Heft 08, Frühjahr 2016

Parataxis

Gerhard Scheit

Flüchtlingsmonopoly und Israelsolidarität

Angenommen Jürgen Elsässers Magazin für Souveränität namens Compact würde für Souveränität nicht deshalb eintreten, weil man sich selber als »Maschinengewehr der Volkssouveränität« begreift und eben damit das deutsche Volk von den »räudigsten Elementen« der anstürmenden syrischen Horden der »Scheinasylanten« reinhalten will, sondern weil man sich durchaus für einen Staat im westlichen, liberalen und säkularen Sinn engagiert und insbesondere für die deutschen und europäischen Juden eintritt und sie vor muslimischen Antisemiten unter den Asylbewerbern zu schützen gedenkt. Dann hieße es eben nicht: »Sie bespucken und verhöhnen Euch, sie vergewaltigen unsere Frauen, sie wollen unseren Wohlstand, unser ganzes Land« und für diesen Zustand sei eine»antideutsche Regierung« verantwortlich – sondern der Protest gegen die Demontage der Souveränität wäre selbst antideutsch motiviert, insofern er sich immerhin auf Franz Neumann und Hannah Arendt stützen könnte, die den Nationalsozialismus als im weitesten Sinn staatsfeindliche, Souveränität und Gewaltmonopol auflösende Bewegung begriffen haben.Und solange dabei Juden, die bedroht werden und deren Bedrohung es abzuwehren gilt, wenigstens nicht als ›unsere Juden‹ bezeichnet werden, ist eine solche Verteidigung der Souveränität in Deutschland und Europa gewiss etwas anderes als die bloße Ergänzung von Elsässers Blog und Straches Rhetorik. Soweit aber die Souveränität des eigenen Landes zur Priorität gemacht wird, gibt es zumindest an einem Punkt Übereinstimmung mit jenen selbsternannten Maschinengewehren des Volks, und dieser Punkt drückt sich in der oft zu hörenden und vielfach variierten Forderung aus, die als die harmloseste erscheint, aber ganz der Stammtisch-Atmosphäre entspricht: Wer sich nicht an die Spielregeln hält,der soll nicht hereinkommen beziehungsweise abgeschoben werden. Schon die Vorstellung, es ginge um Spielregeln, zeigt nicht nur an, dass man keinen Begriff vom Elend hat und haben will (und auch nicht davon, wie es zur aktuellen Situation überhaupt kam), vor allem anderen schlägt sich darin nieder, wie ernst man eigentlich nimmt, was man verteidigen möchte, sobald nur endlich der jeweilige Souverän zum Ich geworden ist, das alle Vorstellungen muss begleiten können.

Leo Elser

Kritik der Flüchtlingspolitik

Gegen Flüchtlingspolitik

Da die Welt unvernünftig in konkurrierende, partikulare Staaten eingerichtet ist, lässt sich überhaupt nur darüber diskutieren, wer in Deutschland oder Europa leben darf und wer nicht, sofern die Grundlage dieser Diskussion verdrängt wird: die Gewalt der Staaten. Von dieser Gewalt zehrt die Position des linken Flüchtlingspolitikers, der mit unserer moralischen Verpflichtung argumentiert, diesen Menschen, die da kommen, zu helfen, nicht minder denn der rechte, der um ›unsere‹ Kultur oder ›unseren‹ Wohlstand fürchtet. Die Bedingung der Möglichkeit der ersten Person Plural ist das unverdiente und durch nichts als Gewalt verteidigte Privileg des Geburtsorts. Für je menschenfreundlicher sich der Flüchtlingspolitiker hält, desto mehr verdrängt er die Gewalt, die die unaufhebbare Grundlage seiner Menschenfreundlichkeit ist.

Thomas von der Osten-Sacken

Elemente und Ursprünge der Flüchtlingskrise

Aus einer Podiumsdiskussion im Republikanischen Club in Wien, 11. Januar 2016.

Man hat es ja nicht mit Gegnern zu tun, die dumm sind. Das ist das Bild des Rassisten. Weder das Assad-Regime, noch das iranische Regime, noch Putin sind dumm, sondern haben im Gegenteil sehr gut geölte, funktionierende Propagandamaschinen, Medien: ob das nun diese ganze russische RT und Sputnik News sind oder die unterschiedlichen iranischen Medien – sie können mit Ängsten spielen und tun das die ganze Zeit. Und die Angst im Westen vor Al-Qaida oder ISIS ist wesentlich größer als die Angst vor dem Iran oder im Augenblick der ›Achse des Widerstands‹. Und darauf wird ganz gezielt die ganze Zeit gespielt: »Wir führen doch den Krieg gegen den Terror, wir sind doch diejenigen, die die Terroristen bekämpfen.« Bis hin zu diesem Bild, dass im Augenblick jeder Weg nach Teheran führt, um den Terror zu bekämpfen, und man nur einmal die Homepage des State Department öffnen müsste und nachsehen, welches Land eigentlich das Land ist, das Jahr für Jahr als der Hauptsponsor des internationalen Terrorismus geführt wird, und das ist der Iran. Aber der Iran gilt nun als »unser Partner im War on Terror«.

