Parataxis
Markus Bitterolf
»Vor ein paar Jahren sind wir zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt worden.«
Über den Mord an Marinus Schöberl vor 15 Jahren
Der zweite Schub von Misshandlungen beginnt. Marco Schönfeld wirft ihm nun etwas Spezifisches vor: mit seinen blondierten Haaren wolle Marinus ›vertuschen‹, dass er Jude sei. Die weiteren Fausthiebe sollen ein Geständnis erzwingen. Monika Spiering und ihr Lebensgefährte sind die ganze Zeit anwesend. Die Quälereien auf ihrer Veranda unterbinden sie nicht und Spiering meint schließlich lapidar zum Geprügelten: »Nu sag schon, dass du Jude bist, dann hören die auf.« Irgendwann sind der Schmerz und die Verzweiflung zu groß, und Marinus sagt: »Ja, ich bin Jude«. »Dann ging es richtig los«, wie Marcel Schönfeld mit all der nüchternen Rohheit in seiner zweiten Vernehmung zu Protokoll gab.
Renate Göllner
»Brecht mit eurem Vater«
Bruch und falsche Versöhnung in der postnazistischen Familie
Um nicht an der eigenen Herkunft irre zu werden und den Verstand zu verlieren, gibt es für Niklas Frank keine andere Möglichkeit, als sich schonungslos mit den Verbrechen des Vaters und auch der Mutter zu konfrontieren und verzweifelt gegen eine Gesellschaft zu rebellieren, die, kaum war das Morden vorbei, zur Tagesordnung schritt: »Böse Bilder trage ich im Hirn: Daß man nach dem Krieg Millionen Galgen an den Autobahnen aufgestellt hätte, US Henker Woods wäre langsam in Deinem beschlagnahmten Maybach an Galgen um Galgen vorbeigefahren und hätte den Falltürriegel gezogen – was für ein gesundes Knacken wäre durch Deutschland hinweggehallt, verursacht von den Genicken all der Richter, Staatsanwälte, Fabrikanten, Block- und Zellenwarte, Denunzianten – keiner von euch hatte das Recht weiterzuleben.«
Niklas Frank
Dunkle Seele, feiges Maul
Wie skandalös und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen
Werner Krauß entlastet. Der Schauspieler Werner Krauß wurde von der Spruchkammer in Stuttgart in die Gruppe der Entlasteten eingereiht. Die vier Rollen in dem Film »Jud Süß« habe er übernommen, erklärte Werner Krauß während des Spruchkammerverfahrens, um eine etwaige antisemitische Verzerrung durch vier verschiedene Schauspieler zu verhindern. Charakterlose Glanzleistung.
David Hellbrück
Konsequente Souveränisten (Teil II)
Über Staatsverweigerer, Reichsbürger und Selbstverwalter als militante Querulanten
Oft zu hörende Behauptungen, man könne doch aus geleisteten Steuerabgaben ein politisches Mitspracherecht ableiten, verkennen ebenso den durch die Steuer garantierten Selbsterhaltungszweck des Staates wie jene Katalanen, die aus denselben Gründen ihren Unabhängigkeitsstatus begründen möchten. Überhaupt, und das sei hier nur angemerkt, beruht das erste Scheitern der derzeitigen katalanischen Unabhängigkeitsbewegung darauf, dass sie die Zentralgewalt der Madrider Regierung verdrängt und nach dem denkbar schlechtesten Bündnispartner verlangt, den sie hätte wählen können: der Europäischen Union (EU). Dadurch, dass der ehemalige Vorsitzende des katalanischen Regionalparlaments, Carles Puigdemont, nach Brüssel floh, unterstrich er die auch unter Linken weit verbreitete Auffassung, die EU könne, als überstaatliches Bündnis und mit angeblich gleichen Entscheidungsbefugnissen wie ein nationalstaatlicher Souverän ausgestattet, den ewigen Frieden wahren. Die Euskadi Ta Askatasuna (ETA), die über 50 Jahre lang die baskische Unabhängigkeit durch Terror erzwingen wollte, war sich der dafür notwendigen Gewalt bewusst, obgleich sich hier wiederum die Gewalt wahnhaft verselbständigt hatte. Insofern zeugen die heutigen katalanischen Separatisten nicht einmal mehr von der Notwendigkeit einer falschen Ideologie, verdrängen ebenso wie die Konsequenten Souveränisten jene Gewalt, die sie tatsächlich erst souverän werden ließe. Umso mehr – auch das gehört zu ihrer Verblendung durch die EU-Ideologie – bereiten sie islamistischen Terroristen den Boden. Während die Katalanen ihre Unabhängigkeit qua Volksvotum erwirken wollen, setzen die Konsequenten Souveränisten ihre Gegenstaatlichkeit durch bloße Willkür und praktizieren durch quasi-staatliche Wirtschaftsdirektion ein Programm der Autarkie.
