Essay
Thorsten Fuchshuber
Meister der Rackets: Die Russische Föderation unter der Herrschaft von Wladimir Putin
Mancher Satz von ihm erinnert an Carl Schmitt: »Wenn Demokratie Staatszerfall bedeutet«, so Wladimir Putin im September 2003 im Gespräch mit Korrespondenten der Washington Post, »dann brauchen wir keine solche Demokratie«. Der russische Staatspräsident lässt nicht nur an Schmitt denken, weil ein solcher Satz sich mühelos einfügen ließe in das Denkgebäude des Theoretikers der Konterrevolution. Der zitierte Satz darf auch in ganz praktischer Hinsicht als paradigmatisch gelten für die Inszenierung einer Politik des starken Staats, die als »System Putin« bekannt geworden ist, und die sich, analog zur Rechtslehre Schmitts, auf die Formel bringen lässt: »Souverän ist, wer die Ordnung herstellt«; einer Politik, die zunächst den Eindruck erweckt, Putins vermeintlich starker Staat stehe gegen einen Zerfall der Gesellschaft in Rackets, wird das Racket doch unter anderem mit der Auflösung des Staates, mit einander bekriegenden Banden und dem Chaos des »Unstaats« in Verbindung gebracht. Gerade eine solche Situation fand Putin vor, als er das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation antrat. Offenkundig hat sich seither einiges geändert. Doch bleibt die Frage, welche Ordnung Putin geschaffen hat und mit welchen Mitteln. Und: Ist Putin also ein Anti-Racketeer?
Gerhard Scheit
Der blinde Fleck der Kritischen Theorie und der Primat der Außenpolitik
Jede ungelöste Verdrängung beim Analytiker entspricht, so lautet die Freudsche Selbstreflexion, einem ›blinden Fleck‹ in seiner analytischen Wahrnehmung. Kann nun in jenem übertragenen Sinn von einer Verdrängung der Gewalt als dem Kern des Ideologischen gesprochen werden, zeichnet sich die Kritische Theorie von Adorno und Horkheimer auch und gerade in diesem Fall dadurch aus, dass sie der blinde Fleck, den sie selbst in der Wahrnehmung ihrer Kritik besaß, nicht ruhen ließ, ehe sie die ihm entsprechende Verdrängung auflösen konnte. Das zeigt sich nicht zuletzt an ihren Überlegungen zum Zionismus.
Es gehört nun zu den merkwürdigsten geistigen Erfahrungen der Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Kriegs, dass diese fast beiläufig, meist in privaten Briefen und in Notizen gemachten Überlegungen zum Dreh- und Angelpunkt jeder Kritik des Politischen geworden sind, die den kategorischen Imperativ nach Auschwitz ernst nimmt: Sie nötigen zu einem »Primat der Außenpolitik« (Leo Strauss), der nichts mit der Dominanz des Politischen übers Ökonomische zu tun hat, die der deutschen und, versteckt, der deutsch-europäischen Ideologie eignet, aber alles mit jenem Imperativ. Zwar hat das Institut für Sozialforschung in ihrem Engagement für den US-amerikanischen Souverän im Zweiten Weltkrieg längst vorgeführt, wie ein solcher Primat zu setzen ist, doch beinhaltet die Parteinahme für Israel zugleich etwas wesentlich Anderes, denn sie gilt keiner Macht, die wie die USA Welthegemon sein oder werden kann, sie gilt einem Staat, der gegründet worden ist, weil eben keine hegemoniale Macht unter den Staaten jene Vernichtung um ihrer selbst willen verhindern kann, die der Krise des Kapitals entspringt und immer derselben Projektion eines »totalen Feinds« folgt.