Danyal Casar

Türkische Katastrophenpolitik

Über einen baldigen Beitrittskandidaten der EU

Im Jahr 1997 traf sich Necmettin Erbakan – einige Wochen nach dem sanften Coup des Militärs – in seiner Sommerresistenz in Altınoluk an der türkischen Ägäis mit Jean-Marie Le Pen. Details der Unterredung wurden nicht veröffentlicht, einzig, dass sich beide über eine engere Kooperation verständigt hätten. Der Franzose Le Pen erklärte, dass ihn das Erstarken des Islam in der Türkei erfreue und darin auch ein Gewinn für das Nationale liege. Nach Erbakans Niederlagen gegen das Militär manövrierten ihn seine Ziehsöhne Erdoğan und Gül ins Abseits, er verstarb im Jahr 2011. Der exzentrische Übervater der französischen Front National, Jean-Marie Le Pen, wurde von seiner leiblichen Tochter Marine innerhalb der Partei isoliert. Doch das ideologische Milieu der beiden ist dasselbe geblieben. Das höchste ist diesem der Staat als Familie, die Gewalt des Souveräns als väterliches Patriarchat, Zwang als Kultur. Konsequent ist da die Feinderklärung von Jean-Marie Le Pen an die Kosmopoliten von Charlie Hebdo nach dem Massaker vom 7. Januar 2015, die Satiriker hätten einen »anarchistisch-trotzkistischen Geist, der die politische Moral zersetzt«. Kaum wahrgenommen wurde, weil der kalte, kulturrelativistische Blick dem totalitären Anspruch der Despotie auf geschlossene Einheit gleicht, dass in Ankara von jungen Militanten eine Solidaritätsdemonstration für die Toten des Massakers vom 7. Januar abgehalten wurde. Als sich in ihrer Nähe islamistische Freunde des Todes aufstellten, wurden diese augenblicklich in die Flucht geschlagen.

Aus einer Diskussion vom 14. März 2016 über die anstehenden US-Wahlen mit Simone Dinah Hartmann und Florian Markl

Europäisierung der amerikanischen Politik?

FM: …wenn es um die Politik der USA gegenüber Israel geht, wo Obama ja angetreten ist mit der Erklärung, mehr Tageslicht zwischen die USA und Israel zu bringen, war natürlich Clinton die diplomatische Speerspitze, die das durchgeführt hat. Es war Clinton, die die ersten öffentlichen oder halböffentlichen Zerwürfnisse mit Netanjahu zelebriert hat. Und sie versucht sich jetzt in ein anderes Licht zu stellen und so zu tun, als ob sie immer schon die große Israel-Unterstützerin gewesen sei.

SDH: Vielleicht ist es sogar besser, dass die Außenpolitik kein Thema ist bei den Demokraten. Weil die Entscheidung zwischen Clinton und Sanders dann als eine zwischen Pest und Cholera erscheinen würde. Wie Sanders außenpolitisch dasteht, ist klar, das heißt, Clinton müsste sich natürlich dazu positionieren, und sie würde ihm nicht kontern, sondern versuchen, wie bei anderen Debatten auch, ihn links zu überholen.

Gerhard Scheit

Die Philosophie der Abschreckung und die Dialektik der Aufklärung

Über André Glucksmann 1927–2015

So gilt auch für Glucksmann, was für die konsequentesten der neokonservativen Denker kennzeichnend ist: In der Rückwendung zur antiken Philosophie wird der Ausweg aus den Aporien der Aufklärung gesehen, der aber letztlich nur noch tiefer in sie hineinführt. Das lässt sich auf unterschiedliche Weise an Leo Strauss wie an Eric Voegelin und Hannah Arendt zeigen. Bei Glucksmann aber nahm dieses Dilemma besonders grelle Formen deshalb an, weil er – in Sartrescher Tradition – unter allen Umständen am politischen Engagement festhalten wollte, worin freilich auch das Wahrheitsmoment liegt, dass es nach Auschwitz kein Denken mehr geben kann, dass »der Parteinahme zu den Umtrieben der Welt« (Glucksmann) sich enthielte. … Wer wissen möchte, woher bei Richard Herzinger die Schärfe seines Urteilsvermögens wie auch die Dumpfheit seiner Ressentiments kommen, lese die Bücher von André Glucksmann.

Jean Améry

Zwei verfeindete Denkmethoden

Max Horkheimers Essays über die dialektische Vernunft

Daß ich es nur ganz persönlich eingestehe: die Lektüre der Aufsätze Horkheimers hat mich, da ich mich doch bemühe, der irrationalen Wahl zwischen dialektischer und analytischer Vernunft zu entrinnen, in einen geistigen Zwiespalt gestoßen, der sich subjektiv als ein Gefühl völliger Hilflosigkeit dartut.

Esther Marian

Jean Améry und die Neue Linke

Amérys Aufsätze zum Antisemitismus, die sich heute noch ebenso aktuell lesen wie vor vierzig Jahren, waren Appelle an die Protestbewegung, sich auf sich selbst zu besinnen und zu erkennen, dass Israel kein faschistisch-imperialistischer Aggressorstaat war und auch kein Land wie irgendein anderes, sondern »die Zufluchtsstätte, wo Überlebende und Verfolgte nach langer Wanderschaft sich in tiefer Erschöpfung niederließen«. Noch in der Hoffnung, dass die Linken bloß geschichts- und realitätsblind und nicht antisemitisch waren, zeigte Améry, warum jeder Angriff auf Israel in der Tat ein Angriff auf die Juden darstellte …

Niklaas Machunsky

Der polemische Gehalt des Judentums

Moishe Postone war sich durchaus bewusst, dass er in seinem Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialismus« nur eine spezifische Erscheinung des modernen Antisemitismus als Ausprägung einer besonderen Form des Antikapitalismus und nicht etwa ein selbstbewusstes bürgerliches Denken behandelte: »In diesem Beitrag geht es um einen anderen Strang, nämlich um jene Formen von Romantizismus und Revolte, die ihrem Selbstverständnis nach anti-bürgerlich sind, in Wirklichkeit jedoch das Konkrete hypostasieren und damit innerhalb der Antinomie der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen verharren.« Es sind vor allem seine wert- und ideologiekritischen Nachfolger, die die von Postone analysierte Zuordnung, Jude gleich Abstraktion, über den konkreten Fall hinaus als gegeben annehmen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sowohl Kenneth Marcus als auch David Nirenberg sich mit dem Antisemitismus und Antizionismus Alain Badious auseinandergesetzt haben, denn dieser dreht die von den Nazis bekannte Zuordnung in mancher Hinsicht um. Israel gilt Badiou gerade deshalb als böse, weil es nicht abstrakt genug sei. Darin stimmt er mit Jürgen Habermas und all denen überein, die Israel von einem postnationalen Standpunkt aus kritisieren.