Karl Marx
[Über einige Voraussetzungen der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien]
Daher ist die absolute Monarchie in Spanien eher auf eine Stufe mit asiatischen Herrschaftsformen zu stellen, als mit anderen absoluten Monarchien in Europa zu vergleichen, mit denen sie nur geringe Ähnlichkeit aufweist. Spanien blieb, wie die Türkei, ein Konglomerat schlechtverwalteter Provinzen mit einem nominellen Herrscher an der Spitze. In den verschiedenen Provinzen nahm der Despotismus verschiedene Formen an, entsprechend der verschiedenen Art, in der königliche Statthalter und Gouverneure die allgemeinen Gesetze willkürlich auslegten. So despotisch aber die Regierung war, so verhinderte sie doch die einzelnen Provinzen nicht, mit verschiedenartigen Gesetzen und Gebräuchen, verschiedenartigen Münzen, militärischen Fahnen von verschiedenen Farben und verschiedenartigen Steuersystemen zu operieren. Der orientalische Despotismus wendet sich gegen die munizipale Selbstregierung nur dann, wenn sie seinen unmittelbaren Interessen zuwiderläuft, ist aber nur zu geneigt, die Fortexistenz dieser Einrichtungen zu gestatten, solange diese ihm die Pflicht abnehmen, selbst etwas zu tun, und ihm die Mühen einer geordneten Verwaltung ersparen.
Jeanette Erazo Heufelder
Über den Salonbolschewisten Felix Weil
Interview
Felix Weil sagte einmal über sich: Ich bin eher ein Macher, weniger ein Denker. Die Gründung des Instituts geschah in einem Moment, in dem er und seine revolutionär eingestellten Freunde felsenfest davon überzeugt waren, dass die sozialistische Revolution unmittelbar bevorstünde. Diesem revolutionären Prozess sollte das Institut das theoretische Rüstzeug liefern. Als sich der Gründer eingestehen musste, dass sie sich geirrt hatten und er daraufhin am Institut die Weichen neu – weg von der Ökonomie – in Richtung interdisziplinärer Theorie stellte, zeichnete sich zwar die weitere politische Entwicklung noch nicht ab. Abzusehen war jedoch, dass sich das Institut mit der programmatischen Verlagerung zu einer zwar progressiven, aber rein akademischen Forschungseinrichtung entwickeln würde. Das war nie die Intention des Gründers.
Adrian Alban
Treffen sich Schiller, Hegel und Adorno im Labor…
Zum Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
Das Kunstwerk ist der blinde Fleck der empirischen Ästhetik. Empirische Ästhetik könnte eine Auseinandersetzung mit Kunst, gespeist aus der Erfahrung an Kunstwerken, sein; im Verständnis des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik ist sie bloß Ausweis von wissenschaftlicher Kunstferne und von Verarmung der Erfahrung. So verwundert es nicht, dass das Institut Kunst unter dem Aspekt der Warenästhetik betrachtet; letztlich kann es in Analogie zur Erforschung der Kunstrezeption auch die Aufmerksamkeitsspanne und Wertschätzung, die ein potenzieller Konsument für ein beliebiges Supermarktprodukt aufbringt, erforschen.
Gerhard Scheit
Clemenza di Tito als Terror- und Flüchtlingsoper
Kleiner Rückblick auf den Welttheaterschwindel von 2017
So bietet sich diese Spätseria wie von selbst zur Parodie der Souveränität an. Die Theatermacher der neuesten Salzburger Barockproduktion dürften etwas davon gespürt haben, dass die Übertragung der Handlung auf die gegenwärtige Lage in Europa in die reine und bloß alberne Travestie abgleiten muss: La clemenza di Tito oder: Wir schaffen das! Doch nicht nur um eine etwas tragischere Atmosphäre zu erzeugen, montierten sie andere Kompositionen Mozarts in die Oper ein, sie wollten gerade damit auch eine Art Aura für den Gegensouverän schaffen, den die Inszenierung in Wirklichkeit hofiert: eine Passage aus der c-Moll-Messe bei der Bitte um Erbarmen für die Flüchtlinge; Adagio und Fuge c-moll zur Vorbereitung der Terroristen auf das Attentat; das Miserere aus der c-Moll-Messe als Klage muslimischer Männer und Frauen nach dem Terroranschlag (einige Wochen nach der Titus-Premiere in Salzburg marschierten rund 200 Muslime unter dem Motto »Wir sind Muslime, keine Terroristen« über die Ramblas in Barcelona, wo wenige Tage zuvor der Terroranschlag mit 13 Toten und über 120 Verletzten stattgefunden hatte). Zuletzt lässt der Regisseur den großmütigen Herrscher an den Folgen des Attentats sterben, während bei Mozart gerade sein Überleben das gute Ende garantiert. Genauer gesagt: Der Souverän dieses Regietheatereinfalls begeht Selbstmord, indem er sich die Schläuche der intensivmedizinischen Behandlung, die ihn seit dem Anschlag ans Krankenbett fesselt, vom Leib reißt.
Jonas Dörge
Auschwitz on the beach – oder: Niemand hatte die Absicht, ein Gedicht zu lesen
Die Wortmeldungen der Infostelle Antisemitismus, der Holocaust-Vergleich sei obszön und linksradikal, die Empörung, wie sie von der Vertreterin der jüdischen Gemeinde in Kassel geäußert wurde, »es ist aus unserer Sicht höchst unverantwortlich und ein Ausdruck mangelnder Empathie gegenüber diesen Menschen, die Begriffe Auschwitz und Zyklon B im Rahmen einer künstlerischen und politischen Veranstaltung zu instrumentalisieren«, sind zwar richtig, aber dringen nicht zum Kern der Sache vor. Und so erwies sich auch die Verabredung, auf das ›Gedicht‹ Franco Berardis zu verzichten, als heiße Luft. Die frohlockende Meldung, die Veranstalter hätten ob des Protestes der Zivilgesellschaft eingelenkt, erwies sich als vorschnell: der Künstler zog zwar seine Bilder zurück, Berardi hingegen bekam Gelegenheit, umso mehr die Aufmerksamkeit auf sein ›Gedicht‹ zu lenken.
