Heft 21, Winter 2023

Parataxis

Diskussion mit Simone Dinah Hartmann

Frauen, Leben, Freiheit im Iran

Es fällt auf, dass von Seiten der Palästinenser zwar in Hinblick auf die Proteste im Iran nichts zu hören ist, andererseits jetzt Unruhen in Ostjerusalem eingesetzt haben. Möglicherweise hat hier auch das Mullah-Regime, das sich gerade sehr in Bedrängnis sieht, seine Finger im Spiel. Im Iran selbst dürfte diese Frage, also die Identifikation mit den Palästinensern, kaum mehr eine Rolle spielen als Gegenmittel zu den Protesten. Bei einzelnen NGOs und Menschenrechtsaktivistinnen und ‑aktivisten, die sich außerhalb des Iran für die Proteste engagieren, mag das anders sein. Man hörte auch bei den Protesten keinerlei Parolen gegen die Sanktionen, gegen die USA, gegen Trump usw. In Teheran findet jetzt ein großer Teil der Demonstrationen in der Straße statt, die nach ›Palästina‹ benannt wurde, in der Palästinastraße also, wie sie wahrscheinlich in allen iranischen Städten zu finden ist. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass bisher nichts darauf hinweist, dass sich der Protest oder ein Teil davon zugleich gegen Israel wenden und sich Solidarität mit den Palästinensern auf die Fahnen schreiben würde. Schon vor Jahren konnte man sehen, dass Studenten um die Fahnen Israels und der USA, die ihnen sozusagen zum Herumtrampeln vor die Füße gelegt wurden, einen Bogen gemacht haben.

Florian Markl

Zwei Jahre Abraham-Abkommen

Der jahrzehntelange Boykott Israels durch die Arabische Liga war einst der Versuch, mit wirtschaftlichen Mitteln »die Ziele zu verwirklichen, die mit dem militärischen Feldzug nicht erreicht werden konnten«, so der spätere ägyptische UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali im Rückblick. Nach der arabischen Niederlage im israelischen Unabhängigkeitskrieg ging es also darum, den jüdischen Staat ökonomisch zu strangulieren und auf diesem Wege dessen Existenzbasis zu zerstören. Rund drei Jahrzehnte gelang es den arabischen Staaten tatsächlich, mit ihrem Boykott wirtschaftlichen Druck auszuüben, nicht zuletzt, weil westliche Firmen aus Angst um ihre Geschäfte in der arabischen Welt mit den Boykottbüros kooperierten und Niederlassungen in Israel schlossen oder gar nicht erst eröffneten. Aber seit den 1970er Jahren begann die wirtschaftliche Blockade infolge der Verabschiedung von Anti-Boykott-Gesetzen in mehreren westlichen Staaten deutlich an Kraft zu verlieren. Der Boykott wurde zunehmend nicht oder nur mehr sehr lückenhaft befolgt, und mit dem israelisch-palästinensischen Friedensprozess in den 1990er Jahren wurde er von vielen arabischen Ländern ausgesetzt. Auch wenn er nie offiziell aufgehoben wurde, ist er heute praktisch tot.

Alex Feuerherdt

Ein antizionistischer Frontalangriff

Die documenta fifteen und der Hass gegen Juden

Der Anti-Israel-Aktivismus, das war schon im Januar 2022 klar, würde bei der Kunstschau also zahlreich, prominent und an zentralen Stellen vertreten sein. Später fanden der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Kassel, Markus Hartmann, und die Tageszeitung Die Welt durch eine datenbankgestützte Recherche heraus, dass sogar 84 Personen mit klaren BDS-Sympathien an der documenta mitwirken. In vielen Medien wurde die Beteiligung von BDS-Unterstützern an der documenta schon zu Beginn dieses Jahres kritisch gesehen. Der Vorstand des documenta Forum Kassel, das ist der Freundeskreis der documenta, bezog sich dagegen explizit positiv auf die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die sich gegen den Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages richtet. Die documenta selbst betonte, gegen Rassismus und Antisemitismus zu sein, aber auch für die uneingeschränkte Kunstfreiheit. Ähnlich äußerte sich der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle als Vorsitzender des documenta-Aufsichtsrates, für den keine »roten Linien« überschritten waren. Diese Erklärungen liefen darauf hinaus, dass niemand offiziell unter Druck gesetzt oder gar von der documenta ausgeladen werden sollte, auch wenn er BDS unterstützt. Das aber tangierte den Bundestagsbeschluss, in dem klar festgehalten ist, dass die Äußerungen und Aktivitäten der BDS-Kampagne keine Kritik am israelischen Regierungshandeln sind, sondern schlicht Antisemitismus. Wer sich zu den Zielen von BDS bekennt, soll nach diesem Beschluss, wie bereits erwähnt, nicht mit öffentlichen Geldern gefördert werden. Die documenta aber wird aus öffentlichen Mitteln finanziert. Zwar ist der Beschluss des Bundestages kein Gesetz, sondern nur eine Handlungsempfehlung; gleichwohl beeinflusst er in konkreten Fällen die Vergabe staatlicher Zuwendungen. Nähme man ihn ernst, dann hätte Kulturstaatsministerin Claudia Roth eigentlich alle Kunstaktivisten, die sich zu BDS bekennen, ausladen lassen müssen.