Philipp Lenhard

Blinder Fleck?

Eine kurze Erwiderung auf Gerhard Scheit

Ist die gemeinsam von Friedrich Pollock und Max Horkheimer entwickelte Staatskapitalismusthese der »blinde Fleck der Kritischen Theorie«, wie Gerhard Scheit im letzten Heft der sans phrase konstatiert hat? War sie, wie er formuliert, nur eine Theorie der Innenpolitik, die den latenten Kriegszustand, in dem Staaten sich befinden, »verdrängt«? War das Institut vor 1933 wirklich unfähig, die seinerzeit verbreiteten Illusionen über die friedenserhaltende Macht des Völkerbundes zu durchschauen, wie Scheit behauptet? Wenn im Folgenden diesen Fragen nachgegangen wird, so ist dies nicht als Kritik an Scheits Ausführungen über internationales Recht und Israelfeindschaft miss zu verstehen, mit denen sich der Autor in vollstem Einverständnis befindet. Vielmehr geht es darum, ob die Staatskapitalismusthese zu diesen Ausführungen im Widerspruch steht und ob sie für eine Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft fruchtbar zu machen ist.

Tagebucheinträge

Aus Omas ›Schwarzen Heften‹

»24. April 1945: Seit einer Woche haben wir in Lüneburg englisch-amerikanische Besetzung. Eigentlich kann man sich nicht beklagen. Es ging ohne einen einzigen Schuß ab. Lüneburg ist allerdings Lazarettstadt. Auch sonst verlief alles ruhig. Wir haben natürlich Ausgangssperre zu bestimmten Zeiten usw. … Im Großen und Ganzen ist es halb so schlimm und von uns aus ist viel Propaganda gemacht worden. Doch wenn man sie sich schon ansieht, wie sie überall als Helden auftreten, wie ein Deutscher überhaupt nichts mehr zu sagen hat. Wie sie hier zum Trotz alle Gehsteige kaputtfahren, wie sie uns im Material überlegen sind, wie sie stolz durch unsere Straßen fahren, dann kannst du an dich vor Wut nicht mehr fassen. Doch nichts kann man dagegen tun, gar nichts, vollkommen ohnmächtig ist man. Nur abwarten und sich ruhig verhalten. Genau das ist das Schwerste.«

Arthur Buckow

Wann sie schreiten Seit’ an Seit’

Ein Schaustück über Kunst und Propaganda, Diskurs und Judenhass

»Ihr solltet alle vergast werden!«, brüllt die junge Frau. Sie hat sich aus der Gruppe der Palästina-Aktivisten gelöst und steht kaum fünf Meter vor den Gegendemonstranten mit den israelischen Fahnen. Sie will Gehör finden und wiederholt sich lautstark. Später gibt sie der Polizei zu Protokoll, das wäre gar nicht ihre Idee gewesen, sie wäre aufgestachelt worden und eh zu jung, um all das recht zu begreifen; man möge sie doch laufen lassen.

H.v.Z.

»Die Protokolle der Weisen von Zion« jetzt neu bei »New Left Review«

Wenn Perry Anderson über das Haus von Zion spricht, gibt es nur einen einzigen Hinweis auf Nationalsozialismus und Shoah, dass nämlich in Europa, wo es zum Glück keine mächtige Israel-Lobby gebe wie in den USA, noch immer falsche Schuldgefühle die Außenpolitik bestimmten: »European guilt at the Judeocide ensures ideological commitment to Israel«, obwohl doch die Mehrzahl der Bevölkerung ganz anders denke. So ist es nur logisch, dass Anderson und die New Left Review die atomare Aufrüstung in Teheran nicht ungern sehen: »that would end Israel’s monopoly of nuclear weapons in the region«. Hier gilt der neue marxistische Imperativ: Denken und Handeln wieder so einzurichten, dass Auschwitz sich wiederhole.

David Hellbrück

Wiens Wilder Westen

Jede noch so groteske Szenerie kann allerdings gesteigert werden. Keine fünf Minuten später ziehen Autonome im schwarzen Dresscode vor die großflächigen Fenster des Cafés mit einem Bettlaken, auf dem zu lesen steht: »Gegen Gewalt und Faschismus – Pegida bekämpfen«. Beifallrufe von links, Unbehagen bei den Gästen, routinierte Empörung von rechts. Ein Herr steht auf, zieht den Vorhang zu und setzt sich wieder. Die unaufhaltsamen Autonomen lassen nicht ab und versuchen sich im eher trägen Stürmen des Ladenlokals. Die zierliche Kellnerin, die knappe 50 Kilogramm wiegen dürfte, hält die Tür versperrt. Erfolgreich. Einem der Vermummten gelingt es dennoch, eine geballte Faust durch den Türschlitz in den Laden zu strecken und vermutlich etwas gegen den Faschismus zu rufen. Die faschistische Drohung wurde gebannt. Alles läuft nach Schema. Alte Herren, die zweifelsohne unangenehm sein mögen, hatten ihre Aufmerksamkeit erhalten. Der linke Tisch triumphiert und zieht Kameras mit meterlangen Objektiven aus den Taschen und schießt Porträtfotografien und Ansichtskarten für das antifaschistische Fotoalbum. Die Gäste beeilen sich, nach der Rechnung zu fragen. Vorhang zu. Es wird Abend.

Essay

Manfred Dahlmann

Kritik als Politisierung der Kunst?