H.v.Z.
Verjazzter Parsifal – oder: Weininger spielt heute Saxophon
Gilad Atzmon und die New Right
Der Zionismus, so viel soll klar werden, spaltet die Gattung ebenso wie der ›lesbische Separatismus‹ oder der radikale Feminismus – was auch immer man sich darunter vorzustellen hat. Im weiteren Verlauf ergänzt Atzmon seine Ansichten über den Zionismus, den er zwar zu Entstehungsbeginn befürwortet hätte, aber jetzt zu bekämpfen sich herausgefordert sieht, da er sich als Partikularismus erwies und nicht – wie von ihm erhofft, aber vom Zionismus für sich nie beansprucht – als Entfaltung einer universalen Idee. Das zeige sich im Umgang mit den ›Palästinensern‹. Darüber hinaus seien die Zionisten für globale Konflikte in Syrien, Libyen, Iran und im Irak verantwortlich zu machen, ganz einfach aus dem Grund, weil Israel keine Liebe zu seinen Nachbarn kenne.
Ljiljana Radonić
Ist Queer noch zu retten?
Doch die Beißreflexe rühren an allem, was dem »queeren Ressentiment« heilig ist, der Definitionsmacht, dem Ressentiment gegen »normativ schöne Männer«, »dem Hass auf vermeintlich privilegierte Schwule«, Pink-Washing, Islamophobie, ja gar an »queeren Jihadisten«. Oder wussten Sie etwa nicht, dass nach 9/11 in den USA die Queer-Community als Konsumentengruppe entdeckt und in die Gesellschaft integriert wurde, um sich dem War on Terror gegen das Feindbild des homophoben muslimischen Terroristen anzuschließen? Der amerikanischen Theoretikerin Jasmin Puar zufolge würden Muslime als krank, sexuell pervers und todbringend dargestellt, also mit den gleichen Adjektiven belegt wie vorher die als Queers ausgeschlossenen LGBTs. Andererseits, absurder ist das auch nicht als die antisemitische Vorstellung, das sonst üblicherweise als von Ultrareligiösen gesteuert imaginierte Israel sei besonders perfide, weil es Homosexuelle rechtlich schützt und ihnen für den Nahen Osten ansonsten unvorstellbare Freiheiten gewährt, um die Palästinenserinnen und Palästinenser besser unterdrücken zu können. Bei der Schilderung, wie der Anschlag von Orlando gegen Homosexuelle zu einem zumindest intersektionellen, wenn nicht gar rassistischen Anschlag umgedichtet wird, stockt einem schließlich der Atem: Dafür genügte die Tatsache, dass dort ob der Latin Night vor allem Mexikaner anwesend waren.
Florian Markl
Der Ursprung der Israel-Boykottbewegung
Die Erklärung, die just in einer Zeit verabschiedet wurde, in der palästinensische Terroristen praktisch täglich blutige Selbstmordattentate in Israel verübten – und nur wenige Tage vor den Anschlägen vom 11. September –, war von derart ausgeprägtem Hass auf den jüdischen Staat charakterisiert, dass sich selbst Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International, die selbst oft anti-israelische Berichte veröffentlichen, zumindest im Nachhinein von ihr distanzierten. In sie hatten all die hetzerischen Behauptungen und Forderungen Eingang gefunden, die beim Teheraner Vorbereitungstreffen ersonnen worden waren – inklusive der Forderung nach einem umfassenden Boykott Israels. Sie war die wahre Geburtsstunde der zeitgenössischen BDS-Bewegung. Der Weg führte somit mehr oder minder direkt von Teheran nach Durban – und von dort zu dem Aufruf, auf den sich die BDS-Bewegung beruft.
Karl Pfeifer
Die Juden der arabischen Welt: eine verbotene Frage
Natürlich bringt Georges Bensoussan auch Beispiele von Ausnahmen, von Freundschaften zwischen Muslimen und Juden, doch widerlegt er mit vielen Fakten das Märchen von einer arabisch-jüdischen Symbiose, das bis heute ein Axiom der kulturellen Linken und der Islamisten ist. Er erinnert daran, dass der Hamburger Historiker Matthias Küntzel einen Vortrag an der britischen Universität Leeds halten sollte – Die Erbschaft Hitlers: der muslimische Antisemitismus im Nahen Osten. Aufgrund von Protesten muslimischer Studenten musste der Titel geändert werden in Die Nazi-Erbschaft: der Export des Antisemitismus in den Nahen Osten. Doch bis heute werden die von Arabern begangenen Pogrome in den kolonialen Territorien des Maghreb während der Herrschaft des Vichy-Regimes verschwiegen. Die meisten Fälle von Gewaltanwendung gegen Juden gingen von Muslimen aus, die keine Verbindungen zur extremen Rechten oder der Kolonialmacht hatten.
