Parataxis
Gerhard Scheit
Rechtspositivismus und politische Theologie im jüdischen Staat
Zum Konflikt über die Justizreform in Israel – mit einem Nachtrag zum 7. Oktober
Wenn in Politik und Öffentlichkeit der postnazistischen Welt direkt oder indirekt die Annahme als Gewissheit ausgegeben wird, dass Demokratie und Völkerrecht wie geschaffen seien, eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern, handelt es sich sozusagen um einen hypothetischen Imperativ nach Auschwitz – also einen Imperativ nach dem Muster: Wenn du Y willst, tue H!, der etwa auch lauten könnte: Si vis pacem, para bellum (Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor). Beim kategorischen und praktischen Imperativ hingegen wird übers Hypothetische gerade hinausgegangen, indem Mittel und Zweck in einem wie auch immer kausal vorgestellten Zusammenhang nicht voneinander getrennt zu denken sind: negativ beim kategorischen, wie ihn Adorno formulierte, dadurch, dass vom Mittel überhaupt nicht gesprochen wird; positiv beim praktischen, wie er erst noch zu formulieren wäre, darin, dass es in Gestalt des jüdischen Staats mit dem Zweck wirklich zusammenfällt: Geschaffen, jedem weiteren Versuch in irgendeinem Staat auf der Welt der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung vorzubeugen und entgegenzuwirken, ist er selbst bereits als dieser Zweck anzuerkennen. Denn wenn beim praktischen Imperativ von Kant die »Idee der Menschheit« der »Zweck an sich selbst« ist – praktisch darin, dass er den Formalismus in der Maxime des kategorischen transzendiert – hat »Hitler … den Menschen im Stande der Unfreiheit«, der nun einmal in der Existenz von Staaten (als notwendiger Bedingung des Kapitalverhältnisses) begründet liegt, auch einen neuen praktischen Imperativ aufgezwungen, der auf die Mittel-Zweck-Relation zielt, wovon der kategorische schweigt: nämlich den Staat derer als Zweck an sich selbst zu bestimmen, welche aus jener Idee der Menschheit (durch die »pathischen Projektionen« einer allgegenwärtigen »verfolgenden Unschuld«, die partout in ihnen die »abstrakte Dimension« des Kapitals verkörpert sehen will) nicht nur ausgeschlossen, sondern mit diesem Ausschluss praktisch und vollständig vernichtet werden sollten. Der antizionistische Hass fordert im Sinne negativer Urteilskraft eben darin den Superlativ heraus: Nicht nur handelt es sich um die zeitgemäß geschärfteste Form des Antisemitismus, er gibt zugleich den politischen Geltungsgrund dieser (um es einmal nicht in den Begriffen der Psychoanalyse oder der politischen Ökonomie auszudrücken) größten und wirkungsmächtigsten Lüge der sogenannten Menschheit am reinsten zu erkennen: die Juden dürfen keinen eigenen Staat haben, weil sie zum Zweck ihrer Vernichtung jederzeit frei verfügbar sein sollen, wo, wie und wann immer Kapitalverhältnis und Weltmarkt auseinanderzubrechen drohen.
Alex Carstiuc
Krieg am Jom Kippur
Der verdrängte Überfall auf Israel 1973
Der Jom-Kippur-Krieg, Ramadan-Krieg oder Oktoberkrieg stellt bis heute eine der größten Bedrohungen des jüdischen Staates seit dessen Gründung dar. Bei dem anfangs verheerend erfolgreichen Angriff auf den Judenstaat handelt es sich um einen in Europa und der Linken weitestgehend verdrängten Krieg, widerlegt er doch sowohl das Zerrbild des von allen Seiten unterstützten, und darum militärisch stets überlegenen und siegreichen Israel als auch das Bild der sich permanent in der Opferrolle befindlichen arabischen Welt oder des sogenannten globalen Südens. Zudem wird deutlich, dass es sich keineswegs nur um einen regionalen Konflikt zwischen Israel und den ›Palästinensern‹ handelt, sondern um einen jahrzehntewährenden Krieg der ganzen arabischen Welt und des realsozialistischen Lagers gegen den kleinen Judenstaat. Heute, fünfzig Jahre später, kämpft Israel wieder um seine Existenz; diesmal gegen islamistische, vom iranischen Regime unterstützte nicht-staatliche Milizen und Terrorrackets. Während im Jom-Kippur-Krieg keine jüdischen Ortschaften direkt angegriffen werden konnten, gelang es den islamistischen Mörderbanden dieses Mal, tief ins israelische Staatsgebiet einzudringen: die Regierung hatte die Gefahr nicht kommen sehen, was die Erinnerungen an die Vorgeschichte des Jom-Kippur-Kriegs weckt.