Walter Benjamin und die Ästhetisierung der Politik

Alle Benjamin-Exegese steht zudem vor einem Dilemma, das Benjamin nicht gelöst hat und auch sonstwer prinzipiell nicht auflösen kann: Wer sich auf das Einzelne, das Detail einlässt, kann zunächst – und das ist, wenn man nicht auf dem Imperativ bestehen will, in Allem das Böse entdecken zu müssen, einfach nicht zu vermeiden –, allerorten auch Fortschritte entdecken. Indem er alle historischen Details auf ein (theologisch inspiriertes) Total-Allgemeines bezog, ging es Benjamin geradezu darum, schon in ihnen diese Fortschrittsgläubigkeit als Mythos zu entlarven. So wenig dagegen argumentativ auch vorgebracht werden kann: Auf das heutige Massenbewusstsein bezogen baut dieses Vorhaben auf Sand. Von jedem Einzelnen in dieser Masse wird jeder ›Erfolg‹ im Persönlichen als Beitrag zum Fortschritt des Ganzen interpretiert. Dieses Massenbewusstsein ist in seiner (und die darin versammelten Einzelnen sind in ihrer) Gewissheit, exakt zu wissen, wie sich alle Probleme dieser Welt beseitigen lassen, wenn sich nur ein Jeder exakt der Ordnung fügt, die es (in jedem einzelnen Kopf durchaus unterschiedlich, hier aber in seiner Inhaltsleere dem Massenbewusstsein absolut äquivalent) als fixe Idee vor Augen hat, durch nichts zu erschüttern. Im Gegenteil, dieses Bewusstsein, das seine Leere mit Gewissheit verwechselt, verfestigt sich zum Ressentiment in genau dem Maße, je weniger es seinen Wahn in die Realität zu projizieren vermag. So recht Benjamin also hat, so wenig kann man seine Hoffnung teilen, es gäbe irgendeinen Weg, in den Massen Vernunft zu verankern. Im Massenbewusstsein wie in der Weiterentwicklung der Technologien wird, unterhalb aller Ereignisse, bis ins kleinste Detail hinein die Ästhetisierung der Politik betrieben und fortschreitend vervollständigt, also die künftige Vernichtung vorbereitet. Demgegenüber existiert nirgendwo, außer (und selbst dort nicht allseits) in Israel, ein Begriff von der Bedrohung, die von dem, wie sich bei Heidegger zeigt, in sich antisemitischen Total-Allgemeinen (das sich im Namen Kapital den ihm adäquaten Ausdruck gegeben hat) ausgeht. Keine Detailkritik, so geboten sie auch sein mag, entkommt dieser Ästhetisierung heutzutage, sondern, wie die bisherige Benjamin- (und auch Adorno‑)§Exegese beweist, früher oder später erliegt sie ihr.

Wenn die Vernunft in Zukunft nicht (als von Grund auf erst noch zu implementierende) doch noch, wie unwahrscheinlich das auch sein mag, durchgesetzt wird, dann hat sie (und sei es negativ) nie außerhalb der Vorstellungswelt Einzelner irgendwo geschichtlich in irgendeinem Allgemeinen je existiert – diesem Befund dürfte auch Benjamin zustimmen. Man muss sich jedenfalls endlich von der Vorstellung lösen (die von Benjamin zwar nicht offen propagiert wird, von der er sich aber auch nicht eindeutig genug und durchgängig distanziert), es gäbe Opfer in der Geschichte, die der (oder auch nur: einer) Vernunft den Weg bereitet hätten oder auch nur hätten bereiten können.

Alex Gruber

Benjamin in Palestine

Vom Ursprung des postmodernen Trauerspiels

Auf all diese Probleme und Widersprüche aber will die postmoderne Wiederentdeckung des Politischen nicht reflektieren. Vielmehr macht sie aus Benjamin einen dezisionistischen »An-archisten« und linken Wiedergänger Carl Schmitts: einen Theoretiker der aus dem Nichts der bloßen Entscheidung entspringenden politischen Formen, der dem in »grund-loser« (Gewalt‑)§Tat gestifteten Recht mit einer »an-archischen« Wendung gegen das Gesetz geantwortet habe. All seiner theologisch-transzendentalen Momente entkleidet, die dem postmodernen Denken notwendig als Paradefall einer métaphysique de la présence (Derrida) erscheinen müssen und die es dementsprechend auszutreiben hat, um sich Benjamin einverleiben zu können, bleibt von dessen Denken wenig übrig als das postulierte »grammatologische Moment« von Gesellschaft. Benjamins Geschichts- und Sprachphilosophie wird verdünnt zu der Behauptung, die gegenwärtige Gesellschaft sei durch homogenisierende Narrative konstruiert und könne dementsprechend durch destabilisierende Konstruktionen geöffnet und offen gehalten werden für heterogene und plurale »Ereignisse des Politischen«.

Doch nicht nur Benjamins Denken, auch sein Tod auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus, so wird die Theorie von der dezisionistischen Konstruktion der gesellschaftlichen Formen schließlich konsequent weitergesponnen, erzähle »die Geschichte von der Arbitrarität der staatlichen Macht, der staatlichen Gewalt und ihrer Rechtsprechung über das nackte Leben«, gegen die eine »Tradition der Unterdrückten gegen jede Form der Beherrschung« stark zu machen sei – wie es in der Einladung zu einer Internationalen Walter-Benjamin-Konferenz heißt, die sich den »politischen Kämpfen in Palästina« verschrieben hat. Wie in der Theorie vom Recht als kontingenter Schöpfung ex nihilo von aller gesellschaftlichen Vermittlung und Bestimmtheit abstrahiert wird, so soll auch kein Unterschied sein zwischen dem Staat westlicher Prägung, dem nationalsozialistischen Unstaat und dem als Konsequenz auf die Vernichtung des europäischen Judentums gegründeten Staats, der folgerichtig dann auch als Ausweis für die »Arroganz jeder staatlichen Macht« zu fungieren hat sowie als »Repräsentanz der Geschichte der Sieger«; und damit als ideale Ausprägung eines »Besatzungsregimes«. Nur die in dieser Gleichmacherei beschlossene Willkür, will heißen: das eigene Ressentiment vermag es, aus dem dem jüdischen Messianismus verpflichteten und von den Nationalsozialisten in den Tod getriebenen Walter Benjamin einen antizionistischen Kronzeugen für den eigenen Hass auf Israel zu machen – wie es die unsägliche, unter der Ägide von Susan Buck-Morss, Slavoj Žižek und Judith Butler stattfindende Konferenz in Ramallah im Dezember 2015 vorexerziert hat.

