Parataxis
Florian Markl
Israel-Boykotteure in der Sackgasse
Wie Matthias Becker in seiner Analyse anti-israelischer Projektionen unter der Leserschaft der deutschen Zeit und des britischen Guardian zeigt, verbinden sich in dem linken Milieu des Königreichs, aus dem sich auch die BDS-Aktivisten rekrutieren, eine distanziert-kritische Haltung zu wesentlichen Aspekten britischer Vergangenheit und das Bedürfnis, sich von der Last dieser Vergangenheit zu befreien, mit einer ausgeprägt antiisraelischen Haltung. Der jüdische Staat erscheint dergestalt als aktualisierte Fortsetzung der verachteten Aspekte britischer Kolonialgeschichte. »Durch die dämonisierende Behauptung, Israel betreibe eine solche Form der Herrschaftsausübung im 21. Jahrhundert [wie ehemals das britische Empire, Anm. F. M.], werden Kolonialverbrechen in der britischen Vergangenheit relativiert und die britische Wir-Gruppe entlastet.« Das Ergebnis dieser ideologischen Gemengelage ist eine besondere Ausprägung von Entlastungsantisemitismus, die eine ähnliche Funktion erfüllt wie Gleichsetzungen Israels mit dem Nationalsozialismus in Deutschland oder Österreich.
Ayaan Hirsi Ali
Kann Ilhan Omar ihre Vorurteile überwinden?
Ich habe einmal eine Rede damit begonnen, dass ich meinen jüdischen Zuhörern gestand, dass ich sie einst gehasst hatte. Das war 2006. Ich war eine junge Frau, die aus Somalia stammte und gerade ins holländische Parlament gewählt worden war. Das American Jewish Committee (AJC) verlieh mir seinen Moral Courage Award. Für mich war dies eine große Ehre, und ich wäre mir unehrlich vorgekommen, wenn ich meinen früheren Antisemitismus nicht eingestanden hätte. Also erzählte ich ihnen, wie ich dazu erzogen wurde, die Juden für alles verantwortlich zu machen.
Miriam Mettler
Triebstruktur und Ehrbegriff
Elemente der autoritären Persönlichkeit im Islam
Die Position, die diese selbsternannten Antirassisten im Streit um das Kopftuch einnehmen, ist aus diesem Grund besonders zynisch: Wird das blaming the victim zu Recht kritisiert, wenn es um Vergewaltigungen und sexuelle Belästigung durch den ›weißen Mann‹ geht, so wird im Falle der Verhüllung bei Musliminnen dasselbe Prinzip kritiklos als Ausdruck einer beschützenswerten Kultur entschuldigt und schlimmstenfalls zum subversiven Protestakt verklärt. Der paternalistisch-wohlwollende Gestus verrät bereits den antirassistischen Rassismus, der implizit den Frauen, die aus muslimischen Kulturen kommen, ihr Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt durch die Gesellschaft abspricht. Derartigen Pseudofeministinnen fällt es dabei nicht einmal auf, dass sie die Verantwortung für den eigenen Opferstatus denjenigen Frauen zuweisen, die sich weigern, ein Exemplar im Kulturzoo des Westens zu bleiben. Anstatt – wie sie es bei jeder ›westlichen‹ Person tun würden – einzufordern, dass der Mann sich zusammenzureißen oder mit Strafe zu rechnen habe, wenn er sich dazu nicht in der Lage sieht, wird hier das ›Selbst-schuld‹-Konzept bereitwillig übernommen, um jene Frauen zu schützen, die es vertreten. Verleugnet wird deren Selbstunterdrückung in einem Akt der Identifikation mit dem Aggressor ebenso wie die Tatsache, dass sie ihrerseits Gewalt gegen jene Frauen ausüben, die sich diesem patriarchalen Prinzip nicht fügen wollen und die sie deswegen als ›legitime‹ Opfer ihrer Kultur zum Fraß vorwerfen.