Werner Fleischer

»Nie hätten wir uns vorstellen können…«

Gegenaufklärung statt Kunst: Über die antisemitische documenta fifteen

Die von Saul Friedländer in seinem Buch Kitsch und Tod ausgewiesenen Faktoren des Kitsches waren allesamt auf der documenta fifteen zu bestaunen. Eine archaische Utopie und die böse Moderne. Ein Ritus des Übergangs, der Initiation. Ein Geburtsakt der Reinigung. Uralte Kulte, legendäre Völker. Die Wurzel gegen das Wurzellose. Das Nicht-Erwachsen-Werden. Der Appell an vergangene Mythen, die eine immerwährende Gegenwart verkünden sollen. Trommeln und Blasmusik nahmen bei der Eröffnung den Singsang vieler Beiträge vorweg, der Gebeten ähnlich von der Öffentlichkeit besonders gepriesen wurde. Dem Kitsch stand als passendes Gegenstück und »Kurzschlussverbindung«, als »Juxtaposition«, die Ästhetisierung historischer Ereignisse in Bildern der Faszination von Tod und Zerstörung zur Seite. Die Bilderarrangements der Kollektive, die wie der Geist aus der Flasche immer weitere Kollektive mobilisierten, und sich schon in der bloßen Zahl als eine Masse (circa 1500 Künstler, wieviel es tatsächlich waren, weiß keiner), als eine Macht exponierten, ästhetisierten das Elend der Armen und Unterdrückten als apokalyptische Vision eines Endkampfs zwischen Böse und Gut. Die von der Gruppe Subversive Film veranstaltete Filmreihe Tokyo Reels wurde mit dem Kunstlabel einer Dokumentation im Arthouse-Kinosaal versehen, um den Mord an Juden auf dem Tel Aviver Flughafen durch japanische Antisemiten als Heldengeschichte des ›Widerstands‹ legitimieren zu können. Eine aktualisierte Version von Kitsch und Tod, Widerschein des Nazismus, so der Untertitel von Friedländers Buch, reichte bis in die Gegenwart nach Kassel, ins Jahr 2022, im dortigen Ringelreihen auf der Halfpipe und dem Aufruf ›Free Palestine‹.

Alex Gruber

Revisionismus von links

Der ›multidirektionale‹ Angriff auf das Holocaustgedenken und den jüdischen Staat

Deutlich wird dies, wenn mit Amos Goldberg einer der vom Goethe-Institut geladenen Diskutanten der lautgewordenen Kritik mit der Formulierung entgegentreten wollte, es gehe der geplanten Veranstaltung nicht darum, »Vergleiche zwischen dem Holocaust und der Nakba zu ziehen«, sondern um die Verarbeitung katastrophaler Erinnerungen an Ereignisse, »die sich in einer Situation des Konflikts, der Besatzung und der Apartheid stark voneinander unterscheiden«. Für diese anti- oder postkolonialistisch argumentierenden Einwände mögen sich die erinnerten Ereignisse an der Oberfläche zwar so stark voneinander unterscheiden wie die europäische Besiedelung Nordamerikas oder Südafrikas, die nationalsozialistische Vernichtung des europäischen Judentums oder die kriegerischen Auseinandersetzungen im Zuge der israelischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Zugleich jedoch soll das zugrundeliegende Feld, auf dem sich diese unterschiedlichen Ereignisse abspielen, doch immer dasselbe sein, das durch dieselben Vektoren aufgespannt wird – sodass es notwendigerweise keine prinzipiellen Unterschiede mehr geben kann: Die unter dem Begriff Holocaust gefasste Judenvernichtung soll ebenso »Konflikt, Besatzung und Apartheid« geschuldet sein wie die Nakba genannte Staatsgründung des jüdischen Staates samt ihrer Flucht und Vertreibung einschließenden Auswirkungen auf die arabische Bevölkerung des britischen Mandatsgebiets Palästina, die in nicht geringen Teilen das Resultat der prinzipiellen Ablehnung jüdischer Souveränität durch die arabischen Akteure, ihrer Verweigerungshaltung gegenüber jedem Kompromiss und ihrem bewaffneten Kampf gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen des Jischuw waren.

Thomas von der Osten-Sacken

Vom Elend der Flüchtlinge und derer, die ihnen helfen wollen

Ein Vortrag vom 22. Juli 2021

NGOs, Hilfsorganisationen, Freiwillige etc. sind eingesprungen, wo der Staat versagt hat. Was relativ schnell zu extrem absurden Situationen geführt hat, zeitweilig waren auf einer kleinen Insel wie Lesbos einhundertzwanzig NGOs registriert und achthundert Volunteers unterwegs und man hat in Mytilini mehr von diesen NGO-Westen gesehen als Griechen. Der erste Schritt, wenn relativ unkontrolliert – und da ist Moria noch ein Beispiel von vielen – Hilfsorganisationen von der Leine gelassen werden, ist nichts weiter als eine Privatisierung staatlicher Aufgaben, indem der Staat noch nicht einmal an irgendwelche nichtstaatliche Akteure irgendetwas delegiert, sondern nichtstaatliche Akteure im Prinzip in einem rechtlichen Niemandsland anfangen, ihre eigenen Strukturen aufzubauen. Es gibt dann immer zwei Arten nichtstaatlicher Akteure. Das eine sind all diese Hilfsorganisationen, die, wo immer sie, jenseits einer sehr strikten Kontrolle, anfangen zu arbeiten, generell für sehr problematische Strukturen sorgen und inzwischen jeder, der das mal erlebt hat, vor nichts so viel Angst hat wie vor der sogenannten ›NGOisierung‹ von Konflikten … Das zweite ist, dass natürlich, je weniger rechtliche Strukturen klar sind, je schwächer die eigentliche Exekutive in so einem Camp ist, desto mehr sich diese ganzen Schattenstrukturen entwickeln. Dieses Moria-Camp, wie es vor dem Brand letztes Jahr ausgeschaut hat, war de facto ein Ort, an dem es noch nicht mal eine einheitliche Jurisdiktion gegeben hat. Also es gab das Zentralcamp und dann einen Zelt-Slum drum herum; das Camp-Management, also die Vertretung von Militär und griechischer Regierung, die das offiziell geleitet haben, hat immer erklärt: wir sind für dieses Zeltgebiet nicht zuständig.