Redaktion

Biographische Anmerkung zu den beiden Texten von Roman Rosdolsky

Emily Rosdolsky hat angedeutet, dass es letztlich das Versagen der Arbeiterorganisationen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs – der Triumph also von Nationalsozialismus und Stalinismus – war, worin Roman Rosdolskys beharrliches Interesse an einer solchen grundstürzenden Arbeit über die Entwicklungsgeschichte des Marxschen Kapitals begründet lag. Davon schien man während des Kolloquiums von 1967 allerdings wenig zu bemerken. Mit Poulantzas’ Auftritt war sogar eine neue Richtung des Marxismus und der Geisteswissenschaften präsent, deren Daseinsgrund darin gesehen werden muss, jene Erfahrungen, die Rosdolsky zu seiner Studie gewissermaßen nötigten, vollständig auszulöschen. Poulantzas erledigte das, indem er Rosdolsky kurzerhand als Hegelianer abfertigte. Wirklich irritiert schien davon nur Alfred Schmidt (dessen Vortrag hier neben dem von Rosdolsky wiederabgedruckt wird): Er fragte mehrmals in den Diskussionen bei Poulantzas nach, was er denn mit »antihumanistisch« meine: »Ich habe den Verdacht, daß Sie den Verdinglichungsprozeß sozusagen mit einer metaphysischen Weihe versehen. Daß die Strukturen die einzelnen Menschen zu ihren bloßen ›Trägern‹ herabsetzen, das macht für Sie die wissenschaftliche Norm aus, während es bei Marx zur Kritik steht. … Auf alle Fälle ist gegenüber der strukturalistischen Interpretation, bei der Geschichte zur bloßen ›Abfolge von Immobilitäten‹ verkümmert, wie Sartre kritisch anmerkt, festzuhalten, daß materiale Geschichte bei Marx eine ungeheure Rolle spielt.«

Roman Rosdolsky

Einige Bemerkungen über die Methode des Marxschen Kapital und ihre Bedeutung für die heutige Marxforschung

Man hat sich bisher nur selten davon Rechenschaft abgelegt, auf welch hoher Stufe der Abstraktion das Marxsche Kapital konzipiert wurde. Hätte man darüber eine klare Vorstellung gehabt, dann wären gewiss viele Einwände der akademischen Marx-Kritik unterblieben. So begriffen zum Beispiel die wenigsten Marx-Kritiker, dass die in den ersten zwei Bänden dieses Werkes durchgängige Annahme, die Waren würden zu ihren Werten ausgetauscht, rein methodologischen Charakters war und nichts über die konkrete Wirklichkeit aussagen wollte. (In dieselbe Kategorie gehört das sogenannte Bortkiewicz-Problem, das selbst einige Marxisten aus dem Konzept brachte.) All das sind indes triviale Einwände, die auf dem Missverstehen des Aufbaus des Marxschen Werkes beruhen. Denn gerade in den ersten zwei Bänden sieht Marx absichtlich von der Durchschnittsprofitrate, von den von den Werten abweichenden Produktionspreisen usw. ab – er will in diesen Bänden ausschließlich vom ›Kapital im allgemeinen‹ handeln.

Was bedeutet aber der Begriff des ›Kapitals im allgemeinen‹?

Alfred Schmidt

Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie

Hundert Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes des Marxschen Kapitals sind die Schwierigkeiten, dieses Werk angemessen zu beurteilen, nicht geringer geworden; sie haben eher zugenommen. Beschwerte sich Marx schon im Nachwort zur zweiten Auflage darüber, wie wenig seine Methode verstanden worden sei, so hat sich die Lage seither noch verschlechtert. Sieht man von den nach wie vor wirksamen außertheoretischen Hemmnissen, den grob-materiellen und politischen Interessen ab, die eine ernsthafte Rezeption der ökonomischen Seite des Marxismus in der bürgerlichen Welt beeinträchtigen, wenn nicht gar unterbinden, dann bleibt die große Verlegenheit zu erörtern, die das Marxsche Unternehmen dem gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Bewusstsein bereitet, das den geschichtsfremden Kriterien ›operationeller‹ Rationalität verhaftet ist. Eine Verlegenheit, mit der bereits die dem dialektischen Denken fern stehenden Zeitgenossen von Marx nicht fertig wurden, die darüber debattierten, ob er im Kapital positivistisch oder metaphysisch, analytisch oder synthetisch, induktiv oder deduktiv vorgegangen sei. …Weder ist die Marxsche Lehre Einzelwissenschaft von der Wirtschaft, Politik oder Geschichte (oder deren Kombination) noch Philosophie oder Anthropologie im spekulativ-idealistischen Sinn. Auch der zu Marxʼ Zeiten bereits geläufige Begriff ›Soziologie‹ fehlt in seinen Arbeiten. Für Marx gibt es keine sozialen Tatsachen an sich, die sich neutral und abgelöst vom natürlichen, historisch-ökonomischen, psychologischen und politischen Schicksal der Menschen untersuchen ließen. Dennoch bleibt das Kapital ein Werk gelehrter Forschung mit entschieden theoretischem Anspruch. Sosehr sein Begriff von Wissenschaft mit der Idee revolutionärer Weltveränderung verbunden ist, sowenig erblickt Marx im Denken ein agitatorisches Instrument, das sich einem zu erreichenden Effekt unterordnet. »Einen Menschen«, schreibt er in den Theorien über den Mehrwert über Malthus, »der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrtümlich sie immer sein mag), sondern von außen, ihr fremden, äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu akkommodieren sucht, nenne ich ›gemein‹«.Das Kapital ist kein Aufruf zu rascher Tat, sondern der bislang gründlichste und umfassendste Versuch, »das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen«, das heißt »die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als … naturgeschichtlichen Prozeß« zu begreifen.