Markus Bitterolf
Notizen zu einem Mord in Sachsen
Wiederkehr einer Tat und verständnisinnige Rechtsprechung
Obwohl also die sächsische Polizei den Mord nachträglich doch nicht anders einstufen konnte denn als das, was er offensichtlich war, sah die Schwurgerichtskammer am Landgericht davon bei der Verurteilung und dem Strafmaß ab. Die vorsitzende Richterin Simone Herberger verurteilte die drei Täter wegen Totschlag, Hiller erhielt als Haupttäter eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren. Hanisch und Hentschel wurden zu jeweils elf Jahren Haft verurteilt. Zwar sprach selbst die vorsitzende Richterin in ihrer Urteilsbegründung davon, in welch menschenverachtender Weise das Opfer getötet wurde und dass die Gruppe bei ihrer Tat hemmungslos vorgegangen sei. Die Heimtücke der Tat, die die Staatsanwaltschaft zumindest dem Hauptangeklagten vorwarf, spielte beim Strafmaß jedoch keine Rolle. Gleichfalls berücksichtigte das Gericht die manifeste Homophobie als niederen Beweggrund für den Mord überhaupt nicht, sodass juristisch Totschlag daraus wurde.
Dem ergangenen Urteil pflichtete gar die Staatsanwaltschaft bei, obwohl diese für den Rädelsführer Hiller eine Verurteilung wegen Mordes gefordert hatte: »Zwar sei rechtsextremes Gedankengut bei den Männern vorhanden, sagte Staatsanwalt Butzkies nach der Urteilsverkündung. Die Tat sei aber davon zu unterscheiden: Nicht jeder, der rechts ist, werde im Zuge einer Straftat von dieser Einstellung getrieben.«
Thorsten Fuchshuber
Flaschenpost von »Teddy«: Adorno als Objekt der Kulturindustrie
Solange das Zusammenspiel von Weltmarkt und Finanzmärkten die Erfüllung der »Sehnsucht nach Autarkie« und des mit ihr verbundenen Vernichtungswahns noch nicht greifbar erscheinen lässt, bleibt dem Rechtsradikalismus also außenpolitisch offenkundig auch unter veränderten Rahmenbedingungen weiterhin wenig Spielraum, um sich markant von der deutschen Regierungspolitik zu unterscheiden. So verlegt man sich auch auf diesem Terrain auf den begleitenden Kulturkampf. Wo sich das Racket der Deutschen nicht zum alles beherrschenden Racket erheben kann, soll vorweg die Welt der Herrschaft der Rackets unterworfen werden. Nicht nur bei der AfD mit ihrem außenpolitischen Grundprinzip der Nichteinmischung findet sich Zustimmung für das regierungsoffiziell immer wieder gern auch als außenpolitische Zurückhaltung und ‚Besonnenheit‘ verkaufte Provinzialisierungsprojekt zur kultursensiblen Schaffung möglichst vieler vom US-Hegemon befreiten Zonen. … Die heutige außenpolitische Praxis Deutschlands und die von Adorno damals analysierte »angedrehte Provinzialisierung« der Neuen Rechten sind aus mancherlei Perspektive also gar nicht so weit voneinander entfernt, wie man es sich unter Verweis auf die wehrhafte Demokratie und ihre Institutionen einreden will. Aktuell ist Adorno eben auch dort, wo man es gar nicht gerne sieht.
Gerhard Scheit
»… eine spannende ethische Diskussion, die die Welt noch sehr beschäftigen wird«
Der Aufbau des chinesischen Sozialkreditsystems und die Proteste in Hongkong
Die Lehre der Volksrepublik besteht nun darin, dass die Partei selbst zur treibenden Kraft werden muss, die Zirkulationszeit gen Null zu reduzieren, und alles immer in Hinblick darauf kontrolliert, ob es zugleich dazu dient, diese Verkürzung im Ganzen zu gewährleisten. Der Warentausch soll hier immer zugleich der Weg der staatlichen Kontrolle werden, innerhalb und außerhalb des Staats: Außerhalb lässt sich das daran studieren, wie die Kreditverträge aussehen, die man seit längerem schon entlang der »neuen Seidenstraße« anbietet und mit der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) propagiert; innerhalb zeigt es sich an der Entwicklung des sogenannten Bonitätssystems, das wohl nicht zufällig unter der Ägide der Zentralbank und in engster Kooperation mit Digitalunternehmen wie der Alibaba Group ausgearbeitet wird. Das Geld ›verschwindet‹ zwar ebenso wie in den westlichen Gesellschaften in immer größerem Tempo in der Zirkulation und auch die chinesische Zentralbank musste in letzter Zeit den Leitzins senken und die Geldpolitik lockern, aber der Staat, der es garantiert, gewinnt im selben Maß neue, unmittelbare Macht über fremde Territorien und eigene Untertanen.