Diskussion

Asylrecht und NGOisierung der Asylpolitik

Aber warum fällt es dem Souverän so leicht, sich gerade hier zurückzuziehen? … Nicht zufällig heißt der Asylantrag offiziell: »Antrag auf internationalen Schutz«. Diejenigen, die in einem bestimmten Staat, der die Konvention ratifiziert hat, diesen Antrag gestellt haben, sind damit nur Quasi-Rechtssubjekte oder potentielle Rechtssubjekte, sie sind Konventionssubjekte, könnte man auch sagen, Rechtssubjekte besonderer, weil zu­nächst befristeter Art. Darin sind sie schon einmal den Bürgern des Asyllandes nicht gleichgestellt, und kommen somit als Manövriermasse und po­litisches Druckmittel gegenüber anderen Staaten in Frage. … Insofern bleibt das Asylrecht internationales Recht, bis ins einzelne Verfahren hinein.

Thomas von der Osten-Sacken: Du hast insofern recht, als die Genfer Flüchtlingskonvention nur den Versuch darstellt, auf internationaler Ebene den Anspruch auf Schutz zu verrechtlichen und damit genau in jener Grauzone anzusiedeln ist, in der sich Völkerrecht immer bewegt. … Aber sie geht weiter als etwa die Konvention zum Kriegsrecht und ist letztlich in einer in Nationalstaaten organisierten Welt das einzige, was in politischer Praxis, jenseits moralischer Appelle, bleibt. Diejenigen, die das bestehende Asylrecht weiter aushöhlen wollen, versuchen es aber, auch da stimme ich zu, eher wie eine Art Kriegsrecht zu behandeln.

Ljiljana Radonić

Hast Du schon von der Ustaškinja gehört?

Frauen als Täterinnen unter den NS-Hilfsvölkern

Der zweite entscheidende Unterschied zwischen der Situation im ›Dritten Reich‹ und in der NDH bestand darin, dass die Ustaša es mit einer Situation zu tun hatten, die für Deutschland und weite Teile Österreichs undenkbar war: einem bewaffnetem Widerstand, mit dem rund die Hälfte der Bevölkerung sympathisierte, ihn unterstützte beziehungsweise ihm gar angehörte – einschließlich bewaffneter und für die politische Arbeit zuständiger Frauen, die sich 1942 zur Antifaschistischen Frauenfront Jugoslawiens zusammenschlossen. ›Die Partisanin‹ wurde für die Ustaša folglich zu einem mindestens ebenso bedrohlichen Feindbild wie das der als jüdisch imaginierten liberalen Frauenrechtlerin. Tatsächlich stellte die Partisanenbewegung, welche selbstredend ihrerseits alles andere als frei von patriarchalen Vorstellungen war, aber bewaffnete Kämpferinnen zuließ und als regierende Kommunistische Partei Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals in Jugoslawien das Wahlrecht gewähren sollte, für viele Frauen eine ansprechende Alternative und somit für die Ustaša eine besondere Bedrohung dar. Die Partisanin wurde als vermännlichtes Wesen, Sünderin und Kindermörderin dargestellt, wobei der letztere Begriff gegen Abtreibungen zielte. (102) ›Freie Liebe‹ in der Partisanenbewegung und Abtreibungen wurden am drastischsten diabolisiert. So zeigt eine Ustaša-Karikatur ›freie Liebe‹ in der Partisanenbewegung: eine aufgetakelte Partisanin im aufreizend kurzen, pelzbesetzten Kleid, mit rotem Stern und Hammer und Sichel auf der Mütze, einem Pflaster auf der Wange und einem Maschinengewehr in der einen Hand, greift einem Soldaten mit Handgranate am Gürtel mit der anderen Hand lüstern auf den Oberschenkel. (105) Die Partisanin habe keine Scham, würde jede Nacht den Mann wechseln, somit die Heiligkeit der Familie zerstören und die einfachen kroatischen Soldaten zum Übertritt in die Volksbefreiungsbewegung verführen, so die Ustaša-Ideologie.

Randi Becker

Sexzwangsarbeit in KZ-Bordellen als Tabu in der Erinnerung?

