Heft 09, Herbst 2016

Parataxis

Ein biographisches Interview mit Moishe Postone

»Niemand sonst hat das gelehrt«

Der späte Marx hat absolut keine intellektuelle Anziehung für mich gehabt. Ich habe versucht, und leider habe ich auch das bei Hannah Arendt gemacht, den ersten Band des Kapital zu lesen. Sie war die erste, es ist sehr komisch, die erste, die Russisch konnte, die das überhaupt gelernt hat. Sie war nicht die sympathischste Kursleiterin. Trotzdem war es aufregend, es überhaupt zu lesen. Ich habe Hegel und Marx bei Hannah Arendt gemacht. Niemand sonst hat das gelehrt. Und sie war Mitglied eines besonderen interdisziplinären Programms an der Universität Chicago, dem sogenannten »Committee on Social Thought«. Dort konnte sie machen, was sie wollte. Das war für keinen Fachbereich. Es war so elitär, dass sie sogar Kurse nur mit Einladung abhalten konnte, zehn Studierende, die sich samstagmorgens trafen.

Gerhard Scheit

Anmerkung zu Moishe Postones Kritik an Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem

Moishe Postones Kritik an dem Buch Eichmann in Jerusalem lautet, dass Hannah Arendt hier (wie schon in ihrer Studie über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) die Antinomie zwischen Universalität und Besonderheit nicht aufgelöst habe: Ihr Konzept des Allgemeinen bleibe »abstrakt«, es erwachse nicht aus einer Betrachtung der »Besonderheit« oder »Spezifität« des Holocaust. Daraus resultiere bei ihr letztlich das haltlose Urteil über die Judenräte ebenso wie ihre Vermischung der eigenen Hoffnung in die Schaffung rechtlicher und politischer Institutionen, die auf einer neuen Kategorie der Menschheit beruhten, mit bestehenden rechtlichen Normen – und diese Vermischung geht natürlich zu Lasten des Staates Israel. Damit werde die Überlegung, in welchem Maß die juristische Form allein eine adäquate Reaktion auf solch ein erschütterndes historisches Ereignis konstituieren könnte, ausgeklammert.

Gerhard Scheit

Die Frage der Hegemonie und die Resistenzkraft des Rechts

Oder: Warum die Kritik des Erdogan-Regimes wie jede Kritik auf Horkheimers Racket-Begriff nicht verzichten kann

Die Revidierung des einstmaligen Appeasements dank Churchills und Roosevelts Engagement, die – blickt man auf die damalige Entwicklung der Produktion in den USA – neue ökonomische Tatsachen schaffen konnte, ist gewissermaßen in Horkheimers Rekurs auf den philosophischen Idealismus, in die unabdingbare Spekulation auf die Versöhnung des Allgemeinen und Einzelnen, eingegangen. Doch der Rekurs, der es Horkheimer erlaubte, von der Resistenzkraft des Rechts überhaupt zu sprechen, erfolgte und konnte nur erfolgen vor dem Hintergrund der finstersten Prophezeiungen der Kritischen Theorie über die weltweite Durchsetzung der Rackets gegenüber allen rechtsstaatlichen Mechanismen – auch denen der USA. Und diese Prophezeiungen sind gleichfalls darin begründet, dass es sich eben um Mechanismen handelt, um Vermittlungsformen, deren Notwendigkeit – Zwangsgewalt und Gewaltmonopol immer vorausgesetzt – unabhängig vom Bewusstsein so wenig existiert, wie der sich selbst verwertende Wert, dem das Bewusstsein im Unterschied zum Recht blind zu folgen hat, auch nur ein Atom Naturstoff enthält. Darum ist es die natürlichste Sache von dieser Welt, dass die entsprechenden Rackets, die sich die Staatsgewalt aneignen, in und mit rechtsstaatlichen Methoden, die sie aus irgendwelchen Rücksichten noch beibehalten, darauf hinarbeiten können, diese selbst abzuschaffen, setzt aber im Individuum die Bereitschaft voraus, das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das es dem Recht verdankt, zugunsten einer subjektlosen Gemeinschaft preiszugeben, als deren ›Objekt‹ nur noch der »totale Feind« (Carl Schmitt) gelten kann.
Die Hoffnung zu enttäuschen, dass es in den Händen der Akteure auf den Märkten und in den Staatsapparaten läge, die Verwertung des Werts der Vernunft zu unterwerfen und das Irrationale an der Rationalität des Rechts zu bannen, gilt seit Marx zwar als der vornehmste Zweck der Kritik der politischen Ökonomie. Seit Auschwitz kommt als praktischer Imperativ aber die Aufgabe hinzu, diesen Zweck ebenso als Mittel zu betrachten, jeder Verharmlosung dessen, was droht, zu widersprechen – nicht zuletzt, wenn sie sich auf die Resistenzkraft des Rechts berufen zu können glaubt. Umso infamer ist es, von Souveränität als einer Maschine zu salbadern, die als solche das Schlimmste verhindern könne.