Pavel Brunßen
Die Protokolle der Rabbis von der Westbank
Verschwörung und Wasservergiftung im 14. und 21. Jahrhundert
Ein Kennzeichen des modernen Antisemitismus ist, dass er frühere Formen des Judenhasses in sich aufnimmt und transformiert. Dabei genügt – anders als der WDR-»Faktencheck« nahelegt – bereits die antisemitische Anspielung. Abbas spielt in seiner Rede auf eine in der christlichen Welt weit verbreitete Verschwörungstheorie an, um die ›internationale Gemeinschaft‹ für die Sache der Palästinenser zu gewinnen, wobei aber nicht vergessen werden sollte, dass ähnliche Ideen auch in der Geschichte des arabisch-muslimischen Raums nachweisbar sind. Gilt dort der moderne Antisemitismus gemeinhin als ein rein christlich-europäischer ›Import‹, so weist Robert S. Wistrich darauf hin, dass sich bereits in arabischen Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts Anschuldigungen finden lassen, Juden hätten das Essen der Muslime vergiftet, zum Beispiel in den Werken von Abd al-Rahim al-Dimashi, über den Wistrich schreibt: »The Jews might seem outwardly submissive, he suggested, but their religion required them to hate Muslims and, where possible, to poison their food or cause them harmful illnesses.« Die frühe islamische Literatur enthielt Wistrich zufolge überdies eine »standard story«, in welcher der schmerzvolle, langsame Tod Mohammeds durch die Vergiftung der Jüdin Zeynab herbeigeführt wurde.
Dominik Drexel
Herfried Münkler und die Neuen Deutschen
Zur politischen Vermittlung des Islamismus
Für das neue Deutschland begründet Münkler nun programmatisch diesen Nicht-Umgang mit dem radikalen Islam fast in einer Art Antinomie. Zwar sei, so Münkler 2005, das »politisch-kulturelle Einwirken« zusammen mit der militärischen Komponente entscheidend für den Kampf gegen den Terrorismus. Für eine »›Austrocknung‹ des intellektuellen, politischen und kulturellen Umfelds der Terrorgruppen« könnten die betroffenen Gesellschaften jedoch kaum ausreichend Zeit entbehren. Das meint Münkler wörtlich, denn er sorgt sich zur Abwehr wirtschaftlichen Schadens vor allem um das kontinuierliche Arbeits- und Konsumverhalten. … Sozialwissenschaftler wie Münkler glauben zwar zu wissen, dass es eine »Weltanschauung« namens Islamismus gibt, möchten sie aber ganz bewusst ausblenden und vertrauen schlicht darauf, dass der deutsche Rechtsstaat ihre Folgen im Griff hat. Dessen Vertreter haben jedoch ebensowenig einen Begriff davon. So erklärte der bayerische Verfassungsschutzpräsident Burkhard Körner im Juni 2017 im Gestus der political correctness, der »ideologische« Islamismus habe »nichts, rein gar nichts« mit »99 % des Islams« zu tun, dieser sei im Unterschied zu jenem ganz einfach nur religiös. In Ditib-Moscheen und ähnliche religiöse Stätten des radikalen Islams wolle seine Behörde zugleich freilich gar nicht erst hineinhorchen.
Presseschau
Populistische US-Außenpolitik
Politisches Engagement, das sich per definitionem darauf beschränkt, für Sanktionen gegen das Mullahregime zu werben, müsste an Trumps Außenpolitik eigentlich etwas vom eigenen Dilemma wiedererkennen: Populistisch ist Trump vor allem darin, dass er sich weigert, notwendige militärische Interventionen ins Auge zu fassen.
Essay
Manfred Dahlmann / Christian Thalmaier
Anmerkungen zur Logik und Geschichte des Kapitals
Anmerkungen zur Logik und Geschichte des Kapitals. Ein Gespräch (1. Teil)
Christian Thalmaier: Wir hatten den Hegelschen Begriff des Verschwindens als Verlaufsform des Gebrauchswerts in der politischen Ökonomie verwendet. Das wird vielfach missverstanden. Da erscheint der Gebrauchswert als gutes Tier, das im Käfig des Tauschwerts festgehalten und auf Befreier aus der Tierschutzszene warten würde, wenn es denn reflektieren könnte. Aber man sieht gar nichts in diesem Käfig, man sieht vielleicht durch ihn hindurch. Es kommt also auf den Gebrauchswert nur als Voraussetzung des prozessierenden Werts im Modus seines permanenten Verschwindens an.
Manfred Dahlmann: Und er soll möglichst schnell verschwinden, und mit ihm die an ihn gebundene Ware. Der Grund dafür ist die dem Kapital, der Verwertung des Werts also, immanente Tendenz, seine Umlaufgeschwindigkeit gegen null gehen zu lassen. Wie Joachim Bruhn als ein von Marx erkanntes, von dessen Interpreten aber missachtete Prinzip ermittelt hat: Die optimale Zeit des Kapitals ist die Nullzeit, eine Zeit, in der die Warenproduktion auf den Gebrauchswert keine Rücksicht mehr zu nehmen braucht.
CT: … weil die Produktion unmittelbar mit Distribution und Konsumtion zusammenfiele. In diesem schwarzen Loch des Kapitals gäbe es dann freilich überhaupt keinen Wert mehr.