Mit Beginn des Krieges erließ Reinhard Heydrich ein Rundschreiben »Zur polizeilichen Behandlung der Prostitution«, das die Grundlage für die Wiedereinführung von Bordellen und die Kontrolle der Prostitution bis zum Ende des Krieges mit Verweis auf die Notwendigkeit der »Verhinderung von Geschlechtskrankheiten«, die zur »Beeinträchtigung der Wehrkraft« führten, bildete. Dieses Streben nach totaler Kontrolle sollte nicht nur das ›Altreich‹, sondern alle besetzten Gebiete umfassen, und wurde mit der Errichtung verschiedenster Bordellstrukturen (SS-, Wehrmachts-, Fremdarbeiter- sowie KZ‑/Häftlingsbordelle) umgesetzt: »Ein flächendeckendes System staatlich-kontrollierter Bordelle, das aus zivilen, militärischen sowie Bordellen für Zwangsarbeiter bestand und sich zugleich in das System der KZ erstreckte, überzog Europa.« So wurden im Nationalsozialismus einerseits verschiedenste Frauen aufgrund realer oder zugeschriebener Sexualität und Homosexualität als »Asoziale« oder Lesben verfolgt, gleichzeitig übernahm der NS-Staat immer mehr die Rolle des Zuhälters in staatlich angeordneten Bordellen: Im Zuge der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« des Reichsinnenministeriums wurden Prostituierte systematisch überwacht, aus der Öffentlichkeit gedrängt, und durch Polizei und Gesundheitsämter schikaniert. Gleichzeitig ermöglichte aber das Rundschreiben von Heydrich 1939 die Wiedereinführung von Bordellen in »besonderen Häusern«, deren Bereitstellung die Polizei zu organisieren hatte. Es wies zudem auf die Einhaltung »rassischer Grundsätze« hin: jüdische Prostituierte waren seitdem aus der Prostitution, sowohl in Bordellen als auch in den später entstehenden Lagerbordellen ausgeschlossen, ebenso wie jüdische Bordellbesucher. Die Errichtung der Lagerbordelle ab 1942 fügt sich in diese inkohärente Prostitutions- und Sexualpolitik ein.

Colin Kaggl

»… zu Dienern am Ganzen umzuformen«

Anpassung der Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Im Memorandum über die »Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft e. V. und das »Berliner Psychoanalytische Institut«, welches Kursell angeregt hatte, stellten Boehm und Müller-Braunschweig ihre Vorstellung der ›Psychoanalyse‹ vor. Es dient als Diskussionsgrundlage mit nationalsozialistisch eingestellten Psychotherapeuten und Entscheidungsträgern. Demnach sei die Psychoanalyse »weder zersetzend noch undeutsch. … Sie ist, als Wissenschaft, wie jede Wissenschaft auseinanderlegend, analysierend. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit auflösend und zersetzend. Die Psychoanalyse will als Wissenschaft, wie als Therapie die unbewußten Anteile der Persönlichkeit, die den neurotisch kranken Menschen in der Betätigung eines ungebrochenen, aufbauenden, schöpferischen Wollens und Schaffens einengen und behindern, seiner bewußten Verfügung und Verantwortung wieder zuführen. Dadurch wirkt sie nicht auflösend, sondern erlösend, befreiend und aufbauend.« Und in kaum kodierter antisemitischer Manier heißt es weiter: »Es ist zuzugeben, daß sie ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes ist, und daß es darum entscheidend ist, wessen Hand dieses Instrument führt.« Die ›Psychoanalyse‹, die Müller-Braunschweig und Boehm im Sinne hatten, »bemüht sich nicht allein – auf körperlichem Gebiete – sexuell unfähige Menschen zu sexuell fähigen zu machen, sondern überhaupt auf allen Gebieten des Menschseins unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebens- und opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern am Ganzen umzuformen.

Markus Bitterolf / Hans-Peter Gruber

»Ein geborener Mäzen war er tatsächlich«

Interview über Felix Weil anlässlich des Erscheinens einer Biographie und des 100. Gründungsjahrs des Instituts für Sozialforschung

Pollock und Horkheimer haben sich im Februar 1919 noch in München aufgehalten, um dort das Abitur nachzumachen. Beide wollten dann im Sommersemester ihr Studium beginnen. Jedoch haben sich die Ereignisse überschlagen: die Räterepublik wurde im Mai brutal niedergeschlagen. Im Anschluss geriet erst Pollock ins Visier der Polizei, weil Tobias Axelrod, eine hochrangige Person der Räterepublik, dessen Ausweispapiere bei seiner Flucht bei sich hatte. Axelrod wurde zusammen mit Willi Budich und Germaine Krull verhaftet, die vermutlich Pollocks Papiere beschafft hatte, da sie mit ihm und Horkheimer eng befreundet war. Nach der Verhaftung saß Krull in Garmisch im Gefängnis, wo sie Horkheimer besuchte; auf Hin- und Rückfahrt von München nach Garmisch ist dann Horkheimer ausgerechnet mit Ernst Toller verwechselt worden und wurde deswegen mehrere Stunden von einer Art Heimwehr festgesetzt, und beide Male hat er, wie er selbst in einem Interview sagte, Todesangst gehabt, Furcht, »auf der Flucht« erschossen zu werden. Aufgrund dieser Erfahrungen haben Horkheimer und Pollock den Schluss gezogen, München zu verlassen und nach Frankfurt zu gehen, um dort zu studieren. Was man hier anmerken muss: Beide waren keine Anhänger der Revolution.