Diskussion mit Thomas von der Osten-Sacken

Bitte keine Reisereportagen aus Kurdistan!

Die jüngsten Auseinandersetzungen in Kurdistan haben also recht wenig mit Projektionen oder Wahn zu tun, sie sind recht real. Und sie helfen leider einmal mehr, den Konflikt massiv zu polarisieren. Und daran haben Akteure im Nahen Osten generell ein Interesse: Weg mit den Grautönen: Entweder du bist mit mir oder dem Feind. Und Feinde gehören vernichtet. Gab es bis letztes Jahr die vage Hoffnung auf eine größere Pluralität, eben auf eine Entwicklung, für die etwa teilweise die HDP steht, steht man sich heute wieder unversöhnlich gegenüber. Kurzfristig profitieren sowohl Erdogan als auch die PKK von dieser Entwicklung, die Bevölkerung zahlt den Preis. Was langfristig sein wird, kann niemand sagen.

Thorsten Fuchshuber

Universalismus gegen Israel oder: Warum Alain Badiou zum Imam der Linken wurde, die den Terror legitimieren

Die Auslöschung Israels wird so zu einem ethischen Imperativ im Namen der universellen Menschenrechte und der Demokratie, der gegen den von Adorno formulierten kategorischen gewendet ist. Badiou zufolge ist es »unvernünftig«, sich als Konsequenz aus Auschwitz irgendetwas aufzwingen zu lassen, geschweige denn, einen kategorischen Imperativ, der nichts anderes meinen kann als die Solidarität mit Israel und die Verteidigung jener gesellschaftlichen Institutionen, die der Wiederholung des Judenmordes im Wege stehen: »Ich will nur sagen, dass man dieses Werden [Israels] nur rationell denken kann, wenn man aufhört, seine Existenz zu rechtfertigen, die sich – egal was man davon denkt – auf dem Rücken der Palästinenser gründet, durch das kontinuierliche Erwähnen der düsteren Episoden der europäischen Geschichte.« Badiou beruft sich hier ganz zurecht auf die Rationalität, denn schließlich geht es ihm darum, das der Rationalität entzogene, Hinzutretende abzutun, jene von Adorno benannte »somatische, sinnferne Schicht des Lebendigen«, »Schauplatz des Leidens« in den Lagern.

Stephan Grigat

Persistenz des Antizionismus

Neuere Publikationen über Zionismus, die Linke und das iranische Regime

Auch Michael Brenner streicht die Differenzen zwischen Jabotinsky und seinen heutigen Erben heraus. In seiner bei C.H. Beck erschienenen, ausgesprochen instruktiven Studie zu den diversen Konzeptionen jüdischer Staatlichkeit in den früh-zionistischen Strömungen und zum Spannungsverhältnis zwischen der Sehnsucht nach Normalität und der notwendigen Sonderstellung Israels zeigt er, dass Jabotinsky zwar unbedingt dafür war, die jüdische Einwanderung nach Palästina auch gegen den Willen der arabischen Bevölkerung durchzuführen und die Gründung des Staates Israel mit aller Gewalt durchzusetzen, gleichzeitig aber mehrfach die Notwendigkeit betonte, der arabischen Minderheit in dem zu gründenden jüdischen Staat gleiche Rechte zu geben. Brenner verdeutlicht, dass Jabotinskys Konzeption des zukünftigen Staates letztlich trotz aller Unversöhnlichkeit gegenüber den arabischen Feinden des zionistischen Projekts keineswegs auf einen »rein jüdischen Nationalstaat« hinauslief.