MD: In der Tat. So weit sind wir aber, zu unserem Glück, noch nicht wirklich. (Auch wenn zuzugestehen ist, dass wir nur dank des Siegs der Alliierten über Deutschland einen Aufschub bekommen haben, bevor wir endgültig in diesem Loch verschwinden.) Zurzeit gibt es ja einen neuen Versuch, die Ökonomie derart umzugestalten, dass ein von Grund auf neuer Produktionszyklus in Gang gesetzt wird, der die gegebenen Gebrauchswerte veralten lässt, indem sie durch neue, wieder effektive ersetzt werden. Dabei geht es um die Verlangsamung des von uns verursachten Klimawandels, was die Notwendigkeit impliziert, die Produktionsstrukturen derart umfassend umzugestalten, auf dass (vergleichbar der Digitalisierung ab den 1980er Jahren) sich ein Kosmos eröffnet, der eine riesige Menge neu geschaffener, gebrauchswerthaltiger Waren aufnehmen kann. Ich bin, und mit mir wohl kaum ein vernunftbegabter Mensch, absolut nicht gegen die Verringerung des CO2-Ausstoßes in die Atmosphäre, aber man muss sehen, dass man es hier mit mehr oder weniger vorbewussten Anstrengungen zu tun hat, die Ersetzung von Arbeit durch Technologie auf eine neue Stufe zu heben und die politische Ökonomie durch Erneuerung der libidinösen Objektbesetzungen der Konsumenten am Laufen zu halten. Als eine der wichtigsten Fragen wäre an diese, von der Anschauung aus gesehen, ja wünschenswerte Entwicklung die zu stellen, wie in ihr die herrschaftliche Gewalt (des Kapitals) weiterhin präsent und wirksam bleibt.
Hans-Georg Backhaus
Zur Kritik der nominalistischen Geldtheorie
Die Darlegungen von Wilhelm Gerloff entsprechen in einer verblüffenden Weise jenem Begriff von Gesellschaft, der auch der Analyse Alfred Ammons zugrunde liegt. »Die Grundlagen der Gesellschaft ruhen in jenen Kräften, die den Menschen selbst konstituieren. … Das gesellschaftliche Dasein gründet sich auf seelische Verknüpfungen. Diese schaffen gewisse die Einzelnen verbindende … Beziehungen: den gesellschaftlichen Tatbestand. Dieser objektiviert sich in bestimmten Äußerungsformen: Kult, Verkehr, Recht, Sitte. Jede dieser Äußerungsformen bedient sich irgendwelcher Ausdrucksmittel als Verständigung.« Gesellschaft ist für Gerloff ebenso wie für Amonn nur im psychischen Bereich verankert, alle Phänomene des sozialen Prozesses reduzieren sich für ihn auf »Für-, Mit- oder Gegeneinander gerichtetes menschliches Zweckhandeln«. Gesellschaft verflüchtigt sich daher zu einem »Oberbegriff« für mannigfaltige Arten zweckrationalen Handelns; »Wirtschaft ist der Artbegriff«. Wie in den anderen Sphären der Gesellschaft Gebärden und Sprache nur als Mittel der Verständigung im Kontext des gegeneinander gerichteten Zweckhandelns interpretiert werden, so sieht Gerloff seine Aufgabe als Geldtheoretiker in der »Deutung des Geldes als Mittel sozialer Verständigung oder sozialer Handlung.«
Ingo Elbe
»Die Reinigung macht uns frei.«
Karl Jaspers’ Beitrag zur Herstellung der nationalen Schuldgemeinschaft durch Akzeptanz des Kollektivschuldbegriffs
Der Vorwurf einer collective guilt der Deutschen für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und der Shoah wurde bereits während des Krieges in alliierten Kreisen erhoben, hat sich aber nach 1945 nicht zu einer regierungsoffiziellen Position oder gar Politik entwickelt. Dennoch sind Auseinandersetzungen über eine deutsche Kollektivschuld nach Kriegsende – vor allem in Deutschland selbst – zum Dauerthema geworden, das zeigte das Wiederaufleben der aggressiven Abwehr des Topos im Rahmen der Goldhagen-Debatte. Die Kollektivschuld ist offenbar eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Sie will aus drei sehr unterschiedlichen Gründen nicht vergehen: Erstens, weil der Vorwurf wahr ist. Zweitens, weil der Topos den einen zur empörten Abwehr und zur Exkulpation großer Teile der deutschen Bevölkerung bezüglich ihres Engagements im NS dient. Drittens, weil er von den anderen dazu verwendet wird, um durch seine Akzeptanz eine ›selbstbewusste‹ nationale »Schuldgemeinschaft« zu konstituieren, die ihre eigenen Verbrechen als Argumente für zukünftige außenpolitische Machtansprüche verwenden kann.
Georges-Arthur Goldschmidt
Ist da jemand?
Gemeinschaft oder Gesellschaft – Heidegger oder Sartre
Daß Sartres Recherche aber mit Der Ekel begann, ist genauso symptomatisch. Es ging darum, das Philosophische als die Verkörperung des »Gefühls der Existenz« von Jean-Jacques Rousseau faßbar zu machen. Das jeweilige augenblickliche Geschehen, als Begegnung von Menschen, war für ihn wie das Aufzucken des Philosophischen in seinem Sichtbarwerden. Daß sich dann auch Sartre nie vom Anekdotischen entfernte, sondern es immer mehr nach 1945 in den philosophischen Text einarbeitete, dürfte dessen tieferen Sinn bedeuten: daß überall immer wieder, fast alle zwei Seiten, jemand auftaucht, bezeugt den verzweifelten Versuch, den jetzt klaffenden Hohlraum innerhalb der Philosophie zu überbrücken. Dieser Hohlraum heißt Auschwitz als das Unandenkbare schlechthin. Daher das panische Verschweigen der Auschwitzfrage bei Heidegger als die Unmöglichkeit des eigenen Denkens, aber auch, als wäre das Schweigen über Auschwitz der tiefere von ihm selbst unerkannte Inhalt seines Denkens gewesen. Zu fragen gilt, was das Schweigen über Auschwitz eigentlich philosophisch zu bedeuten hat, ob es nicht der »stumme Tiefsinn«, wie Scholem es nennen würde, des heideggerschen Denkens ist, ob nicht sein Denken Auschwitz als Sinn enthält, was dann auch der Grund des Versuchs, im Nationalsozialismus aufzugehen, gewesen wäre, um es später zu verschweigen. Ist das das unbedachte, undenkbare Wesen seines eigenen Denkens?