Jonathan S. Tobin
Jom Kippur 50 Jahre später
Golda Meirs Ruf neu überdacht
Fünfzig Jahre später befindet sich Israel aus vielerlei Gründen in einer weitaus stärkeren Position als zu Jom Kippur 1973. Dennoch steht das Land weiterhin unter Druck – sei es der der Freunde oder der der Feinde, wie dem potenziell mit Atomwaffen ausgerüsteten Iran. Meir hatte viele Fehler gemacht, und es ist nicht wahrscheinlich, dass die Generation, die diese Krise miterlebte, jemals dazu gebracht werden kann, ihr zu verzeihen. Aber ihre Nachfolger täten gut daran, sich ihren Zynismus gegenüber den internationalen Beziehungen und ihre Einsicht in das Erfordernis politischer Selbständigkeit in dieser Welt zum Vorbild zu nehmen. Auch wenn manche ihre Haltung als Relikt einer vergangenen Ära der zaristischen Unterdrückung und des Holocausts abtun, ist Golda Meirs unnachgiebiges Beharren auf der Verteidigung der Interessen ihres Landes und, wo immer möglich, auf dem Vorzug greifbarer strategischer Vorteile gegenüber der Sympathie einer internationalen Gemeinschaft, die Israel heute so feindselig gegenübersteht wie vor einem halben Jahrhundert, genauso richtig wie damals.
Florian Markl
Die amerikanische Iran-Lobby: Wenn eine Verschwörung nicht nur Theorie ist
Was genau Malleys erzwungenen Abgang als Iran-Sonderbeauftragter im April 2023 bewirkte, ist nach wie vor unklar. Bekannt wurde lediglich, dass er auf unbezahlten Urlaub geschickt wurde, nachdem ihm offenbar wegen eines problematischen Umgangs mit geheimen Unterlagen die Sicherheitsfreigabe entzogen worden war. Um welche Materialien es sich dabei gehandelt hat und worin sein missbräuchlicher Umgang bestanden haben soll, darüber hat die US-Regierung bis heute keine Auskunft erteilt.
Die Informationen, die über die Malley-Affäre bisher an die Öffentlichkeit gekommen sind, stammen pikanterweise zumeist nicht von amerikanischen Behörden, sondern ausgerechnet mit der Tehran Times von einer Tageszeitung, die dem iranischen Regime nahesteht. Mitte Juli etwa berichtete das Blatt, Malleys Suspendierung sei die Folge von »geheimen Gesprächen mit einem hochrangigen iranischen Diplomaten bei den Vereinten Nationen und seinen verdächtigen Interaktionen mit inoffiziellen Beratern iranischer Herkunft« gewesen.