Tobias Ebbrecht-Hartmann / Nikolai Schreiter

Effekte von Entebbe

Deutsche Reaktionen und Projektionen auf eine deutsch-palästinensische Flugzeugentführung

Auch vor historischen Vergleichen schreckten die linken Attentäter nicht zurück. Mit derselben Intensität, mit der sie die durch Entebbe aufgebrochene Erinnerung an die Shoah abzuwehren versuchten, wurden die Israelis zu neuen Nazis gemacht. So hieß es in der oben zitierten Erklärung weiter: »Ähnlich wie im Dritten Reich auch schon versucht wurde, die Deutschen mit Propagandafilmen auf Judenmord und Kommunistenhetze einzustimmen, sollen die Entebbe-Filme – wie andere Kriegsfilme dieser Machart auch – dazu dienen, die Palästinenser als Unmenschen darzustellen und damit zu verhindern, daß die Hintergründe des Kampfes der Palästinenser klargemacht werden können.« Die Wortwahl ist eindeutig. In klassischer Täter-Opfer-Umkehr werden die Israelis im weiteren Verlauf der Erklärung explizit zur »Herrenrasse« und die Palästinenser zu »Untermenschen«. Damit kann die gewünschte Opferidentifikation aufrecht erhalten werden, während beiläufig die Deutschen während des Nationalsozialismus als verführt exkulpiert und die Filme als Propaganda denunziert werden. Mit der eigenen NS-Vergangenheit brauchten sich die deutschen Kämpfer also nicht länger konfrontieren. Die Opfer von gestern wurden zu den Tätern von heute und die Mörder der PFLP zu den eigentlichen Opfern umgedeutet, mit denen bedingungslose Solidarität geübt werden müsse.

David Hellbrück

»Die Schüler des Muftis und Goebbels«

Was die Linke unter Luftpiraterie versteht

Jenes ›gestörte Verhältnis‹, als welches man den Nationalsozialismus betrachtet, soll, so die Intention des Herausgebers, seine Fortsetzung bis in alle Zukunft finden: linke Ontologie, die keine Spur von Utopie, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft sich zu imaginieren versuchte, mehr in sich aufzunehmen bereit ist. Oder anders ausgedrückt: Indem das ›gestörte Verhältnis‹, an dem beide Parteien so eine Mitschuld tragen würden, ontologisiert wird, ist der wahnhafte Antizionismus, der das ›gestörte Verhältnis‹ fortsetzt, nicht weiter verwunderlich: Der permanente Versuch, den Staat der Juden von der Landkarte zu tilgen, findet somit eine Plausibilität, mehr noch: eine Rechtfertigung.

Alex Feuerherdt

Fest der Völker

Eine Sportrundschau im Zeitalter des Antizionismus

Diplomatie gegenüber internationalen Medien also, antiisraelischer Klartext gegenüber arabischen – nichts Ungewöhnliches für arabische Funktionäre und Politiker; auch Jassir Arafat beispielsweise sprach bekanntlich stets mit zwei Zungen, Mahmoud Abbas hält es genauso. Der Sport ist in Bezug auf den Umgang mit dem jüdischen Staat ein getreues Spiegelbild der Politik, und deshalb lehnen jene Staaten, die Israel nicht anerkennen, auch jeglichen Wettstreit, ja, überhaupt jegliche Begegnung mit Israelis im Rahmen von Wettkämpfen rundweg ab. Und wenn doch mal ein arabischer Sportler gegen einen israelischen antritt, verweigert er ihm im Zweifelsfall die sonst üblichen Gesten des Fairplay. So wie der ägyptische Judoka Islam El-Shehaby, der in Rio gegen den Israeli Or Sasson zu kämpfen hatte und diesem nach seiner Niederlage demonstrativ den obligatorischen Handschlag verweigerte. Das Publikum, immerhin, pfiff und buhte ihn dafür nach Kräften aus.