Martin Puder

Der werdende Marx

Diese von der Erfahrung physischen Leidens bestimmte Biographie Roman Rosdolskys prägt in mancher Hinsicht auch das Buch Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ›Kapital‹. So widersteht Rosdolsky trotz seiner neomarxistischen Grundhaltung allen Versuchen, die Theorie von der Verelendung des Proletariats durch Begriffe wie ›mentale Verelendung‹, ›psychische Verelendung‹ oder gar ›moralische Verelendung‹ zu retten. Selbst den Terminus ›relative Verelendung‹ lehnt Rosdolsky ab. Er geht davon aus, dass derartige Übertragungen, in denen sich der akademische Marxismus gegenwärtig wieder gefällt, nur von der Stumpfheit ihrer Autoren gegenüber wirklichem, physischem Entbehren zeugen. Es wirkt wie Hohn auf dessen Furchtbarkeit, wenn Elend, das in der Sprache nicht umsonst mit dem Adjektiv ›namenlos‹ zusammengewachsen ist, Attribute aus der vergleichsweise harmlosen Sphäre der Reflexion erhält.

Dass Marx seine Theorie »materialistisch« nannte, sollte ja vor allem auch ausdrücken, dass Hunger, materielle Not und körperliches Leiden ernster sind als alles andere und Begriffen oder Ideen immer inkommensurabel.

Manfred Dahlmann

Geschichte und Struktur

Diskussion zu Rosdolsky, Schmidt und Puder


Die Frage ist zunächst weniger, wie viel Hegel, wie viel Kant, wie viel und welche Philosophie überhaupt ins Kapital eingegangen ist, sondern allein schon mit dem Bezug auf Totalität sind von Marx philosophische und insbesondere erkenntnistheoretische Vorgaben gesetzt, die, werden sie missachtet, aus Marx unweigerlich einen Theoretiker der politischen Ökonomie machen und nicht einen Kritiker, der diese auf den Begriff bringen will. Worin dieser Unterschied besteht, sei an einem kleinen Beispiel erläutert: Selbstverständlich kann man die Relationen, in die die Waren eingebunden sind, in denen sie produziert werden usw., als Strukturen bezeichnen – weder Rosdolsky noch Schmidt lehnen diese Bezeichnung von vornherein ab, warum sollten sie auch –, woraufhin man untersucht, wie sie entstanden sind und welche Veränderungen in ihnen stattgefunden haben. Zu fragen wäre jedoch, warum man hierzu auf einen Begriff zurückgreift, der erst mehrere Jahrzehnte nach Marx, mit der Ausbreitung des Positivismus, Karriere gemacht hat, und dabei auf den Begriff der Form verzichtet, den Marx verwendet – und auf den Rosdolsky wie Schmidt bestehen –, um das, was man auch Struktur nennen kann, zu erfassen. Die Antwort ist einfach: Der Formbegriff weist vielfältigste philosophische Implikationen auf – die auf Aristoteles zurückgehen – und die, wie Rosdolsky und Schmidt vorführen, verlangen, dass, wer Form sagt, logisch nicht umhin kann, auch deren Inhalt, wie implizit bleibend auch immer, anzusprechen. Von solch einer Begriffen inhärenten Logik ist jeder Strukturalist ‚befreit‘; er kennt nur Elemente und Relationen, jedenfalls keine Inhalte.

Roman Rosdolsky

Das jüdische Waisenhaus in Krakau


Was wir während dieses Tages in der Dietlstraße sahen, war aber nur ein Vorspiel der eigentlichen »Aktion«, die erst mit Anbruch der Dunkelheit in der Vorstadt Kazimierz einsetzen sollte. Kaum waren die Straßenlaternen angezündet, als schon starke Polizeistreifen in allen Gassen von Haus zu Haus und von Wohnung zu Wohnung zogen, unverschämt plündernd und raubend, was ihnen in die Augen stach, wobei die Männer geschlagen und die Mädchen und Frauen nicht selten bis aufs Hemd ausgezogen wurden und man sogar den Fußboden in den Wohnungen aufriß, um nach verborgenen Schätzen zu suchen. Bald setzte in der Vorstadt ein wildes Schießen ein, das erst am übernächsten Tag erstummen sollte, und man vernahm von drüben immer häufiger und lauter das Jammern und Wehklagen mißhandelter Menschen. … Es verging noch ein Jahr und ich selbst geriet in die Krallen der Gestapo. In Auschwitz, im KZ, gab es wieder Kinder: polnische, russische, ukrainische, vor allem aber jüdische Kinder, die hier zu Zehntausenden ihren letzten Gang in die Gaskammern antreten mußten. Auch die jüdischen Waisenkinder aus Krakau sind wahrscheinlich denselben Weg gegangen, und kein guter Vater vermochte sie zu retten. In den Lagermagazinen aber häuften sich zu Zehntausenden Kinderschuhe, und unser Obersturmführer Sauer befahl dem Capo, nette, passende Schühchen für seinen Ewald herauszusuchen.