Florian Ruttner
Wiederkehr des Immergleichen im Antisemitismus – erläutert am Beispiel eines Antizionisten der ČSSR
Gegen diese Einsichten fährt Kolár die auch im Oktober 2023 wieder beliebt gewordene Argumentationsstrategie, quasi mit dem Hinweis, dass all die Vernichtungsdrohungen (wenn Kolár sie nicht überhaupt leugnet beziehungsweise herunterspielt) ja nicht im Vakuum entstanden seien, diese in einen größeren Kontext gestellt werden müssen, hier den eines auf einen billigen Ökonomismus heruntergebrochenen Imperialismus. Denn es gehe »in Wirklichkeit nicht um einen Konflikt des kleinen, schwachen Israels mit zwei Millionen Einwohnern mit der starken arabischen Welt von 80 Millionen, sondern um den Konflikt der industriell nicht entwickelten arabischen Länder mit den am meisten industrialisierten und reichsten imperialistischen Mächten.« Israel würde da zwar einerseits nur eine Nebenrolle spielen, aber eben unter mächtigem Schutz stehen. Folglich, so dreht Kolár das Argument um und vertauscht wieder Täter und Opfer, erinnere – mit Blick auf die Vergangenheit – »Israel deshalb nicht an die Tschechoslowakei im Jahre 1938, sondern weit eher an die Sudetendeutschen dieser Zeit. Die wurden auch der Welt als ungeschützte verfolgte Minderheit vorgestellt, in Wirklichkeit aber hatten sie das starke nazistische Deutschland im Rücken.« Offenbar war Kolár durchaus bewusst, wie skandalös sein Vergleich war, denn schon im nächsten Satz betonte er, diesen gar nicht gezogen zu haben, er wolle »damit klarerweise kein Gleichheitszeichen zwischen die nazistischen Sudetendeutschen und die Israelis setzten«. Es folgt aber keine Erklärung, warum er das, was er doch gerade getan hat, doch nicht getan hat, sondern ein Hinweis, auf den sich bis heute alle, die gerne kontextualisieren und die vom horror vacui geplagt sind, einigen können: »Die Israelis gerieten selbst durch die Politik ihrer Regierung in diese nicht beneidenswerte Lage der Verbündeten des Imperialismus gegen den weltweiten Fortschritt.« Die Juden sind selbst schuld, und damit ist wohl das zentrale durchgängige Motiv jeglichen Antisemitismus auf den Punkt gebracht.
Marlene Gallner
Einheit des Reichs
Über den Vorwurf des Provinzialismus im Historikerstreit 2.0
Das Wort Provinz stammt ursprünglich aus dem Lateinischen: pro ›für‹ und vincere ›siegen‹. Im Römischen Reich bezeichnete es einen »Geschäfts- und Herrschaftsbereich«, ein »unter römischer Oberhoheit und Verwaltung stehendes Gebiet außerhalb Italiens«. Laut dem Wörterbuch der deutschen Sprache bedeutet Provinz: »das von den (modischen) Neuerungen, dem kulturellen Geschehen der Hauptstadt, einer Großstadt wenig berührte Hinterland«. Der etymologische Blick gibt Auskunft darüber, wie sehr es bei der einstigen Bedeutung – und das völlig unbewusst – bleibt, wenn heutige Postcolonials der deutschen Erinnerungskultur zum Vorwurf machen, provinziell zu sein. Dass darin herrschaftliches Denken enthalten ist, liegt auf der Hand. Bekanntlich war Rom im Kolonialgebilde des Römischen Reiches das Zentrum. Die Eigenständigkeit der jeweiligen Provinzen, die es zu verwalten hatte, bedeutete stets eine potenzielle Bedrohung für die Einheit. Es scheint, dass die heutigen Postcolonials sich ebenso wie einst Rom von den Provinziellen bedroht sehen. Es geht ihnen um die Herstellung einer Gemeinschaft durch gemeinsames, inklusives ›Erinnern‹. Der Ruf nach Inklusion blendet völlig aus, in was dabei inkludiert werden soll. Und was den postkolonialen Vertretern zufolge nicht mehr gestört werden soll durch provinzielle Abweichler. Im sogenannten Erinnerungsdiskurs gibt es keinerlei Bewusstsein über den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang. Wahrheit wird auf Faktizität reduziert. So, wie die Naturwissenschaftler keinen Begriff von Natur zu haben brauchen, da sie nur erkennen, was den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgt, bewegen sich die Erinnerungsforscher lediglich im ›Erinnerungsdiskurs‹. Sie haben keinen Begriff von gesellschaftlicher Totalität, der aber notwendig ist, um den Antisemitismus überhaupt begreifen zu können.