Wolfgang Pohrt

Aus dem Schriftverkehr

Sechs Briefe

Lieber Klaus,

da die Sache Dich interessiert, sollte der Ältere dem Jüngeren vielleicht kurz erklären, warum Habermas nicht einfach nur nachlässig formuliert, wenn er Unsinn schreibt. Habermas hat stets besonderes Interesse für zwei Dinge gezeigt: für die Identität, früher für die personale (wie kriegt der kleine Hans ein stabiles Ich?), und für die ideale Kommunikationsgemeinschaft. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft aber muß nur in die profane Wirklichkeit überführt werden, um sich als reale Volksgemeinschaft zu entpuppen, und was dem kleinen Hans zur Identität verhilft, ist am Ende das nationale Selbstbewußtsein. Erst die neuere Entwicklung hat gezeigt, welches die angemessenen politischen Inhalte von Denkmustern und Desideraten sind, die als solche schon, also unabhängig vom politischen Inhalt, schon immer falsch waren. Weil ich nun Habermas aus meiner Gebrauchswert- und Soziologen-Zeit als notorischen Verbreiter von Falschmeldungen kenne, schaue ich auch etwas genauer hin, wenn der politische Moralist Habermas sich äußert. Dem Habermas vom Strukturwandel der Öffentlichkeit oder von Arbeit und Interaktion traue ich keine vernünftige Meinung zu, und ich glaube dennoch nicht, daß mein Urteil jetzt auf Voreingenommenheit beruht. Vielmehr ließe sich am Falle Habermas zeigen, wie eine neue Ideologie entsteht: lange bevor die politischen Inhalte deutlich werden und Gegenreaktionen hervorrufen können, werden bestimmte, zunächst als nur abstrakt erscheinende Begriffe salonfähig gemacht, die sich später erst, und dann wie von selbst, mit den anvisierten politischen Inhalten verbinden. Das Gerede von der nationalen Identität beispielsweise wäre 1965 schon deshalb auf taube Ohren gestoßen, weil mit dem damals unbekannten Begriff »Identität« niemand etwas hätte anfangen können. Erst Habermas und seine Crew ([Ulrich] Oevermann) haben mit der Sozialisationstheorie und dem symbolischen Interaktionismus auch den Begriff Identität einer ganzen Generation von Volksschullehrern und Sozialarbeitern eingebläut, die ihrerseits wieder zu seiner Popularisierung beitrug, so daß längst jeder BRD-Massenmensch von seiner Identität sprach, bevor daraus die nationale wurde. Wenn Habermas also wie die Antiimps argumentiert und sagt, daß man auf keinen Fall sich selbst verleugnen dürfe, so ist das keine Unaufmerksamkeit.

Essay

Georg K. Glaser

Aus der Chronik der Rosengasse

Die Rue des Ecouffes, während des Krieges leergemordet, ist heute von zugeflüchteten nordafrikanischen Juden bevölkert. Sie vertragen sich schlecht mit den europäischen. Nach zweitausend Jahren Wanderung durch so verschiedene Welten sind sie sich fremd geworden. Vor meinem Hause stoßen beide Wege aufeinander. Der Wirt unten im Erdgeschoß, Simon, hat guten Willens afrikanische und jiddische Lieder auf seine Tonbänder gespult; es hat ihm eher geschadet. Er fegte vor seiner Tür, als ich einzog. Ich wies auf die drei Fenster über uns, die nun mir gehörten. »Gekauft«, fragte er ungläubig, »wirklich gekauft, die Mauern, alles, gekauft?« Auch Jimmy, der algerische Schwarzhändler, konnte es nicht fassen: »Wie konntet Ihr nur in dieses Viertel ziehen?« Viele fragten es sich, es sprach sich schnell herum. Der erste der Wechsler glaubte wahrscheinlich, wir hätten aus der Welt flüchten wollen, und beruhigte uns schon am zweiten Tage wie ein Dorfältester: »Hier werdet Ihr ruhig leben können. Niemand wird Euch zu nahe treten.« Der zweite, der auch goldene Uhren vertrieb, und Joshua, der ordenbeladene Fallschirmlegionär, vermuteten scheint’s, die geschichtliche Bedeutung des Marais habe uns verleitet: noch in derselben Woche versicherten sie mir, die Wirtschaft sei früher Buchhandlung und Anschrift des ›Bund‹ gewesen, und Trotzky habe zeitweilig über der Küche geschlafen.

Renate Göllner

Georg K. Glaser in der Rue des Rosiers

Im Unterschied zu Geheimnis und Gewalt wirkt die Sprache in der Chronik der Rosenstraße zunächst fast abgeklärt, wie man sich ein Alterswerk vorstellen mag – oder zumindest so, als ob es mittlerweile gute Gründe gäbe, darauf zu vertrauen, dass ein anderer Begriff von Recht sich auch in Frankreich durchgesetzt hat. Der Erzähler, der hier ebenfalls in der Ich-Form, aber anders als in Geheimnis und Gewalt, nicht als fiktive Person, sondern gewissermaßen mit seinem eigenen Namen unterschreibt, wäre in dieser Vorstellung im demokratischen Frankreich endlich zur Ruhe gekommen. Doch dem widerspricht, wie er die Unruhe, die unter den jüdischen Bewohnern des Viertels herrscht, wahrnimmt und beschreibt. Die Gewalt der unmittelbaren Vergangenheit, die sie, sei’s in Europa oder im Maghreb, erfahren haben, wird noch in den komischen und grotesken Situationen im Viertel vergegenwärtigt. Fast erscheint dabei das Quartier Marais wie ein kleiner jüdischer Staat, und die Drohbriefe, die an die Geschäftsleute des Viertels, darunter auch Glaser selbst, verschickt werden, verstärken diesen Eindruck: »Unter der Anschrift stand ›jüdisches Unternehmen‹, auf der Rückseite klebte eine Marke ›resistance AL FATEH‹. Innen stand unbeholfen mit einer Maschine getippt: ›Hau ab! Du wirst aus Frankreich verjagt werden, wie Deine Brüder aus Palästina!‹«

