varianten ein und derselben Funktion, wandelbare Gestalten eines Ersatzopfers, das die Gewalt der Arbeiter auf sich zieht und in eine Falle lockt. So gipfelt der Wille, den Thron des Proletariats zu verteidigen, in der Leugnung des Genozids und der einfachen Gleichsetzung von Folterer und Gefoltertem.

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