Julius Gruber
Postkoloniale Substitutionstheologie
Über Achille Mbembes ›Nekropolitik‹
Im Frühjahr 2020 entbrannte in Deutschland eine Debatte um Achille Mbembe. Dabei ging es um das Verhältnis der Shoah zu anderen modernen Gewaltverbrechen, den Status der Shoah in der deutschen Erinnerungskultur sowie die definitorische Reichweite des Antisemitismus-Begriffs. Seither gehört die Mbembe-Debatte zum Referenzpunkt aller weiteren Diskussionen über den Antisemitismus des ›globalen Südens‹, den Elementen antisemitischer Ideologie in postkolonialen Theorien, wie es das niederträchtige Schauspiel, das vor, während und nach der documenta 15 ablief, zeigte. Es ist zur schlechten Mode verkommen, vom Inhalt inkriminierter Äußerungen zu abstrahieren, um vermeintliche ›Sprechpositionen‹ zum bestimmenden Kriterium für die Beurteilung antisemitischer Äußerungen zu machen. Hier soll es daher darum gehen, Mbembes Verhältnis zum Judenstaat sowie zum Nationalsozialismus zu thematisieren. Keineswegs ist es so, dass sich Mbembe, wie die Postcolonials stets weismachen wollen, ›nur‹ über den israelischen Kolonialismus äußere und die Judenvernichtung in einer allgemeinen Gewalt- und Kolonialgeschichte ›bloß‹ auflöse; er greift das Judentum selbst an.
Diskussion
Die Einführung der NS-Vernichtungspolitik ins Judentum
Alex Gruber und Julius Gruber über Achille Mbembe
Alex Gruber: Während du mir in deiner Antwort darin zustimmst, dass Mbembe den Nationalsozialismus und den Holocaust in den Zionismus integriere, bin ich in meinen Überlegungen gewissermaßen einen Schritt weitergegangen und habe Mbembe zum Vorwurf gemacht, die NS-Vernichtungspolitik »durch den Zionismus quasi ins Judentum« selbst zu integrieren. Das ist es auch, was ich am Ende meines sans phrase-Aufsatzes versucht habe, noch einmal begrifflich zu fassen, als ich auf den Unterschied zwischen Judith Butler und Achille Mbembe zu sprechen kam. Während Butler das Diaspora-Judentum quasi zum ›wahren Judentum‹ überhöht und hypostasiert und dem aus Angst vor Verfolgung und Vernichtung entstandenen Zionismus mit seinem unterstellten »Rückgriff auf schrankenlose Aggression im Namen der ›Selbstverteidigung‹« vorwirft, dieses ›wahre Judentum‹ verraten zu haben, verlegt Mbembe die »Viktimisierungsneurose« und die daraus resultierenden Rachegelüste geradezu ins Judentum selbst.
Essay
Jean Améry
Zwischen Vietnam und Israel
Das Dilemma des Engagements (1967)
Wie weit war ich – jenseits natürlich aller unmöglichen Vergleiche – entfernt von Sartre? Wie weit von Enzensberger und allen linksintellektuellen Engagierten, für die der Bestand des Staates Israel ein »Problem« zwar ist, aber keine Sache ihres eigenen Platzes in der Welt? Sternweit. Wir, die wir als Träger jüdischen Schicksals – wir mögen Voll- und Glaubensjuden sein oder total assimilierte Atheisten – uns haben erkennen müssen, sind, seit Israel sich in Gefahr befindet, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die gestern die unsrige war. Wir stehen, sofern wir jedenfalls der Generation angehören, die Hitlers Verbrechen im Fleische erfuhr, wiederum so allein da wie zwischen 1933 und 1945. Wir können nicht mehr wählen, können uns nicht mehr wählen: Denn wir wurden schon gewählt, als Opfer, und es bestehen manche Aussichten, daß wir die damals uns auferlegte Rolle noch einmal werden spielen müssen.