Renate Göllner

Masochismus und Befreiung: Georges-Arthur Goldschmidt

An dieser Stelle spricht Goldschmidt auch davon, dass die Jesuiten »mit ihrem klug gemäßigten und rege praktizierten Gebrauch der Rute in den Kollegien« sich bestens auf eine Art »Mittelweg des Wissens durch die Vertrautheit mit dem Körper« verstanden. Mitunter entsteht hier die Gefahr, die körperliche Züchtigung in den entsprechenden Internaten zu verharmlosen, wenngleich solche Sätze aber auch nötig sind, um den Unterschied zu einer auf Vernichtung ausgerichteten Folter, wie sie etwa Jean Améry beschrieben hat, deutlich zu machen. Der Raum, in dem Goldschmidt körperliche Züchtigung und Marter erlebte, war zugleich der Raum, in dem er als jüdisches Kind vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten sicher war. Diese Konstellation ist es, die er als Schriftsteller in allem, worüber er schreibt, zum Ausdruck zu bringen vermag. Mit ihr geht es nicht nur um die biographische Wahrheit, sondern um die grundlegende Aporie der postnazistischen Welt.

Gerhard Scheit

Sie sollen die Scham überleben

Versuch über Kafkas späte Tier-Monologe

Es berührt das innerste Vermögen von Kafkas Erzählkunst, dass der Monolog des Tieres im »Bau« als Verkörperung des Leviathan sich zwar erschließt, doch einer solchen Deutung zugleich etwas entgegensetzt. Dieser Widerspruch verdankt sich – wie der Überschuss an Bedeutung bei den »Forschungen eines Hundes« und »Josefine, der Sängerin« – der Unmittelbarkeit, die eben mit der Vorstellung evoziert wird, ein Tier würde plötzlich sprechen. Dessen Vereinzelung bestimmt im Bau so sehr die Form seiner Rede, dass der Gedanke, es könnte im Wahn des Selbstopfers, im Hirngespinst von Blut und Boden wirklich Ruhe finden, als der absurdeste des ganzen Textes erscheinen muss. Das in Aussicht genommene Opfer verbindet es so wenig wie sein Blut mit irgendeinem anderen Wesen. Der Ausweg in den Wahn, der sich politisch immer dort eröffnet, wo Leviathan zu zerfallen droht, ist ihm versperrt, weil dieser Wahn, der kein medizinisch fassbarer ist, nur als einer des Kollektivs, in der unmittelbaren Identifikation mit der absolut gesetzten Gemeinschaft, die an die Stelle des Leviathan treten soll, funktionieren kann. So wird diese Kreatur der Vereinzelung wieder zurückgestoßen in den circulus vitiosus seiner Angstphantasien, einer Paranoia, die durchaus ihre guten Gründe hat: Niemand wird daran zweifeln, dass seine Vereinzelung eine auf Leben und Tod ist. … Walter Benjamin schrieb, dass bei Kafka die Tiere am meisten zum Nachdenken kämen. Was die Korruption im Recht sei, das sei in ihrem Denken die Angst. »Sie verpfuscht den Vorgang und ist doch das einzig Hoffnungsvolle in ihm.« Die Angst schließt aus, dass es mit ihnen jemals soweit kommt wie mit Josef K. Doch für das Tier im Bau verkehrt sich das einzig Hoffnungsvolle dennoch in ein einziges Grauen, in dessen Atmosphäre der Text mitten im Satz »aber alles blieb unverändert« abbricht: »aber alles blieb unverändert, das«.

Klaus Thörner

Djihad im Ersten Weltkrieg

Deutschlands Versuch, die islamische Welt zu revolutionieren

Eher zu erreichen waren die Gefangenen bei der Ausübung ihrer Gebete. Deshalb fand eine intensive religiöse Betreuung statt, in deren Kontext 1915 der Bau der ersten Moschee zu rein religiösen Zwecken auf deutschem Boden stand. Sie wurde als Holzbau in nur fünf Wochen Bauzeit für 45§000 Reichsmark im Halbmondlager errichtet und am 13. Juli 1915 mit Beginn des Fastenmonat Ramadan eingeweiht. Im Auswärtigen Amt wurde vermerkt: »Dem darin anzustellenden mohammedanischen Geistlichen ist die beste Gelegenheit gegeben, eine aktive Propaganda unter den Kriegsgefangenen zu treiben.« Das Weinberglager, das ab Oktober 1915 über einen eigenen Betsaal verfügte, erhielt parallel zum Bau der Moschee ein hölzernes Minarett. Alle wichtigen islamischen Feste wurden in den Lagern groß gefeiert und dazu offizielle deutsche und türkische Gäste aus Politik und Militär eingeladen. Presseaufnahmen von solchen Anlässen wurden in regionalen und überregionalen, auflagenstarken Zeitungen veröffentlicht, um zum einen das Freundschaftsverhältnis zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich zu dokumentieren und zum anderen die gute Behandlung der kriegsgefangenen Muslime unter Beweis zu stellen. Neben der religiösen und politischen Unterweisung wurden die Gefangenen in den beiden Lagern mit Sport, Kunsthandwerk und landwirtschaftlicher Arbeit beschäftigt. Für letzteres hatten die Männer teilweise auch Ausgang in die umliegenden Dörfer. Als besondere Anerkennung für ›Wohlverhalten‹ durften einige Gefangene unter Führung des Aufsichtspersonals kleinere Märsche in die nähere Umgebung unternehmen, manche kamen sogar bis Berlin. Im Zuge der Propagandamaßnahmen wurden die Gefangenen in mehrere Gruppen kategorisiert: »Ghihadisten, Laue und nicht Belehrbare« oder auch »Bereitwillige, Laue, Französlinge.« Die »einer Beeinflussung unzugänglichen Elemente« schob man vielfach in andere Lager ab. »Ghihadisten«, »Bereitwillige« und »Freiwillige« wurden in einem speziellen Bataillon, dem 1. Bataillon, zusammengefasst, in dem ihnen weitere Privilegien und Vergünstigungen (zum Beispiel bessere Versorgung mit Kleidung, Nahrungsmitteln oder Zigaretten) gewährt wurden.