Lea Wiese

Der »liebenswürdige Weltweise« und seine Pace-Flagge

Zu Arno Gruens psychoanalytischer Ehrenrettung des Pazifismus

Zur Illustration seiner Thesen bemüht Gruen auch die inadäquatesten Vergleiche, so fungieren in seinem Artikel Identität und Unmenschlichkeit Kindersoldaten in Mosambik und deren brutal erzwungene Identifikation mit und Anpassung an den Aggressor als Versinnbildlichung der Entstehung von »Gefühlskälte« und Feindbildern in der westlichen Gesellschaft. Endgültig absurd wird es, wenn sich Gruen im selben Artikel zu den rechtsradikalen Übergriffen im sächsischen Hoyerswerda 1991 (im Gruenschen Sprachduktus lediglich als »Gewaltausschreitungen« beschrieben) der Meinung eines von ihm angeführten Pfarrers anschließt, es handele sich um »Folgen der Liebesverluste der Kinder dieser Stadt«.

Max Beck / Nicholas Coomann

Immer sauber bleiben!

Von Harry G. Frankfurt zum Wiener Kreis. Überlegungen zu Reinheitsgeboten in der Philosophie

Auf die Ähnlichkeiten von Bullshit und ›echter‹ Scheiße legt Frankfurt selbst großen Wert. So sei Bullshit, ebenso wie die Ausscheidungen des Verdauungssystems, nicht nur an sich dreckig, sondern ebenso unsauber und gedankenlos hergestellt: »Exkremente sind niemals in besonderer Weise gestaltet und gearbeitet. Sie werden nur ausgeschieden und entsorgt. Sie mögen eine mehr oder weniger in sich geschlossene Form haben, aber ganz sicher sind sie nicht ›mit größter Sorgfalt gearbeitet‹.« Dabei wird der »Bullshitter« als sehr potent imaginiert, schließlich ist nicht von Fliegenkot die Rede, sondern von Bullshit, den Exkrementen eines Tieres, das zu den stärksten, potentesten und angriffslustigsten Symbolen der Kulturgeschichte gehört. Von der vermeintlichen Potenz des Gegners bleibt im Bullshit nur noch ein großer Haufen, das tote Derivat unwissenschaftlicher Gedanken.

Tina Sanders

»Zeit ist reif für eine dritte Intifada!«

Die (Neue) Linkswende mit Erdogan und Hisbollah gegen Israel

Nicht Religionskritik, vielmehr die islamische Religion wird zu etwas Emanzipatorischem stilisiert und ihre Anhängerinnen und Anhänger werden als neue revolutionäre Subjekte imaginiert, da sie sich in der religiösen Form gegen die Unterdrückung des ›Volks‹ auflehnen. Demnach sind es heutzutage vor allem Musliminnen und Muslime, mit denen politisch zusammengearbeitet werden soll, die ezidische oder kurdische Zugehörigkeit, Frauen oder LGBT-Personen erscheinen daneben als quantité negligeable. »Um Rassismus konsequent entgegenzutreten, ist es notwendig, sich mit allen angegriffenen Musliminnen und Muslimen zu solidarisieren, nicht nur mit den ›eh Lieben‹«. Finden sich also Sexismus, Homo-, Inter- und Transphobie etwa bei türkischen oder Islamfaschistinnen und ‑faschisten, kann und darf dem aufgrund des eigenen Anspruchs, der sich als Antirassismus ausgibt, nichts entgegengesetzt werden, da Musliminnen und Muslime nicht vor dem Hintergrund ihrer Handlungen und Worte, sondern ihrer Religionszugehörigkeit betrachtet und bewertet werden.

Auszug

Was der deutsche Staat über sans phrase wissen soll

Aus dem Jahrbuch Extremismus & Demokratie: In der Folge rückt ein Teil des antideutschen Spektrums von dem praxisorientierten Strang ab, der ab 2001 vermehrt in der Szene Einzug findet, und besinnt sich wieder auf die theoretische Arbeit. Nicht nur Bahamas gibt die ›Ideologiekritik‹ als neue Selbstzuschreibung aus. Nach einem Richtungsstreit über die Berliner und Wiener Ideologiekritik nimmt die neu gegründete Zeitschrift sans phrase –Zeitschrift für Ideologiekritik fortan eine Avantgardefunktion für die Theoriearbeit innerhalb des antideutschen Spektrums ein. So hat sich sans phrase weder ein theoretisches noch politisches Programm auferlegt, sondern einzig der Ideologiekritik verschrieben, um damit ›dem kollektiv wirksamen Wahn zu widersprechen in dem Wissen, dass er dem Innersten der Gesellschaft entspringt, dort wo das Subjekt die Krise ›bewältigt‹, die das Kapitalverhältnis seinem Wesen nach ist. … Am Hass, der Israel entgegenschlägt, weiß diese Zeitschrift darum sans phrase die heute gefährlichste Konsequenz solchen Wahns zu erkennen und zu denunzieren.‹

H.v.Z.