Marlene Gallner
Die Unmöglichkeit der Wahl im Angesicht der Katastrophe
Jean Améry über linksintellektuelles und authentisches Judesein
Nicht frei jedoch ist der jüdische Linksintellektuelle in seiner Wahl, die ja keine ist, für Israel. Er ist angewiesen auf den Staat, der ihm potenzielle Zuflucht garantiert. Ist diese einzige Zufluchtsstätte von ihrer Auslöschung bedroht, gibt es keine Alternative als sich für Israel zu ›engagieren‹. »Wir, die wir als Träger jüdischen Schicksals – wir mögen Voll- und Glaubensjuden sein oder total assimilierte Atheisten – uns haben erkennen müssen, sind, seit Israel sich in Gefahr befindet, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die gestern die unsrige war … [Der jüdische Linksintellektuelle] ist – seit sich die arabischen Armeen um Israel sammeln … seit davon gesprochen wird, die Israelis ins Meer zu stoßen – kein Linksintellektueller mehr, nur noch ein Jude.« Die an Sartre geschulte »Eigentlichkeit«, auf die sich Améry im letzten Satz von Zwischen Vietnam und Israel bezieht, ist bei ihm keine im Sinn des Jargons der Eigentlichkeit, sondern im Sinn genau dieses Satzes: »… nur noch ein Jude«. Amérys eigenem »idiosynkratischem Existenzialismus« gemäß ist die Eigentlichkeit eine negative – Erkenntnis der Todesdrohung.
Vladimir Jankélévitch
Israel ist das Gewissen der Welt von heute
1973
Hinter diesem allgemein verbreiteten guten Gewissen versteckt sich möglicherweise ein obskures Schuldgefühl. Der unauslöschliche Gräuel lastet auf dem modernen Menschen wie ein Gewissensbiss, und niemand ist daran gänzlich unschuldig. Denn gegenwärtig ist es angemessen, das Problem vom schrecklichen Vernichtungsvorhaben aus zu betrachten; ein Vorhaben, das fast erfolgreich gewesen wäre und von dem gewisse Leute vielleicht noch immer bedauern, dass es so kurz vor dem Ziel gestoppt wurde. Noch eine kleine Anstrengung, noch sechs weitere Millionen und es hätte überhaupt keine Juden mehr gegeben.
Markus Bitterolf
Zu Jankélévitch, zu Israel
Bedrückend, wie aktuell der Text in seinen zentralen Aussagen bleibt. Jankélévitch bringt die damalige wie heutige Bedrohung der Juden in aller Kürze auf den Punkt: die Juden sind bedroht vom palästinensischen Terror in und außerhalb Israels, sie sind zudem der Gleichgültigkeit gegenüber dem Judenhass ausgesetzt, die selbst schon antisemitisch ist, weil sie dessen Taten grundsätzlich relativiert; auch thematisiert er die antizionistische Mehrheit innerhalb der Vereinten Nationen. Ein Jahr vor Jankélévitchs Statement formulierte ein Schriftsteller im Tessin es ebenso unmissverständlich: die völkerrechtliche Verurteilung des jüdischen Staats durch die UNO bestätigt »Politik, die kein anderes Ziel kennt als Israels Vernichtung …, eine Politik, die keine Mittel scheute und scheut, dieses Ziel zu erreichen.« Dabei haben gegenüber Israel, wie Jankélévitch es formuliert, »die Nationen der Welt, und an erster Stelle die Bezwinger Deutschlands, eine besondere Schuld aufgenommen: für all das, was sie nicht getan haben; für all das, was sie hätten tun sollen.« Dass die UNO aus dem Kriegsbündnis gegen Nazideutschland hervorgegangen ist und in ihrer Mehrheit Israel anerkannt hat, nimmt Jankélévitch zum Anlass, von ihren Mitgliedern Verantwortung für den Schutz des jüdischen Staats einzufordern. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass dies nur eine moralische Forderung gegenüber den Vereinten Nationen bleibt und dass das Völkerrecht nur ein Resultat der gewaltsamen internationalen Beziehungen ist, welches darüber hinaus gegen Israel gewendet wird.