H.v.Z.
Wie man sich zurückhält
Ankündigung der »letzten Kämpfe« Israels in der Jungen Welt
Um die aktuelle – wie auch alle bisherige – US-Politik anzuprangern, zitiert Mellenthin rückblickend aus den Ausführungen des US-amerikanischen Außenministers Pompeo bei der Heritage Foundation vom Mai 2018: »Nach dem Deal: Eine neue Iran-Strategie« und verschweigt auch nicht eine entscheidende Passage aus dem letzten Punkt des Forderungskatalogs dieser Strategie: Hier fordert Pompeo nämlich, dass Iran »sein bedrohliches Verhalten gegenüber seinen Nachbarn beenden« müsse und konkretisiert an vorderster Stelle, dass dies »mit Bestimmtheit seine Vernichtungsdrohungen gegen Israel« einschließe. Unmittelbar an diesen letzten Punkt anknüpfend heißt es im Junge Welt-Artikel: »Mit der auch nur partiellen Erfüllung all dieser Forderungen müsste Iran sich der spezifischen, extrem parteiischen Sichtweise der US-Regierung auf die Region des Nahen und Mittleren Ostens unterwerfen.« Mellenthin dürfte eine Ahnung davon haben, was dieses Regime im Innersten zusammenhält, denn er fügt noch hinzu: »Ein solches Programm wäre allein mit den Mitteln einer strengen Wirtschaftsblockade nicht durchzusetzen. Es könnte allenfalls einer militärisch geschlagenen Nation diktiert werden.« (Junge Welt, 2.8.2019) Der innere Zusammenhalt, auch wenn er die Vernichtung Israels betrifft, wäre gegenüber der Unterwerfung unter den US-Hegemon in jedem Fall zu verteidigen.
Essay
Manfred Dahlmann
Seinslogik und Kapital
Kritik der existentialontologischen Fundierung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie – am Beispiel von Frank Engsters Das Geld als Maß, Mittel und Methode
Geht man die Bestimmungen, wie Engster sie vornimmt, näher durch, dürfte einem als erstes auffallen, dass dem ausgewiesen exzellenten Hegelkenner entgangen zu sein scheint, dass der Begriff ›Geld als solches‹ kaum dazu taugt, als eine »Funktion« zu fungieren, die, darüber noch hinaus, mit den anderen zwei (oder drei: nimmt man die des Wertaufbewahrungsmittels hinzu) auf eine Stufe gestellt werden kann. Den Begriff ›Geld als solches‹ kann man, und das ist Engster zweifellos bekannt, in zweifacher Hinsicht bestimmen – und damit kommen wir zum Hauptproblem seiner gesamten Marxinterpretation: Entweder das Geld wird als Einheit gefasst, die all die Bestimmungen, die ihm zugeschrieben werden können (oder, in der Ausdrucksweise Engsters: die es objektiviert), in sich enthält, oder es wird als eine Identität begriffen, die an und für sich selbst (kantisch: rein), das heißt (logisch gesehen) vor all diesen Bestimmungen existiert. Im Sinne des ersteren wäre es die Einheit von etwas unter/in ihm Befassten, im zweiten etwas in sich Identisches, auf das jede Bestimmung, die die Merkmale und Funktionen des Geldes expliziert, zurückgreift.