Gerhard Scheit
Vorbemerkung zum letzten Kapitel von Hans Mayers Außenseiter
Wenn in Mayers Außenseiter-Buch der Rassismus keinen eigenen Schwerpunkt erhält, obwohl doch die Literaturgeschichte dafür gleichfalls einiges Material geboten hätte, so liegt es eben an der Intention, statt eine gemeinsame Schnittmenge von Feindbildern zu konstruieren, vielmehr die Übergänge von einer Projektion zur anderen zu suchen. (An ihre Stelle ist heute in der Forschung eine Art Schubladensystem der Diskriminierungsformen getreten, zu dessen Handhabung inzwischen auch ein Leitfaden entwickelt wurde mit dem passenden, bürokratisch klingenden Namen Intersektionalität.) … In seiner Interpretation der letzten These der Elemente des Antisemitismus scheint Mayer zunächst zu der Auffassung zu gelangen, dass die Feindbilder in der Gegenwart, in der Epoche nach Auschwitz, nun wirklich austauschbar geworden seien und eine beliebige Minderheit an Stelle der Juden den wahnhaften Hass auf sich ziehen könnte. Indem er aber den Satz von Adorno und Horkheimer zu Ende denkt, wonach nicht erst das antisemitische Ticket antisemitisch sei, sondern die Ticketmentalität überhaupt, erkennt er schließlich, dass von Beliebigkeit dabei nur in einem einzigen Sinn gesprochen werden kann: Um welches Ticket es sich auch immer handeln mag, es wird sich zu gegebener Zeit des Judenhasses zu bedienen suchen.
Hans Mayer
Judenhass nach Auschwitz
Das ist unsere Wahrheit heute und hier. Wer den Zionismus angreift, aber beileibe nichts gegen die ›Juden‹ sagen möchte, macht sich oder andern etwas vor. Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als solche Vernichtung, betreibt den Judenhaß von einst und von jeher. Wie sehr das auch am Wechselspiel der Außenpolitik und der Innenpolitik beobachtet werden kann, zeigt die Innenpolitik der dezidiert antizionistischen Staaten: sie wird ihre jüdischen Bürger im Innern virtuell als ›Zionisten‹ verstehen und entsprechend traktieren.
Gerhard Scheit
»… auf Grund von Auschwitz«
Über Peter Szondi
»Für Celan war Auschwitz kein Thema.« Diese Notiz, die Peter Szondi im Disput mit dem Literaturkritiker und ehemaligen SS-Mann Hans Egon Holthusen machte, ist vielleicht der wichtigste Satz, der über Literatur und Kunst nach der Shoah geschrieben wurde. Sie legt klar, wie Szondis eigene Antwort auf Adornos berühmtes Diktum, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«, zu verstehen wäre. Diese Antwort lautete: »Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.« Es geht bei diesem »Grund« um die Form des Gedichts, nicht darum, ob Auschwitz das Thema ist. Das Diktum Adornos hingegen ist ein Urteil, das gerade von der Form absieht. Die Provokation resultiert daraus, dass es fast zum Missverständnis einlädt, das Urteil als kategorischen Imperativ zu lesen: Du sollst keine Gedichte mehr schreiben, weil es barbarisch ist, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. So haben es Celan und Kertész offenbar verstehen wollen und noch in ihrem Missverständnis und in ihrer Ablehnung auf seine Wahrheit verwiesen.
Marcel Matthies
Die Blechtrommel als avantgardistischer Roman des Vergangenheitsrecyclings
Mit der erschreckend selbstgerechten Autofiktion Beim Häuten der Zwiebel (2006) beansprucht Grass die Deutungshoheit über seine Lebensgeschichte zu verabsolutieren. Er verfasst die Retrospektive, »weil dies und auch das nachgetragen werden muß. … Und auch dieser Grund sei genannt: weil ich das letzte Wort haben will.« Grass porträtiert sich in diesem Buch laut Christian J. Heinrich selbst für die Nachwelt. Hierzu gehört neben Ahnungslosigkeit und Selbstgerechtigkeit auch hypochondrischer Schuldstolz wegen seiner Mitgliedschaft in der SS: »Es verging Zeit, bis ich in Schüben begriff und mir zögerlich eingestand, daß ich unwissend oder, genauer, nicht wissend wollend Anteil an einem Verbrechen hatte, das mit den Jahren nicht kleiner wurde, das nicht verjähren will, an dem ich immer noch kranke.«
Oshrat Cohen Silberbusch
Rire à tout prix?