Alex Gruber
Der erste Poststrukturalist: Zu Heideggers Ereignis-Philosophie
Von Martin Heideggers Kampf gegen das »planetarische Verbrechertum« zu Alain Badious globalisierter »Intifada«
Genau in dieser Hinsicht erweist sich Heideggers Antisemitismus als der zukunftsweisende. Nicht umsonst erinnert die Vorstellung einer jüdischen Verfallenheit an das bloß Seiende, die in ihrem Ausweichen vor dem Tod niemals ans Sein rühren könne; und der Opfer und Vernichtung entgegenzusetzen seien, um der Vor- und Übermacht eben jenes andrängenden Seienden zu wehren, an die Parole, die Islamisten heute dem als jüdisch verstandenen Westen wie dem jüdischen Staat Israel entgegenrufen: »Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod!« Nach der militärischen Niederringung des Nationalsozialismus nimmt Heidegger dann eine weitere und letzte Überbietung seiner ›Kehre‹ zum ›Ereignis‹, die eine Abkehr von der Subjektivität war, vor, die ihn inhaltlich endgültig zum großen Referenzpunkt des Poststrukturalismus werden ließ, der sich fasziniert zeigt von Heideggers stets aufs Neue variierter Formulierung, der Mensch sei lediglich als eine Ereignung, ein Effekt oder ein Anhängsel des Seins zu begreifen. »Die Lehre von der Vorgängigkeit des Ganzen über die Teile verzückte in den Jahren um die erste Publikation von Sein und Zeit als Leitbild das gesamte apologetische Denken wie heute noch die Adepten des Jargons«, schrieb Adorno 1964 bereits einige Jahre vor Heideggers endgültigem Reimport nach Deutschland über französische Poststrukturalisten wie Jacques Lacan, Michel Foucault oder Jacques Derrida.
Alain Finkielkraut
Revisionismus von links
Überlegungen zur Frage des Genozids. Vorabdruck
Das Offensichtliche ist widerlegt: nicht aus Hass auf die Juden wird Hitler von seinem Versuch des Völkermords freigesprochen, sondern aus abstrakter Liebe zur Arbeiterklasse. Das Proletariat ist nur deshalb völlig unbesiegbar, weil es absolut versklavt ist, und es verkörpert die Idee der Menschheit nur deshalb, weil »die Menschheit allein, unendlich in ihrer Not und in ihrem Recht«, in ihm fortbesteht. An den Arbeitern vollendet sich eine Ungerechtigkeit der Gattung: keine Klasse, keine Nation oder Ethnie darf ihnen diesen Ehrentitel streitig machen. Die die Gaskammern leugnen, klagen die Juden nicht an, jüdisch zu sein (das heißt anders als die anderen, monotheistisch, aufklärungsfeindlich oder geizig), sondern den Gang der Geschichte durcheinanderzubringen und gegen die Dialektik zu verstoßen, indem sie für sich selbst ein Vorurteil in Anspruch nehmen, das größer sei als das Unrecht, das die Arbeiterklasse tagtäglich erleidet. Die moderne Geschichte will nur ein Verbrechen, und zwar das, welches jeden Tag gegen die Arbeitskraft verübt wird. Aufgabe der Revolutionäre ist es, unaufhörlich an die Schärfe dieses Skandals zu erinnern und zu verhindern, dass die Gesellschaft ihn zugunsten von Nebenpauschalen vergisst. Die den Antifaschismus heute für Mythologie und die Geschichte des Genozids für Augenwischerei halten, sind nicht judenfeindlicher als die Sozialisten zur Zeit der Dreyfus-Affäre. Was sie nicht dulden, ist, dass ein Statist oder Komparse sich anmaßt, die etablierte Ordnung zu stören und die Hauptrolle zu spielen. Dieses streng materialistische Denken erzeugt ein monströses Amalgam, wie es sich die phantasievollste Judenfeindschaft nicht hätte träumen lassen. Der Jude und der Nazi sind zwei Varianten ein und derselben Funktion, wandelbare Gestalten eines Ersatzopfers, das die Gewalt der Arbeiter auf sich zieht und in eine Falle lockt. So gipfelt der Wille, den Thron des Proletariats zu verteidigen, in der Leugnung des Genozids und der einfachen Gleichsetzung von Folterer und Gefoltertem.