Gerhard Scheit
Auf der neuen Seidenstraße der Theorie
Vier Thesen zur Existentialontologie des Gelds – anlässlich von Manfred Dahlmanns Kritik an Frank Engster
So entpuppt sich das Geld in der Wertformanalyse als Einheit weder des unter ihm Befassten noch gar des aus ihm und von ihm Herausgesetzten, also eben nicht (wie Hegels Geist) als Totalität synthetisierender Begriff, sondern als rein formale, inhaltsleere Identität an und für sich (im Sinne des Kantischen Transzendentalsubjekts): Identität, »die alle sonstigen Auffassungen von Einheit transzendiert: repräsentiert in dem Gleichheitszeichen in den damit versehenen Wertgleichungen des ersten Kapitels des Kapitals«. Das Gleichheitszeichen der Wertgleichungen setzt »eine abstrakte Quantität voraus, die von der ganzen Meßbarkeit von Gebrauchsmengen Abstraktion macht«. Dieser Quantitätsbegriff ist an keinen bestimmten Gebrauchsinhalt gebunden, hat nichts »Empirisches zum Inhalt«, etwa elektrische Spannung, er kann »nur gedacht werden« (Alfred Sohn-Rethel).
Robert Hullot-Kentor
Moishe Postone und der Essay als Form
In affectionate memory
Moishe Postones Werk ist, als kritische Theorie, eine in jeder Hinsicht ebenso kategoriale Analyse wie das Adornos, doch würde der Essay als Form Moishes zahlreiche Essays in nahezu keiner Hinsicht angemessen beschreiben, und gewiss nicht sein Hauptwerk. Dafür hatte Moishe vortreffliche Gründe. Er wollte eine Theorie formulieren, die in sich so konsistent wie nur möglich sein sollte – wie er selbst immer wieder betonte: überzeugend, angemessen und durchdacht. Sein Buch Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft ist genau das; und während es das ferne Ziel im Auge behält, sucht es nichtsdestoweniger, den Kapitalismus vollständig und rückstandslos zu begreifen. Dieses Werk wird geleitet von dem Prinzip non confundar in aeternum: lass mich von meinem Weg nicht abkommen. Wenn Moishes Namenspatron eine Gestalt mit ausgeprägtem Sinn fürs Gesetz und einem gleichermaßen schlecht ausgebildeten Orientierungssinn war, sodass er vierzig Jahre in der Wüste benötigte, um sich der Vorsehung zu nähern, so war Moishes Sinn für die Dringlichkeit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts keineswegs providentiell. Worin der Monotheismus des Textes auch immer bestanden haben mag: die Muße einer alttestamentarischen Wanderung sah er nicht vor. Sein magnum opus schrieb Moishe Postone, indem er folgerichtig dachte: eine achtsame Konstruktion aus hypotaktischen Sätzen, die so gebaut sind, dass sie jeden fragmentarischen Gedanken ausschließen. Die kategoriale Untersuchung, die er erarbeitete, kommt ohne Grübelei über eine Philosophie der Sprache daher, in der mit Hegel geteilten Annahme, das Wort sei durchsichtig bis zum Begriff.
Niklas Lämmel
Leid und Mythos
Goethes Iphigenie auf Tauris und Homers Odyssee als Zeugnisse der Dialektik der Aufklärung
Adornos Geschichtsphilosophie ist damit mitnichten in einem uneingeschränkt pessimistischen Sinne ›negativ‹, wie die verkürzte Lesart Sautermeisters nahelegt. Keineswegs betont Adorno das Leid der Unterlegenen, um zu beweisen, dass die Menschheit auf ewig in einem gewaltvollen Zirkel aus Aufklärung und mythologischem Rückfall gefangen sei. In seiner empathischen Hinwendung zu den Schicksalen des geblendeten Polyphem und des betrogenen Thoas will Adorno – so ließe sich es wohl besser formulieren – der Gesellschaft vielmehr ein Bewusstsein ihrer selbst geben. Ihre Erfahrungen melden »der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle«. Als zertretene Blumen am Wegesrand der Geschichte repräsentieren sie nicht selbst das Bessere, ihr Schmerz wird jedoch zum unumgänglichen Maßstab für die Verwirklichung eines wahren Fortschritts. Mit Walter Benjamin ließe sich sagen: »Solange es noch einen einsamen Barbarenkönig gibt, solange gibt es noch Mythos.«
Christian Thalmaier
»Muss ein lieber Vater wohnen«
Zur politischen Ökonomie der Vaterschaft, Teil III
Es ist hier nicht der Ort, der Frage nachzugehen, ob Freud sich in allen Winkeln seines Werkes auf erweisbare historische Befunde stützen konnte. Hier kommt es allein auf seine grundstürzende Entdeckung an: dass die aus der Tradition oder anderen Quellen erinnerten Ereignisse mit Erinnerungsspuren der psychoanalytisch erhellbaren Individualgeschichte eines jeden Einzelnen in der Weise koinzidieren, dass sich der Mord als das gemeinsame Dritte zeigt, sei es als verdrängte Tat oder als verdrängter Wunsch. Beide treffen in der Erfahrung des Einzelnen auf die Kastrationsdrohung, in der sich die Kontinuität der Gewalt als Attribut der Souveränität in der Geschichte und im Individuum erhält. Dass Christus den Mordwunsch gegen den Vater unüberbietbar radikal ausagieren konnte, indem er sich ohne jedes Schuldgefühl selbst ermordete, lässt ihn aus den zahlreichen Glaubensgeschichten als den Erblasser einer im Innersten narzisstischen Philosophie hervortreten, die in Hegel ihren Höhepunkt und im Kapital als Inbegriff realer Abstraktion und Selbstzerstörung der Gattung ihre falsche Wirklichkeit fand.