Altes Europa jetzt neu bei Tumult

Exkursionen zu den Editorials der Barbarei, 2. Teil

Die Zeitschrift Tumult ist so etwas wie Compact für Intellektuelle, und hier fungiert Frank Böckelmann als Jürgen Elsässer: Er kritisiert im Editorial vom Sommer 2016 die »fadenscheinigen Sinnschablonen«: »Toleranz, Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Gleichberechtigung«. »Mit solchen Leerformeln, bloßen Teilnahmeregeln (Teilnahme woran?), soll die Solidargemeinschaft zusammengehalten werden.« Wodurch die Formeln zu Leerformeln werden, interessiert nicht. Wichtig ist nur eins: die Analogie zum Finanzkapital, früher sagte man ›raffendes Kapital‹: »Was sind sie anderes als soziale Entsprechungen des Finanzkapitals, überallhin konvertierbare Währungen?« Dem wird das ›schaffende‹ gegenübergesetzt, das nun einmal ein gestähltes Volk ausmacht, während sich mit dem »Gebrauch« der Finanzkapital-Leerformeln automatisch die »Hoffnung auf ein verhätscheltes Dasein« verbinde. »Dem Glauben an diese Kinderwelt zuliebe sollen die Reste des Unegalen abgeschafft werden – Nationen, Sprachen, Zugehörigkeit, Weiblichkeit/Männlichkeit, Mythen und Riten, kurzum, alle Lebens- und Sterbensgründe.« Das Wichtigste, in dem sich alles zusammenfasst, was so altbacken alteuropäisch daherkommt, es kommt zuletzt: die Sterbensgründe, also die Tötungs- und Todesbereitschaft.

Essay

Leah C. Czollek

Sehnsucht nach Israel

Sie hat früh gelernt zu kämpfen. Um ein Überleben in einer Welt, in der sie nicht mehr vorgesehen war. Was, so was gibt es noch, ich denke, die sind alle tot. In einer Welt, in der die Erinnerung »daran« das Lästigste ist, das es gibt. In einer Welt, die sie abgeschnitten hat von ihrer eigenen Sprache, ihrer eigenen Kultur, ihren eigenen Traditionen; in einer Welt, die sie sich einverleiben will, die sie einatmen will. In der sie nur als eine Sechsmillionenmasse existiert. In einer Welt, in der Antisemitismus und Rassismus so normal sind, daß die »Anderen« verrückt gemacht werden müssen, um dieser Realität willen. In der »ein Gespräch über Bäume«, wie Brecht sagt, »fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.«

Leah C. Czollek

Sehnsucht nach Israel – reloaded

Nach so vielen Jahren habe ich diesen Text wieder gelesen. Im Nachhinein wirkt er auf mich wie die Beschreibung des Besuchs eines Orts und des Abschieds aus eben diesem Ort. Wenn man einen Ort verloren hat und an einem anderen Ort gestrandet ist, der neu und fremd ist, kann es sein, dass man bereit ist, die Formen des Neuen anzunehmen. Und es gibt nichts, das aus dem Vergangenen Gültigkeit behält. Selbst wenn die Sprache die gleichen Laute hat, so sind ihre Bedeutungen doch andere.

Karin Stögner

»Jenseits des Geschlechterprinzips«

Zum Problem von Gender und Identifikation in der Kritischen Theorie

Die Betonung, die Freud auf das kindliche sexuelle Verlangen der Mutter legt, erschließt sich demnach nur »aus der Analogie mit der genitalen Beziehung Erwachsener«. Eine solche Setzung der Heteronormativität ist für Horkheimer aber ein Umweg, der die Komplexität des frühkindlichen Identifikationsprozesses mehr verdunkelt als dass er zu seinem Verständnis beitragen würde, denn er scheint die strikte Geschlechterbinarität – hier das Männliche, dort das Weibliche/Mütterliche – vorauszusetzen, anstatt sie dialektisch als ein historisches Moment in einer größeren Konstellation zu verstehen. In der Konstellation der westlichen Zivilisation ist Geschlecht eine Kategorie, gleich weit vom Zentrum entfernt wie das Phänomen der Identifikation, das sie vorgeblich erklären soll.