Theodor W. Adorno wider die falsche Versöhnung
Lachen über den Nazismus nimmt die Gefahr, die an Aktualität nichts eingebüßt hat, nicht ernst und macht sich dadurch zum Komplizen der Kräfte, die nur darauf warten, zurück ins Tageslicht zu treten. Der Vergleich mit dem braven Soldaten von Hašek macht deutlich, dass die Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 für Adorno etwas nie Dagewesenes darstellen, eine neue Ordnung von solch grenzenlosem Schrecken, dass das Lachen darin nichts mehr zu suchen hat. Während Schwejk noch Schlupfwinkel fand, in denen Lachen trotz allem möglich blieb, ist das nazistische Grauen total – totalitär. Man kann ihm nicht entrinnen. »Daher ist der Spaß des Faschismus, den auch Chaplins Film registrierte, unmittelbar zugleich das äußerste Entsetzen.« Äußerst, weil ausweglos. Lachen jedoch benötigt einen Ausweg. Darum sah sich Roberto Benigni gezwungen, in seinem Film Das Leben ist schön Auswege herbeizuzaubern. So zum Beispiel, wenn Guido, die Hauptfigur des Films, die Lautsprecher des Lagers benutzt, um seiner Geliebten Liebesworte zu übermitteln, und dadurch einen Schlupfwinkel bildet, der im Zuschauer gerührtes Lachen provoziert. Doch der Schlupfwinkel ist erlogen, in der Lagerrealität undenkbar. Und so wird der Film selbst zur Lüge.
Miriam Mettler
Über Wut und Würde der Rabenkinder
Einige Thesen zum Film Cría Cuervos von Carlos Saura
Cría cuervos y te sacarán los ojos: »Züchte Raben und sie werden dir die Augen aushacken«, lautet ein spanisches Sprichwort, das dem 1975 in Madrid entstandenen Film Cría Cuervos (Züchte Raben) des Regisseurs Carlos Saura seinen Namen gibt. Saura, der an der staatlichen Spanischen Filmhochschule sein Handwerk erlernt und bis zu seinem politisch begründeten Rauswurf 1963 dort unterrichtet hatte, war mit der franquistischen Zensur leidlich vertraut. So erzwang das Verbot offener Kritik eine Verschlüsselung der politischen Kommentare in seinen Filmen. Allegorien und Parabeln dienten ihm aus diesem Grund als Techniken der Chiffrierung, um der Zensur zu entgehen. Dies führte ironischerweise zu ästhetischen Formen, die in ihrer Subtilität und Mehrdeutigkeit Widersprüche einer unfreien Gesellschaft genauer widerspiegeln, als dies explizit politische Filme in ihrer Eindeutigkeit vermögen.
Christian Thalmaier
»Muss ein lieber Vater wohnen«
Zur politischen Ökonomie der Vaterschaft
Bela Grunberger liest die vermeintlich frohe Botschaft symptomatologisch als Fallbericht eines die ödipale Integration in die Realität des Judentums aufgrund schwerster Traumatisierung verweigernden Narzissten und erkennt im Rahmen einer streng an der Schrift orientierten Anamnese auch in der ruhelosen Wanderschaft das Symptom: »Narzissten haben ›Sohlen aus Wind‹«. … Grunberger stellt fest, dass Jesus sich als »zeitlos« außerhalb der Abstammungslinie situiere: »Christus ist doppelt: zeitlos, ist er Gott: ›Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham ward, bin ich‹, läßt Johannes ihn sagen (8,58). Christus tritt so aus der grammatischen Logik der gewöhnlichen Sprache heraus; er ist aus einem anderen Stoff als der Gründer des Judaismus; er situiert sich außerhalb der Abstammungslinie Abraham – Isaak – Jakob, die diesen nichtdarstellbaren Gott bewundert, dem der Judaismus die gesamte narzißtische Besetzung vorbehält, indem er sich jede Identifizierung mit der Gottheit untersagt.« Im Lichte der grenzüberschreitenden und außerordentlich erfolg- und folgenreichen paulinische Theologie und Missionspraxis ist nochmals festzuhalten: Christus situiert sich zeitlos außerhalb der Abstimmungslinie. Diese Abstammungslinie ist aber nichts weniger als der Begriff der gesellschaftlichen Synthesis der alten patriarchalen Welt. Diese ist mindestens dreifach vertikal in der Stufenfolge von Gott, dem Monarchen und seinen Priestern und den Vätern geordnet, und der Monarch wird als heilig ambivalenter Mittler zwischen Gott und den Vätern, der Transzendenz des namenlos Unbegreiflichen und der innerweltlichen Macht verstanden und in der Regel anerkannt. Weil diese Abstammungslinie aus dem transzendenten Raum kommt und von dort aus alles Endliche berührt, hat jeder dem Gesetz als der Selbstmitteilung Gottes hörend Gehorchende am Absoluten Anteil. Das ist das anfänglich platonische Moment schon im vorplatonischen Judentum: Methexis. Indem Christus aber mit der historischen Zeit und der genealogisch verfassten Synthesis des Judentums bricht, krümmt er die Abstammungslinie vom innerweltlichen Ende her gewissermaßen nach innen und begründet so eine radikal neue Fühl- und Denkform: die vaterlose Figur des scheinbar absoluten weil rein innerlichen Selbstverhältnisses.