Kay Schweigmann-Greve
Theodor Lessing und der wohlverdiente Hass der Menschenfeinde
Eine biographische Skizze – unter Berücksichtigung alter deutscher Feindbilder
Die Verknüpfung zwischen der Analyse des jüdischen Selbsthasses und der Parteinahme für den Zionismus steht am Anfang des Buches über den jüdischen Selbsthass: Im Jahre 1929, während Lessing schrieb, fand der sogenannte arabische Aufstand in Palästina statt. Der Bewunderer Adolf Hitlers, der Großmufti von Jerusalem, der 1941 in Bosnien muslimische Freiwillige für die 13. Gebirgsdivision der Waffen-SS rekrutierte, hetzte zu jener Zeit die arabische Bevölkerung mit der Behauptung auf, die Juden wollten den Tempelberg erobern. Eine Parole, mit der bis heute Unruhen in Jerusalem beginnen. Lessing beginnt sein Buch mit den Worten: »An dem Tage, an dem ich dies Buch vom Selbsthass zu schreiben beginne, stöhnen die Juden des Ostens unter der Last einer schweren Kunde. In Jerusalem, im Gebiete des Haram ist vor der jüdischen Klagemauer ein Religionskrieg ausgebrochen.« Der Hass, der sich dort entlade, könne »das Werk des jüdischen Volkes bedrohen.« »Arabische Banden steckten die Jerusalemer Villenvorstadt Talpioth in Brand und verwüsteten das Haus des Dichters Agnon. Die berühmte Jeschiwa in Hebron, die Talmudschule aus dem litauischen Slobodka, wurde überfallen. Waffenlose junge Schüler, vom Sohn des Rabbi geführt, flüchteten in den Betraum, wo sie, einer wie der andere, während sie das Sterbegebet sprachen, erschlagen wurden. Und alles geschah unter den Augen der Mandatarmacht.« Dennoch sieht auch Lessing keine Alternative zur Wiedererrichtung eines jüdischen Staates außerhalb Europas, am Ort der historischen Herkunft. Hätte er sich wenige Jahre später entschließen können, dorthin auszuwandern statt sich nicht weit hinter der deutschen Grenze in vermeintliche Sicherheit zu bringen, wäre er seinen Mördern entkommen.