Manès Sperber

Churban oder Die unfaßbare Gewißheit

Hannah Arendt ist tief enttäuscht darüber, daß ihresgleichen den Ausrottern nicht ständig einen heftigen Widerstand oder zumindest die Non-Kooperation entgegen­gesetzt hat. Die Philosophin findet die einzige Erklärung für diese erniedrigende Unterlassung im verbrecherischen Egoismus und in der Verblendung der jüdischen Führer, die durch ihr Zusammenwirken mit den Mördern ihrem Volk die tödlichen Gefahren verhehlt und ihm so den Weg zu den Gaskammern gebahnt haben. Bis zum bitteren Ende hätten sie die Juden mit entwaffnenden Hoffnungen getäuscht. Diese Behauptung, die die bereits erwähnte Äußerung eines unwissenden israelischen Richters wiederholt, ist ein verleumderischer Unsinn. Viele unter uns kennen die unsagbare Bitternis der Erinnerung daran, daß Millionen Männer und Frauen unseres Stammes, aller Mittel der Selbstwehr beraubt, getötet wor­den sind wie das Vieh in den Schlachthäusern. Ich habe die pathetischen, aufrichtig oder vorgeblich religiösen und nationalen Deutungen oft und laut genug zurückge­wiesen. Keine tröstliche Erklärung kann der quälenden Unruhe der Überlebenden ein Ende setzen und ihnen erlauben, zu vergessen, daß gestern noch ihre Geburt sie ohne Berufung dazu verurteilte, in grenzenloser Entwürdigung, verstoßen und schutzlos, ihren Tod zu erleben, ehe sie ihn sterben mußten. Nur ein gar zu gefällig versagendes Gedächtnis könnte uns verhehlen, daß die Erde sich unsern Füßen verweigerte, selbst als sie noch fest blieb unter den Schritten unserer besten Freunde, die alles mit uns gemein hatten – alles außer unserer Abstammung.

Karim Khan

Le désastre incompris

Manès Sperbers Kritik an Hannah Arendt

»Ein von Ressentiments genährter, griesgrämiger Antizionismus hat Hannah Arendt die enttäuschendsten Seiten inspiriert«, die man in ihrem Bericht vom Eichmann-Prozess in Jerusalem finden könne. Manès Sperbers Wortwahl in einem zunächst in der fran­zösischen Zeitschrift Preuves und im Mai 1964 in deutscher Übersetzung in dem in Der Monat erschienenen Essay mit dem Titel Churban oder Die unfaßbare Gewissheit war alles andere als zurückhaltend. Sperber meldete sich damit in einer Debatte zu Wort, die insbesondere in den Vereinigten Staaten seit der Veröffentlichung des zunächst im New Yorker als Artikelreihe publizierten Berichts lief. Die heftigen Kontroversen, die sich vor allem um Arendts Darstellung der Judenräte und ihre Ausführungen zur ver­meintlichen Banalität der Figur Eichmann drehten, sind minutiös aufgearbeitet, die Sekundärliteratur füllt ganze Regalbretter. Die Kritik des »Marxisten und Humanisten« (Jean Améry) Sperber an Arendt dagegen ist wenig bekannt und spielt auch in der deutschsprachigen Forschung bis heute kaum eine Rolle.

Georges-Arthur Goldschmidt

Die deutsche Sprache unter dem Nazismus

Die Deutschtümler werden, wie man sieht, sehr schnell vom Nazismus überboten, der sich mehr und mehr nur noch mit der Vernichtungspolitik beschäftigt. In sprach­licher Hinsicht hat die Deutschheit das zu beseitigende Feindbild, das ›Bild des Feindes‹, in vollkommener Weise bestimmt; ihre ganze Rolle zwischen 1900 und 1933 besteht darin, den Feind genau zu bezeichnen: also den Juden, den Kranken. Aber als der Vernichtungsapparat einmal aufgebaut war, brauchte man die Sprache nicht mehr; aus diesem Grund spielte Heidegger ab 1937 auch nicht mehr die führende Rolle im Naziapparat, zu der er sich berufen glaubte.