Freuds Erklärung des Ödipuskomplexes ist selbst ein Produkt des Prozesses, den er erklären soll. Den Grund für Freuds Zirkelschluss sieht Horkheimer in einem bestimmten Vorurteil: »Sein Vorurteil (vor allem in seinen früheren Perioden) liegt in der dogmatischen Ansetzung des Männlichen und Weiblichen als getrennter Urmächte, während die Sexualliebe des männlichen Kindes wahrscheinlich erst eine Folge der Angleichung an den Eindringling [den Vater] ist.«

Andrea Trumann

Eine Kritische Theorie des Geschlechterverhältnisses

Von Odysseus, Kirke und Germany’s Next Topmodel

Dieses Ziel, sich selber zu beherrschen, das in der Antike und zu Beginn der kapitalistischen Verhältnisse nur für Männer galt, hat sich verallgemeinert. Mit der ›Selbstwerdung‹ sowohl der Proletarier, als auch der Frau, mussten nun auch diese lernen, sich selbst zu beherrschen. Noch viel weniger als zu Adornos und Horkheimers Zeiten können die Frauen heute noch als das Gegenprinzip verstanden werden, das sie ohnehin immer nur sehr bedingt waren. Jedoch haben sie, wenn sie auch heute, gleichsam, wie der Mann, arbeiten gehen müssen, immer zugleich das weibliche Prinzip zu verkörpern. »Germany’s Next Topmodel« scheint auch deshalb so attraktiv zu sein, weil in dieser Show die Frauen quasi am Model lernen können, wie man eine beruflich erfolgreiche Frau sein kann, ohne ihre Sinnlichkeit und Mütterlichkeit aufzugeben.

Gerhard Scheit

»Völlige Vernichtung der Sexualität«

Otto Weininger zwischen Wagner und Freud – unter besonderer Berücksichtigung der Parsifal-Partitur

Für die Rezeption von Geschlecht und Charakter sollte es sich als entscheidend erweisen, ob die Identifizierung von Judentum und Weiblichkeit in dem Punkt, dass der Jude wie das Weib kein Ich hätte, übernommen wurde oder nicht. Freud hat gerade sie durchschaut, indem er die Bedeutung des Kastrationskomplexes herausstrich, und damit die Projektion selbst nach beiden Seiten hin aufgelöst. So konnte er aus der Idee der Bisexualität etwas ganz anderes entwickeln: eine Theorie der Sexualentwicklung. Karl Kraus wiederum, der dem jüdischen Antisemitismus von Weininger an einigen Stellen Konzessionen machte, hat die philosophische Gleichsetzung von Judentum und Weiblichkeit zurückgewiesen – sozusagen ohne sie psychologisch zu durchschauen: Er übernimmt Weiningers Auffassung, dass die Frau kein Ich habe, um die Sexualmoral der Männer, das »sexuelle Tirolertum«, die »Metaphysik der Schweißfüße«, bloßzulegen. Beide, Freud und Kraus, widersprechen Weininger aber an derselben Stelle: dort, wo in Geschlecht und Charakter die Natur als Nichts gilt; wo sie wie im letzten Akt des Parsifal vernichtet werden soll.

Gerhard Scheit

Plädoyer für das Wörtchen ›man‹

Das Generalpronomen man ist damit das Wort, das es im Deutschen ermöglicht, auch dieses »Ärmerwerden«, das beide Geschlechter betrifft, ganz allgemein zu bezeichnen und sei’s nur nebenher, gleichsam in den Obertönen eines Satzes. Sein kritischer Gebrauch, so indirekt er auch sein mag, setzt aber voraus, dass zugleich der Subjektbegriff nicht preisgegeben wird; gerade er darf mit dem man nicht zusammenfallen. Sonst mündet das Wort wie von allein in den Holzweg der Heideggerschen Ontologie. Nicht von ungefähr findet es sich hier großgeschrieben, mit ihm wird der Subjektbegriff denunziert, es wird als Pejorativum abschätzig an dessen Stelle gerückt und zielt eben darin zugleich auf die Vernunft der Aufklärung, die vom Gedanken der Selbsterhaltung bestimmt ist.