Renate Göllner
Auf der Suche nach der verlorenen Stadt
Über Vladimir Jabotinskys Roman Die Fünf
Die Familienchronik neigt sich mit Beginn des Aufstands von 1905 ihrem Ende zu – als der berühmte Panzerkreuzer Potemkin der aufständischen Matrosen, die wegen der erbärmlichen und verdorbenen Versorgung zu meutern begonnen und das Schiff in ihre Gewalt gebracht hatten, im Hafen von Odessa vor Anker ging; als die Menschen auf die Straßen liefen, Schüsse durch die Stadt hallten, am Hafen der Kornspeicher angezündet, und in einem Zelt unten am Hafen ein toter Matrose aufgebahrt wurde. Zwei Tage später marschierten bereits Truppen des Zaren durch die Stadt, um jene, die sich den Aufständischen angeschlossen hatten, zu überwältigen. Anders als die oftmals heldenhaft-revolutionäre Darstellung der Rebellion der Matrosen und der Bevölkerung gegen das verhasste Zarenregime, weiß Jabotinsky auch von ganz anderen, beklemmenden Szenen während des Aufstands zu berichten: Ein Bekannter, mit dem der Erzähler die jüdische Volkswehr organisiert hatte, suchte ihn damals tief verstört in der Nähe des Hafens auf: »Sagen Sie Ihren Leuten: Die Lage ist brenzlig. Sie sollen die Knarren wieder ausgeben; denn wissen Sie, was die da unten (am Hafen) brüllen? Gegen die Juden brüllen sie – dass ihnen die Cholera das Gedärm zerreiße.« In Eisensteins berühmtem Film Panzerkreuzer Potemkin von 1925 war die antisemitische Gefahr zwar nicht ignoriert worden, aber sie erscheint durch die Idealisierung der Aufständischen verharmlost. Es ist hier ein einziger Mann, der in den Jubel der Revolutionäre hinein »Schlagt die Juden« schreit – und sofort stürzen sich die revolutionären Männer und Frauen auf ihn und begraben ihn unter ihren Schlägen. Damit ist das drohende Unheil gebannt.
Gerhard Scheit
Die Bewaffnung des Gestors: Von Theodor Herzl zu Vladimir Jabotinsky
Theorie des Zionismus, Kritik des Antizionismus 1. Teil
Diese Umorientierung auf den Hegemon des Westens zeichnete die weitere Entwicklung des Zionismus vor: Im Ersten Weltkrieg, mit dem der deutsche Kaiser, den Herzl einmal als Kaiser des Friedens hatte sehen wollen, die deutsche Katastrophenpolitik zu exekutieren begann, gründeten Vladimir Ze’ev Jabotinsky und Joseph Trumpeldor die »jüdische Legion«: eine militärische Truppe zu dem Zweck, auf der Seite der britischen Armee in Palästina zu kämpfen. So wenig Unterstützung diese Idee zunächst in zionistischen Kreisen fand, sie konnte dennoch realisiert werden, und das noch ehe es Chaim Weizmann gelang, die englische Regierung zur Balfour-Erklärung zu bewegen. Wie Herzl verstand sich Jabotinsky als Führer »fremder Geschäfte«, hatte unmittelbar »keinen Auftrag«, konnte die Zustimmung derer, die am Handeln gehindert wurden, »nur vermuten« und darauf hoffen, dass sich im Nachhinein die Wahrung ihrer Interessen zeigen werde. In diesem Sinn schrieb er schließlich rückblickend: »Zieht man bloß die Kriegsepoche in Betracht, so gebühren fünfzig Prozent des Verdienstes an der Balfour-Deklaration der Legion. Denn die Welt ist kein Freigut, Einzelpersonen gibt man keine Balfour-Deklaration, man gibt sie einer Bewegung« – und zwar einer, die zu den Waffen greift. Erst mit der Bewaffnung sollte die Anleihe bei der römischen Rechtsfigur des Gestors aufgehen, sodass der Zionismus das Erbe Machiavellis und Bodins, Hobbes’ und Spinozas anzutreten nicht mehr gehindert werden konnte.
Karl Pfeifer
Zionistische Praxis: Die Bricha
Bricha war nicht nur der hebräische Name für diese Flucht, sondern auch die Bezeichnung der Organisation, die sehr bald die Flucht organisierte. Diese umfasste ca. 250 000 Juden aus Osteuropa, die mit der Haapala, der illegalen Einwanderung in der Zeit von 1944 bis zur Gründung des Staates Israel am 15. Mai 1948 nach Erez Israel gelangten. Die allermeisten waren Überlebende der Shoah. Antisemitismus war nur zum Teil Auslöser der Bricha. Denn auch der schlimmste Nachkriegsantisemitismus war etwas anderes als die Bestrebung der Nazis, die Juden zu vernichten. Das Motiv der Bricha war nicht zuletzt eine Vorstellung, wie man sein zukünftiges Leben gestalten wollte. Man flüchtete nicht mehr vor dem sicheren Tod, sondern wollte ein neues Leben beginnen.
Florian Ruttner
Pangermanismus als Behemoth
Zur Bedeutung von Masaryk und Beneš für die Kritik des Staats
Die historische Rolle des Pangermanismus vor und während des Ersten Weltkriegs, wie er von Masaryk und Beneš kritisiert wurde, lässt sich so vielleicht in Anlehnung an einen Buchtitel auf den Punkt bringen: Paul Massing nannte seine klassische Studie zur Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, in der er das Aufkommen von antisemitischen Massenbewegungen im Bismarkschen Reich beschreibt, und dabei besonders die Rolle der völkischen, pangermanischen Bewegungen unterstreicht, in der amerikanischen Originalausgabe griffiger und treffender Rehearsal for Destruction, in etwa »Generalprobe zur Vernichtung«. Diese Bezeichnung lässt sich auch weiter als nur auf den Antisemitismus bezogen fassen, der selbst mit dem völkischen Pangermanismus untrennbar verquickt ist, denn in dieser Periode entwickelten sich die Elemente dessen, was später im Nationalsozialismus zusammenfand.