Heinz-Klaus Metzger

Blutige Himmelsschlüsselblumen

Was die Bösartigkeit ohnegleichen ausmacht, die dem in den zu rettenden Seelen un­entwirrbar verschlungenen antichristlich-antijüdischen Komplex eignet, das ist gerade seine Ambivalenz. Als der heilige Konrad, Bischof von Konstanz, im dortigen Münster die sogenannte Mauritius-Rotunde errichtet hatte, die inwendig eine Nachbildung des Heiligen Grabes zu Jerusalem umfaßt, bestimmte er sie zum Mittelpunkt der Zelebration eines jährlich wiederkehrenden liturgischen Passions-und Osterspiels; sie wäre demnach, wie Helmut Maurer in seiner großen Stadtgeschichte vermerkt, »die älteste erhaltene nachantike Bühne«. Einer obskuren Chronik zufolge ist es bei dieser frommen Handlung einmal geschehen, daß das aufgepeitschte Volk die Geißelung des Christusdarstellers jählings in die eigenen Hände nahm und ihn erschlug. Sollte das Ereignis wirklich stattgefunden haben, wäre in ihm eine Wahrheit durch­gebrochen, die Bach zuinnerst vertraut war, daß nämlich niemand anders als die erlö­sungsbedürftigen Sünder selbst, die das Opfer des Retters annahmen, ihn – theologisch – ans Kreuz geschlagen haben: felix culpa. So heißt es in dem Gebet, das den Schlußchor der »Matthäus-Passion« vorbereitet: »O selige Gebeine, seht, wie ich euch mit Buß und Reu beweine, daß euch mein Fall in solche Not gebracht. Mein Jesu, gute Nacht!« Dadurch wird aber die Freude über Marter und Hinrichtung, durch die doch das Heil kam, keineswegs zunichte: die moralische Aporie ist unauflösbar und ausweglos. Daß die Lust am Schmerz, und zwar die unbegrenzte, ihren Sitz im Zentralnervensystem des Christentums hat, tritt in traditioneller Kirchenmusik allenthalben, wenn auch in der Regel nicht ganz so schamlos wie bei Rossini zutage, dem Meister der Frivolität, in dessen »Stabat Mater« zu den tragischsten Textstellen die jubilatorischsten musikali­schen Eingebungen erklingen.

Gerhard Scheit

Das Ende des geistigen Tierreichs

Ein Essay über Scherzo und Trauermarsch der Fünften Mahler

Adornos Mahler-Deutung entspricht der Negativen Dialektik, die er aus der Umdeutung der Hegelschen gewann – das geistige Tierreich als Endstation … Der heilige Antonius, der den unbelehrbaren Fischen predigte, hat abgedankt, er ekelt sich vor sich selber: Ausdruck der total gewordenen Immanenz des Weltlaufs, der allein vom Weltgeist zurückgeblieben ist. … Ekel am Kontrapunkt, das alles in äußerster Anspannung von harmonischer und kontrapunktischer Kunst. Aber es ist ein Ekel ohne die Angst, vom ›ekelhaften‹ Objekt »als dessengleichen erkannt zu werden« – frei von dieser Angst, wie Kafkas Prosa frei von ihr und vom Erstaunen ist, wenn sich Gregor Samsa in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt findet.

Martin Mettin

Verdrängter Sinn

Zu Ulrich Sonnemanns kritischer Theorie des Hörens

Denn es sind wesentlich das Auge und die ihm entsprechenden Modalitäten des Sehens, die zum Modell für wissenschaftliches Erkennen, für rationale Einsicht wur­den. Hören geriet im gleichen Zuge zum beiläufigen, defizitären, abgewerteten und verdrängten Sinn. Sonnemanns Gedanken zum so skizzierten Verhältnis von Sehen und Hören lassen sich mit einer Formulierung Klaus Heinrichs pointieren, der nämlich, jene etablierte Hierarchie drastisch infrage stellend, bemerkte, das für die Kritische Theorie so entscheidende Wort »Verblendungszusammenhang« sei ein »die Lichtmetapher der Aufklärung zu Grabe tragendes Wort«. Sehen nimmt im Laufe der Kulturgeschichte eine immer stärkere Tendenz zum verdinglichenden und instrumentellen Registrieren an und verbindet sich darin mit den instrumentellen und herrschaftsförmigen Aspekten im Aufklärungsprozess selbst. Aufklärung wird zu ihrem Gegenteil. Statt die Dinge besser zu sehen, sehen die Menschen gar nichts mehr. Sonnemann zufolge sind es die geistesgeschichtlich verdrängten Potentiale des Hörens, die eine kritische Gegenposition hierzu formieren könnten.

Gerhard Scheit

Die Tatsachen der Naturgeschichte als Ideologie

Eine verschenkte Gelegenheit, das Gemeinsame von »Queer-Aktivisten« und »Trans-Skeptikern« zu erkennen

Schiebt ein kleines Mädchen einen Spielzeugkinderwagen mit einer Puppe darin vor sich her, meint der kulturwissenschaftliche Hausverstand dem sozialen Geschlecht in actu und der naturwissenschaftliche Hausverstand dem biologischen Geschlecht in actu zu begegnen. Beide klammern aus, was ihren Abstraktionen von sex und gender zu Grunde liegt. Materialistische Erkenntniskritik interessiert es darum wenig, dass die einen also ›biologisch‹ und die anderen ›gesellschaftlich‹ argumentieren – eine im Kern politische Aufteilung wie rechts und links.20 In welcher Weise deren gemeinsame Denkform auf­gewiesen und der Kritik unterzogen werden kann, erhellt hingegen am deutlichsten die Entwicklung der Psychoanalyse.