Renate Göllner

Alice Schwarzer und der Höllenkreis

Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass Alice Schwarzer, die in vielen Jahren ihrer journalistischen Arbeit manchmal so unfassbaren Unsinn zu Papier brachte oder in Talkshows äußerte und immer wieder sich der deutschen Ideologie anbiederte, doch zu den Wenigen im deutschsprachigen Raum zählt, die sich schon seit der Revolution im Iran 1979 über das Repressionspotential des Islam kaum Illusionen hingaben und zu dieser Frage in der Öffentlichkeit kontinuierlich Stellung bezogen. Dabei dürfte nicht zuletzt ihre Bekanntschaft mit Simone de Beauvoir eine Rolle gespielt haben, die bereits unmittelbar nach dieser ›Revolution‹ gegen das neuetablierte Regime der Mullahs protestierte und gemeinsam mit anderen ein »Komitee zur Verteidigung der Rechte der Frauen« im Iran gründete.

Jan Rickermann

»Wenn wir dich eliminieren, verlieren wir nichts«

Zur Gesellschaftslehre des Kommunismus der Roten Khmer

Geht man, wie Adorno, der ›Spur von altem Leiden‹ nach, offenbart sich im »archaischen Schweigen von Pyramiden und Ruinen … das Echo vom Lärm der Fabrik«. Der Bezug der Roten Khmer auf Angkor verdeutlicht die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und Tod des Einzelnen. Denn der Bau Angkor Wats war, wie Jan Myrdal hervorhob, »davon abhängig, daß die Mehrzahl des Volks als vernunftlose Tiere galt.« Im Gegensatz zu anderen sozialistischen Bewegungen zierten das Banner der Roten Khmer nicht Hammer und Sichel, sondern der große Tempel von Angkor. Während Hammer und Sichel, die als politisches Symbol für die Einheit von Arbeitern und Bauern, Stadt und Land standen, auf ›lebendige Arbeit‹ verwiesen, die es von der kapitalistischen Entfremdung zu befreien galt (was auch immer man sich darunter vorstellte), sind die Tempel ein Symbol ›toter Arbeit‹, bei dem jegliche, wenn auch ideologische, Befreiungsperspektive zugunsten des nationalen Mythos von totaler Mobilisierung und Aufopferung kassiert worden ist. Da das von der Herrschaft angeeignete Mehrprodukt keine Rolle spielt, wird Angkor zum Symbol einer Produktion um der Produktion willen.

Marlene Gallner

Politisches Denken nach Auschwitz

Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und Jean Améry unter Deutschen

Viele Deutsche sehen sich heute – entweder noch immer oder wieder – als Opfervolk, das selbst immenses Leiden hat auf sich nehmen müssen. In dieser Auffassung spiegelt sich das Aufwiegen des Leids, wie es Arendt, Adorno und Améry konstatierten, das im Endeffekt der Schuldabwehr dient. Darüber hinaus wird der Nationalsozialismus heute häufig anonymisiert und von der Wirklichkeit abstrahiert. Er gilt zunehmend nicht mehr als spezifisch deutsch, sondern wird in universale Zusammenhänge eingebettet und so neutralisiert. Gleichzeitig findet eine ständige Beweihräucherung statt, wie außergewöhnlich gut man mit der eigenen Geschichte umgehen würde. Kein anderer Staat der Welt kann sich heute mit solch beeindruckenden Shoah-Mahnmalen schmücken wie Deutschland. Der Stolz der Deutschen, wie ihn schon Améry angeprangert und Adorno beschrieben hat, ist auf diese Weise, einige Jahrzehnte nach der Schmach der Niederlage, wohl eher noch gewachsen. Die deutsche Nation kann sich noch die Vernichtung um der Vernichtung willen positiv einverleiben.