Christoph Hesse
Hermann Borchardt, ein konservativer Radikaler
Offenkundig haben die zwei Jahre in der Sowjetunion sowie die unverhoffte Rückkehr nach Deutschland, wo er zunächst fünf Monate als »Bürger 3. Klasse« und dann zehn weitere als Lagerhäftling zubrachte, Borchardts Leben sehr viel schwerer beschädigt als alle sonstigen Zumutungen des Exils. Schaden nahm nicht nur, was man Geist oder Gemüt zu nennen pflegt (von etwas wie Hoffnung ganz zu schweigen), sondern auch sein Leib unmittelbar: infolge der Misshandlung im Lager verlor er sein Gehör und den Mittelfinger seiner rechten Hand. In der Sowjetunion, wo er als »Spez« aus dem Ausland sogar manche Privilegien genoss, fand er sich zwar mit allerlei grotesken Vorschriften konfrontiert, doch selbst keinen Repressionen ausgesetzt. Was er dort mitansah und was andere ihm zutrugen, insbesondere über die Hungersnot während des ersten Fünfjahrplans sowie über die Zwangsarbeit, zu der Hunderttausende willkürlich deportiert wurden, reichte jedoch hin, um all das, was die Genossen im Westen darüber verbreiteten, als fabelhaften Betrug zu erkennen. Die Erfahrungen, die Borchardt allein in diesen Jahren machen musste, mögen leicht erklärlich erscheinen lassen, warum aus dem einstigen Revolutionär der Reaktionär wurde, als den seine ehemaligen Freunde ihn schließlich mieden; ein Resignierter, dem aber noch manche der Fortschrittlichsten wohlwollend nachsahen, dass ihm auf seinen abenteuerlichen Umwegen das richtige Urteilsvermögen abhanden gekommen sei.
Renate Göllner
Arthur Koestler als Weggefährte Vladimir Ze’ev Jabotinskys
Als Vladimir Ze‘ev Jabotinsky im Mai 1924 während einer Vortragsreise Wien besuchte, wurde er am Grenzbahnhof Lundenburg (Břeclav) von zwei Burschenschaftern besonderer Art empfangen. Einer von ihnen war Arthur Koestler, der andere ein »alter Herr« der Verbindung »Unitas«, einst der Schrecken der Alldeutschen. Diese zionistische Burschenschaft hatte Jabotinsky kurz davor zum »Ehrenburschen« ernannt, eine Auszeichnung, die bis dahin nur Theodor Herzl und Max Nordau zuteil geworden war. Nachdem die beiden im Gedränge Jabotinsky erkannt hatten, oblag es Koestler, das goldene Verbindungabzeichen unter den Augen der erstaunten Reisenden an das Revers ihres Gastes zu heften und ihm das Couleur-Band anzulegen, das dieser jedoch rasch wieder in seiner Tasche verschwinden ließ. Später gestand Jabotinsky dem jungen Koestler, dass »er sich noch nie so unbehaglich gefühlt hatte«.
Vladimir Ze’ev Jabotinsky
Die jüdische Kriegsfront
Vier Auszüge aus dem letzten Buch Vladimir Jabotinskys
Jabotinsky versucht Anfang 1940 in diesem seinem letzten und posthum publizierten Buch die Situation zu umreißen, wie sie sich in seiner Auffassung nach dem eben begonnenen Krieg darstellen werde. Er nimmt zwar bereits Anzeichen zur Vorbereitung der Vernichtung der Juden in Polen wahr, es entzieht sich aber selbst ihm – und das nach all den Erfahrungen, die er seit seiner Jugend von Verfolgung und Pogromen gemacht hatte – die Möglichkeit zu denken, dass die gerade stattfindenden Deportationen tatsächlich zum Zweck der totalen Vernichtung erfolgen sollten. Als Konsequenz des Kriegs sieht er darum Millionen polnischer Juden in Gefahr, die den Krieg neben den von ihm befürchteten zahlreichen Hungertoten an den Orten der Deportation überleben würden, aber danach erneut und umso mehr der antisemitischen Todesdrohung ausgesetzt wären – so wie es die wenigen Überlebenden nach dem Zweiten Weltkrieg dann wirklich waren. Während also Jabotinsky noch den Plan einer großangelegten Evakuierung von mehreren Millionen Juden nach Palästina entwarf, konnte die Untergrundbewegung der Bricha schließlich nur noch die Fluchthilfe von einigen Hunderttausenden organisieren.
So ist dieses 1940, kurz nach dem Tod des Autors, erschienene Buch The Jewish War Front die letzte Momentaufnahme des Zionismus vor der Shoah.