Joachim Bruhn

Adornos Messer

Über die materialistische Kritik der politischen Ökonomie und die theoretische Praxis der linken Intellektuellen

Adornos Messer ist unmittelbar nützlich für das Verständnis des Marxschen Kapitals. Denn Das Kapital ist keine Wissenschaft und kann keine Wissenschaft sein, wie etwa Dieter Wolf und Michael Heinrich beweisen wollen; es ist unmittelbar, schon der Untertitel sagt es, als »Kritik« bestimmt. Ihre Bücher, nach über zehn Jahren wiederauf­gelegt, atmen den Staub der akademischen Gruft, in dem sie ihren Gegenstand beerdi­gen wollen. Ganz zutraulich nennt Dieter Wolf sein Buch einen »Beitrag zur Marxschen Werttheorie«, als sei das denn die Möglichkeit: eine »Theorie« des Werts. Und selten trägt ein Werk von theoretischem Anspruch seinen Irrtum so auftrumpfend im Titel wie Michael Heinrichs Die Wissenschaft vom Wert. Denn kann es eine »Wissenschaft«, das heißt die Arbeit, eine Sache der Vernunft transparent und intelligibel werden zu lassen, dort geben, wo die Sache selbst das blanke Anti der Ratio verkörpert, die Widervernunft, das heißt Selbstwiderspruch der Gattung? Kann Vernunft, als subjektives Bemühen gefasst, etwas verstehen, gar: »rekonstruieren«, in dem sie nicht an sich schon, wie unbewusst und objektiv auch immer, enthalten wäre? Wo ist die Vernunft im Selbstwiderspruch der Gattung? Wenn sie am Anfang nicht ist, kann sie auch in den Ableitungen nicht sein.

Aljoscha Bijlsma

Schwierigkeiten bei der Lektüre der Erstauflage des Kapitals

In der Erstauflage heißt es, noch bevor die Wertsubstanz als gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit gefasst wird, ein Gebrauchswert habe »nur einen Werth, weil Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisirt ist«, während es ab der zweiten Auflage an gleicher Stelle heißt, ein Gebrauchswert habe einen Wert, »weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist.« Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Substanz des Werts hängen wesentlich mit der Bedeutung dieses kleinen Adjektivs zusammen; dass die Marx-Interpretation allerdings immer wieder über dieses Wörtchen stolpert, liegt auch daran, dass es bei Marx selbst eine erstaunliche Konfusion gibt. Die Metaphorik, derer Marx sich bedient, etwa die des Wertes als »Arbeitsgallerte«, hilft nicht weiter, denn sie verleitet dazu, sich unter »Substanz« doch wieder ein Konkretes vorzustellen – »Kristalle« etwa einer »gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz«. Was gemeint ist, erschließt sich nur über den Umweg einer Reflexion über den Status der Abstraktionen. »Die Arbeit« existiert nicht, sondern es existieren verschiedene Arbeiten, die jeweils von einem leiblichen Individuum ausgeübt werden. Von diesen qualitativ verschiedenen Arbeiten abstrahiert der Begriff der Arbeit überhaupt, oder »Arbeit sans phrase«, wie Marx sie etwa in der Einleitung zu den Grundrissen nennt. Bei diesem Begriff beginnt die Konfusion. Marx charakterisiert die Arbeit sans phrase als diejenige einer »Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehn und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist,« als ob die Nominalabstraktion, die als Arbeit überhaupt von den qualitativ verschiedenen Arbeiten getroffen wird, irgendetwas mit deren Qualität zu tun hätte. Ihm schwebt hier der Begriff der abstrakten Arbeit als der gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit bereits vor, aber er wird mit jener Nominalabstraktion vermengt und dadurch unklar. In der Erstauflage wird der Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeit dann mit einer gewissen Nonchalance eingeführt: Der Wert der Ware schwanke selbstverständlich nicht je nachdem, ob der Arbeiter faul oder fleißig sei, sondern es zähle eben nur die gesellschaftlich notwendige Arbeit, die hier mit der Entwicklung der Produktivkräfte enggeführt wird. Ab der zweiten Auflage gibt es dann jene Stellen, an denen der gesellschaftliche Durchschnitt zum Problem wird: »Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als eine und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie aus zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht«, heißt es hier etwa im gleichen Absatz. Es fragt sich also, wie die Vergleichung der zahllosen individuellen Arbeiten zustande kommt.

Michael Heidemann

Geschichte, Klassenbewusstsein und Freiheit

Aporien der Revolutionstheorie bei Georg Lukács. Teil 2

Wenn eine jede Revolutionstheorie in sich aporetisch ist, indem sie den historischen Prozess der menschlichen Befreiung gemäß einer erkennbaren Regel konstruiert und somit nach dem Vorbild eines Naturprozesses darstellt,96 dann muss diese Aporie sich auch in der konkreten Durchführung der geschichtsphilosophischen Konstruktion von Lukács nachweisen lassen. Da die aporetische Form der Revolutionstheorie sich prinzipiell nicht auflösen lässt, erscheint sie zwangsläufig als offener Widerspruch, der in der Begründung des revolutionären Subjekts nach der Seite der reinen Immanenz und nach der Seite der reinen Transzendenz auseinanderfällt. Lukács’ Versuch einer Schlichtung des Widerspruchs setzt zunächst mit der Kritik der Vorstellung ein, dass das ›Hineinwachsen in den Sozialismus‹ gleichsam naturwüchsig, ganz ohne Zutun der Subjekte, aus dem immanenten Prozess der Geschichte folge. Dagegen betont er die Notwendigkeit des revolutionären Bruchs, der die Einsicht der Subjekte in die Bewegungsgesetze des Kapitalverhältnisses ebenso voraussetzt wie die Einsicht, dass diese Bewegungsgesetze historisch entstanden, damit keine ewigen Naturgesetze, sondern durch kollektive Praxis prinzipiell abschaffbar sind.

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