Frederike Hildegard Schuh

Die Kraft des Urteilens

Mit Hannah Arendt gegen die Orgien der Ununterscheidbarkeit

Dazu gehört auch, das Burka-Verbot durchzusetzen – was von den Gegnerinnen des Verbots gerne als Zwang zur ›Entblößung‹ bezeichnet wird. Welche aber glaubt, dass eine Frau, die ihr Gesicht, ihr Haar, oder ihre Körperkonturen öffentlich zeigt, ,entblößt‹ wäre, also glaubt, die öffentliche Sichtbarkeit von Frauen sei für diese so schamvoll, dass sie ihnen nicht zugemutet werden kann, hat die Hoffnung auf eine bessere Welt für alle entweder nie gehabt, oder längst aufgegeben.

Und wer glaubt, es wäre geboten, denen gegenüber ,Verständnis zu zeigen‹, die entsprechende Positionen vertreten und verteidigen, der erklärt zum individuellen Problem, was ein gesellschaftliches ist; kann also der gemeinsam geteilten Welt selbst schon keine Bedeutung mehr abringen, und enthält sich, infolge des sich darin äußernden Nihilismus, des Urteils.

Manfred Dahlmann

Was ist Wahrheit? Was materialistische Kritik?

Was bedeutet dieses Wort – für sich allein betrachtet? Ich könnte jetzt ganz oberlehrerhaft eine kleine Pause einschieben, und euch danach auffordern, mir zu sagen, was euch in Bezug auf die Bedeutung dieses Wortes so alles eingefallen ist. Und jede Antwort, die anderes beinhaltet als das kleine Wörtchen ›nichts‹, müsste ich als falsch zurückweisen. Denn an und für sich selbst betrachtet handelt es sich bei diesem Wort um eine Zeichen- beziehungsweise Lautkette, die eben rein gar nichts bedeutet. Um Bedeutung erlangen zu können, muss ich dieses Wort, ob ich will oder nicht, in eine Umgebung anderer Wörter stellen: Eine Möglichkeit dazu habe ich schon benannt, als ich alle Antworten, die anderes beinhalteten als das Wörtchen ›nichts‹, als falsch deklarierte: Um wissen zu können, was Wahrheit ist, muss ich zugleich wissen, was sie nicht ist. Aber, ich gehe gleich einen Schritt weiter, ich muss gleichzeitig nicht nur das bedenken, was das genaue Gegenteil von wahr, also was falsch ist, sondern den Begriff von allem abgrenzen, was er nicht bedeutet. Also: wer nach der Bedeutung des Begriffs Wahrheit fragt, nimmt vor jeder Antwort eine Unterscheidung vor: er grenzt das, was er für wahr erachtet, von allem ab, was für ihn nicht wahr ist – beziehungsweise das Problem der Wahrheit gar nicht erst berührt. Diese Negation umfasst also nicht nur das eindeutig Falsche: dieses ja gerade nicht, denn die Aussage: ›Das ist falsch‹ beansprucht ja, eine wahre Aussage zu sein, sondern auch all das ebenso oder gerade erst recht, was sich der eindeutigen Gegenüberstellung von wahr und falsch entzieht.

Gerhard Scheit

Zwei kleine Illustrationen zu Manfred Dahlmanns Was ist Wahrheit? als Miniaturen von Hobbes und Spinoza

Spinoza kennt, soweit er Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit des Staats bestimmt, keinen Imperativ in Hinblick auf die Lage der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft. Denn das wäre eine Fortsetzung der »Auserwählung«, Staat im Staate, worin er im Allgemeinen eine große, wenn nicht die größte Gefahr für den Staat und damit für die Vernunft sieht. Er ist so gesehen der Urvater der Assimilation. Und doch erkennt er in den Zeremonialgesetzen, vor allem in der Beschneidung nach jüdischem Ritus, etwas an, das selbst auf ein notwendig Politisches verweist, auf die Gründung eines neuen Staats der Juden, weil sich vielerorts zeigt, dass die Identifikation von Staat und Vernunft für die Lage der Juden in der Diaspora offenkundig keine unbedingte Geltung beanspruchen kann; weil die Staaten eben, je nachdem, wie groß die Vernunft in ihnen ist und welche Rolle jeweils die Affekte haben, sich unterscheiden und diese Unterschiede für die Situation der Juden ausschlaggebend sein können.

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