Moses Hess
Karl Marx’ Kritik der politischen Ökonomie
(Entwurf eines Artikels von 1859)
Marx nennt das Geld eine »Mystifikation«, aber diese Mystifikation ist eine reelle – gerade wie die religiöse Mystik, in welcher, nach Feuerbach, das entäußerte Wesen des Menschen Gegenstand der Anbetung wird, nicht blos [sic!] ein vorgestellter, sondern ein wirklicher Gegenstand wird, der als Gottmensch, als Christus mit derselben Notwendigkeit in die Erscheinung tritt, wie die profane Mystik des Geldes. Auch diese (Mystifikation) Wendung findet sich schon im (Hess’schen) erwähnten »Geldwesen«. Was sich aber hier nicht findet, das ist die detaillirte Entwicklung des ökonomischen Prozesses, in welcher die Arbeit ihre Metamorphosen durchmacht. Nur im Prinzip und im Endresultate stimmen (M[arx] und H[ess]) die Communisten mit einander überein. Wäre M[arx] ein populärer Parteichef, dem es um den praktischen Erfolg seiner Sache, und nicht allein um den seiner Theorie zu thun wäre, so würde er sich stets in demselben Lager mit H[ess,] Wil[l]ich und den andern Communisten [be]funden haben. Als Professor und Chef einer Schule dagegen sieht er mit Verachtung herab auf die »Stümperei«, welche sich schon vor siebenzehn Jahren erlaubte, communistisch aufzutreten, und nicht wartete, bis Marx, nachdem er aus einem Bourgeois ein Proletarier[,] aus einem (Hegelianer und) Republikaner ein (Materialist und) Communist geworden, (endlich) seine Kritik der pol[itischen] Oek[onomie] herausgab.
Gerhard Scheit
Hess, Marx und Herzl
(Exkurs zu Theorie des Zionismus, Kritik des Antizionismus)
Ebenso wird der falsche, weil gegen Vermittlung an sich gerichtete Schluss aus der Kritik der politischen Ökonomie bei Moses Hess schließlich doch konterkariert durch seine Auffassung des Gesetzes, die er spezifisch jüdischen Traditionen des Denkens verdankt. Zu dieser Auffassung nötigt ihn die geschichtliche Erfahrung »der Kinder« eines »Stammes, der, wie kein Volk der Weltgeschichte, ein zweitausendjähriges Märtyrertum standhaft ertragen« habe. Auf die Verfolgung der Juden kommt Hess sonst nur an wenigen Stellen seiner Schrift zu sprechen und doch ist ihre Erfahrung entscheidend für seine Erkenntnis von der Notwendigkeit eines eigenen Judenstaats. Denn der Stamm sei zur Selbsterhaltung bei den denkbar widrigsten Umständen nur imstande gewesen, weil er »das Banner seiner Nationalität, die Gesetzesrolle, um deretwillen er verfolgt worden, stets hoch empor gehalten und heilig gehalten hat …« In dem Nebensatz ist die ganze Entlarvung des Antisemitismus angedeutet: Um der Gesetze willen, womit die Juden sich vom Opfer entfremdeten, sind sie gerade verfolgt worden. Und darum kann Moses Hess auch die Gesellschaft des neuen Staats, kaum dass »ein frommer jüdischer Patriot« sie »in Vorschlag gebracht« habe, nur in einer Weise ins Leben treten sehen: Nicht nur als »Anbau des heiligen Landes durch jüdische Arbeiter unter dem Schutze der westlichen Kulturvölker«, sondern so, dass »der Wohlstand unter dem Schutze des Gesetzes und auf der Grundlage der Arbeit« entstehe – wodurch auch die Auffassung von der freien Assoziation der Produktivkräfte dahingehend korrigiert wird, dass es doch nur eine freie Assoziation von Individuen geben könne. Der Gedanke des Gesetzes und welche Bedeutung er für die Selbsterhaltung der Juden spiele, rettet im Gedankengang von Hess das Individuum als Selbstzweck, bewahrt es davor, in der kollektivistisch gedachten Produktivkraft der Arbeit unterzugehen.
Als Theodor Herzl 1901 Rom und Jerusalem las, notierte er in seinem Tagebuch: »Welch ein hoher edler Geist. Alles, was wir versuchten, steht schon bei ihm. Lästig nur das Hegelianische seiner Terminologie. Herrlich das Spinozistisch-Jüdische und Nationale. Seit Spinoza hat das Judentum keinen größeren Geist hervorgebracht als diesen vergessenen verblaßten Moses Heß!«