Gerhard Scheit
Naturen
2. Teil: Rohes chaotisches Aggregat und sich selbst organisierende Wesen
Weil der Mensch nur als moralisches Wesen zum Endzweck der Schöpfung taugt, verwandelt sich nicht nur der Gottesbeweis in ein moralisches Postulat, es gibt für die Menschen als Lebewesen auch keine Versöhnung mit der Natur. Also gilt für diese letzten Paragraphen der Kritik der Urteilskraft dann doch der Einspruch der Dialektik der Aufklärung, so wenig er auch der Kritik der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft in den vielen vorangegangenen Paragraphen gerecht wird: In der Methodenlehre vollzieht sich noch einmal, was Adorno und Horkheimer die Revokation von Kants eigenem Denken nennen: die Selbsterhaltung, wenn sie sich auf den Endzweck beschränkt, degradiert die innere und äußere Natur der Individuen zum Mittel des szientifischen Prinzips. Die Frage, ob die Menschen nicht glückselig sein könnten, ohne sich als Endzweck der Schöpfung zu verstehen, in dem Wissen nämlich, die Schöpfung als Selbstzweck zu begreifen, kommt Kant so wenig in den Sinn wie der Gedanke, dass zwar die Bedingungen, wodurch jeder die Möglichkeit haben soll, glücklich zu werden, selbst nicht übersinnlich sind und schlechthin unbedingt sein können, aber eben diese Unbedingtheit doch gerade dem Anspruch zukäme, sie für alle durchzusetzen. Der praktische Imperativ, den Menschen niemals bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Selbstzweck zu behandeln, erhielte aber allein dadurch seine volle inhaltliche Bedeutung und unterschiede sich nicht mehr von dem Marxschen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes und verlassenes Wesen ist.
Lukas Kurth
Weltraum-Leninismus
Über die unheimliche Popularität des Dietmar Dath
Vor diesem Hintergrund erscheint Daths Apotheose des technologischen Fortschritts als Voraussetzung gesellschaftlichen Fortschritts lediglich folgerichtig – ein derartiger »Ingenieursblick« ist für ihn geradezu die »ästhetische Qualität der Science-Fiction« schlechthin. Die vollständige Computerisierung ist sein dahingehendes Telos sozialistischer Planung, deren Scheitern in der Vergangenheit – neben der äußeren Ursache des Konkurrenzdrucks der kapitalistisch wirtschaftenden Anrainerstaaten – auch in der inneren Ursache der mangelnden Verfügbarkeit für die bedarfsgerechte Produktion und Verteilung elementarer Informationen und deren algorithmisierter Verarbeitung begründet liege. Die moderne Automaten- und Algorithmentheorie hingegen liefere genau jenes bislang fehlende Werkzeug zur gesellschaftlichen Umsetzung der »Idee, daß man prinzipiell jeden Vorgang, ob von Menschen und anderen Subjekten mit Zwecken und Mitteln veranstaltet oder autonom und naturwüchsig, als Rechnung beschreiben kann – auf dem gegenwärtigen Stand der Technik also: als Ausführung eines Computerprogramms.«
Aljoscha Bijlsma
Einstand des Sinnlosen
Zu Theodor W. Adornos Ästhetik nach Auschwitz. Vortrag, gehalten am 27. Juli 2023
Zwischen Claude Lanzmann und Imre Kertész gibt es viele Gemeinsamkeiten. Sie haben beide der Aufgabe, die Wahrheit mitzuteilen, die Erfahrung der Objektivität zu ermöglichen, in völliger Einsamkeit sich überlassen. Sie haben versucht, in der Isolation, allein mit ihrem Material, das Äußerste in eine ästhetische Form zu objektivieren. Bei Lanzmann ist das Material eine Sammlung von 200 Stunden Filmmaterial, das unter extremsten Bedingungen aufgenommen wurde, bei Kertész ist das Material seine eigene Erinnerung. Beide betonen die akribische Konstruktion, beide finden durch akribische Konstruktion Wege, das schlechthin Inkommensurable nicht kommensurabel zu machen – ein solches Vorhaben wäre blanker Hohn – aber mitteilbar, und ermöglichen für den Betrachter die Erfahrung von Objektivität.