Luis Liendo Espinoza

Ideologie und Terror

20 Jahre erste Wehrmachtsausstellung und Hitlers willige Vollstrecker

Die hier kritisierte Trennung von Empirie und begrifflichem Urteil, des Datums und der Reflexion auf das Ungeheuerliche, droht den potentiell aufklärerischen Gehalt dieser Diskussion, die von der ersten Wehrmachtsaustellung und von Goldhagens Buch ausgelöst wurde, nachhaltig zu unterdrücken. Die Bestimmung des spezifischen Charakters des Nationalsozialismus – darauf haben diese beiden historischen Projekte vor 20 Jahren aufmerksam gemacht – erfordert von sich aus Elemente, die gemeinhin als Werturteile oder spekulative Reflexion verfemt werden. Die Aufgabe besteht darin, wie Friedländer formulierte, »diese Geschichte nach allen Regeln strengster Wissenschaft« zu schreiben, »ohne das anfängliche Gefühl der ›Fassungslosigkeit‹ zu unterdrücken, das diese Geschehnisse auslösen.« Zugleich bedarf es der Anstrengung der Vernunft, sich zur Unversöhnlichkeit gegen Terror und Ideologie von Nationalsozialismus und Antisemitismus zu verhärten.

Gerhard Scheit

Von Hitlers willigen Vollstreckern zum Holocaust des Klimawandels

Kleine Nachbemerkung zu 20 Jahren Goldhagen-Debatte

Universalismus, Wissenschaft und Vernunft, die Snyder vor Hitler und Adorno retten möchte, kennen bei ihm nur eine Bestimmung und Grundlage: die Herrschaft des Staats. Damit hängt zusammen, dass es dem Zionismus bei Snyder kaum anders ergeht als der Kritischen Theorie. Er sieht sich zwar gezwungen, den Zionisten irgendwie zuzustimmen und anzuerkennen, »dass die Juden staatlichen Schutz benötigten«. Und wenn er im letzten Kapitel die Klimakatastrophe als Menetekel an die Wand malt, so nimmt er sogar etwas davon wahr, dass die Bedrohung, der sich der jüdische Staat heute ausgesetzt sieht, staatlicher Einheit in gewisser Weise spottet, obwohl er gerade dies viel zu wenig ausführt: Er kann nämlich die Gefahr nicht verschweigen, dass die Muslime »wie Hitler« die Juden für alle diese möglichen Umweltkatastrophen schließlich verantwortlich machen »könnten«. Aber mit einem einzigen Satz wendet er seine umweltbewusste Kritik der Weltverschwörungstheorie selber gegen jene, die ihr als Feindbild dienen: »Natürlich könnten die Israelis ihrerseits die Muslime für all das verantwortlich machen und versuchen, ihre amerikanischen Verbündeten in einen größeren Konflikt hineinzuziehen.« Nach dieser Volte bleibt nur noch die Aufgabe darzulegen, in welchem Maß die amerikanischen Verbündeten selbst dazu bereit sind – und hier zeigt sich Snyders Buch vom Herbst 2015 als Teil des beginnenden amerikanischen Wahlkampfs …

Ljiljana Radonić

Individualisierung als Abwehr

Deutsche Erinnerungskultur versus postsozialistische Affinität zur »Sache des Zionismus«

Ebenso ist es unter deutschsprachigen ExpertInnen üblich, sich in Gesprächen äußerst kritisch darüber zu äußern, dass sich das 2005 eingeweihte Museum zur Geschichte des Holocaust in Yad Vashem am Ende mit Blick auf Jerusalem öffnet; die enge Verknüpfung des Holocaust mit dem Staat Israel wird als unzulässige Instrumentalisierung begriffen. An dieser Stelle stößt die diesen Beitrag bisher durchziehende Gegenüberstellung von individueller Opfererinnerung und kollektivem Opfernarrativ an ihre Grenze. Denn selbstverständlich enthält auch der Zionismus nach 1945 eine kollektive Opfererzählung, die jedoch anders als die anderen ›nationalen Narrative‹ unmittelbar auf die historische Realität der Shoah und des Antisemitismus verweist, und damit auf das, was den ›Zivilisationsbruch‹ ausmacht – und dabei keine Mitverantwortung für vom eigenen Kollektiv im Zweiten Weltkrieg begangene Verbrechen übertüncht, sich keine ›jüdische Kollaboration‹ auszublenden bemüht. An dieser Stelle aber reflexhaft einzuwenden, in Yad Vashem werde ja auch nicht thematisiert, was die Juden den Palästinensern antun, ist eine dem Antisemitismus selbst geschuldete Themenverfehlung.

David Hellbrück

Heldenfernsehen

Über Fritz Bauer, Rache und Gerechtigkeit

Aus den Adenauer-Deutschen erwuchsen die Schindler-Deutschen, die heute um die Bauer-, Scholl-, Staufenberg- und Elser-Deutschen ergänzt werden. Alle Anstrengungen markieren einen Fixpunkt: die deutsche Geschichte ist um ihre mutigen, in Vergessenheit geratenen deutschen Heroen ergänzt und zu einem runden Bild abgeschlossen. Wie Lichtblicke werden Gestalten gefunden, die es in aller Nachträglichkeit erlauben, sich mit der eigenen Familiengeschichte ebenso wie mit der Geschichte der Nation restlos zu identifizieren, ohne sich der so profanen wie schlichtweg aufdrängenden Frage zu stellen, wie man sich zu Israel, der Staat gewordenen »militanten Liga gegen den Antisemitismus« (Jean-Paul Sartre), verhält.

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