Renate Göllner
Hexenwahn und Feminismus
Über die Dialektik feministischer Aufklärung am Beispiel von Silvia Bovenschens Kritik
Die Durchsetzung des bürgerlichen Rechts und des industriellen Kapitals machte den Hexenprozessen ein Ende. Bovenschens Studie über die imaginierte Weiblichkeit reflektiert dieses Ende in der bürgerlichen Gesellschaft, indem sie die Projektionen herausarbeitet, die mit der Durchsetzung der bürgerlichen Institutionen einhergehen. Unausgesprochen liegt in dieser Verlagerung auf die Projektion von Weiblichkeit, auf Kreativität und Mannigfaltigkeit des Projizierens die Erkenntnis, dass die neuen, abstrakten Formen von Herrschaft und Produktion nicht einfach als ein »männliches Prinzip« betrachtet werden können, nur weil sie weiterhin mit asymmetrischen Geschlechtsbeziehungen einhergehen; dass ihre Durchsetzung personengebundene Herrschaftsformen auflöst und deren Wiederkehr und Persistenz damit gerade als Reaktionsbildung auf diesen Auflösungsprozess verstanden werden müsste, als Projektionsmechanismen, die in sekundäre Formen personengebundener Herrschaft und also immer wieder in Gewalt münden.
Nikolai Schreiter
»Eingeschleppte Parasiten«
Antiziganismus und Bettelmafia als pathische Projektion
Das Feindbild folgt nicht der Vorstellung von der allumfassenden Weltverschwörung und der Identifikation mit der abstrakten Seite des Kapitalverhältnisses. Dem Antiziganismus und dem Antisemitismus aber ist gemein, dass in ihren Projektionen die Menschen, auf die sie zielen, keinen Ort haben, an den sie ›eigentlich‹ gehören würden. Diese ›Ortlosigkeit‹ im Antiziganismus, die sich in der Betonung der tatsächlichen oder angeblichen östlichen Herkunft der Bettelnden und ihrer Mobilität wiederfindet, ist einer der zentralen projizierten Inhalte der falschen Gesellschaft mit ihrer notwendig nationalen Fixiertheit der fürs Ganze verzichtbaren Einzelnen, also der tendenziellen Zusammengehörigkeit von Blut und Boden.
Tobias Neuburger
»Daß beide zwei ganz verschiedene Völker sind«
Zum Verhältnis von Antisemitismus und Antiziganismus
Insbesondere innerhalb der Linken ist eine Tendenz beobachtbar, die Kritik des Antisemitismus zu verdrängen und an ihre Stelle jene anderer Ressentiments zu setzen. Diese Tendenz hat wohl damit zu tun, dass im Falle des Antisemitismus die problematische Vorstellung vom ›reinen Opfer‹ – anders als im Falle von Rassismus oder Antiziganismus – nicht bewahrt werden kann: Bedingt durch die Existenz jüdischer Staatlichkeit als Schutzmacht gegen die antisemitische Bedrohung, können die Juden nicht mehr als eines jener ›subalternen‹ Subjekte figurieren, mit denen sich die Linke stets bevorzugt identifiziert und solidarisiert.
Ljiljana Radonić
Vom Vergessen zum Porajmos, dem ›Roma-Holocaust‹
In Ermangelung eines Staates, der Schutz vor aktueller Verfolgung bieten und die Erinnerung an die Verbrechen institutionalisieren könnte, wäre es zumindest von Vorteil, einen eigenen Begriff für die Verfolgung von Roma und Sinti in der Öffentlichkeit etablieren zu können. Ian Hancock, Linguist, Romani-Wissenschaftler und Menschenrechtsaktivist, prägte bereits in den 1990er Jahren den Terminus ›Porajmos‹. Doch ist dieser nicht nur deshalb umstritten, weil er in einigen Romanes-Dialekten zwar Zerstörung, in anderen aber Vergewaltigung heißt, sondern vor allem deshalb, weil Hancock ihn eindeutig als »Wort für den Roma-Holocaust« begreift, also von der Gleichheit der beiden Phänomene ausgeht.
Manfred Dahlmann
Kapital, Geld und Wert
Marx war, das können wir ihm zuschreiben, ohne ihm Unrecht zu tun, von dem gleichen Ehrgeiz getrieben, wie alle Ökonomen der Neuzeit: Auch seine Kritik sollte durchgängig in operationalisierbaren Wertausdrücken gründen. Setzt man dabei aber Wert- und Preisausdruck auch bei der Bestimmung des Kapitalbegriffes in eins, dann droht unterzugehen, dass Geld- und Kapitalzirkulation zwar ineinander verschoben sind, aber auf je anderen Maßeinheiten aufbauen müssen. Trennt man sie, dann muss man offen zugeben und, das gebietet die philosophische Aufrichtigkeit (Jean-Paul Sartre), dann auch ausweisen, dass der Sprung in die (Quasi‑)Metaphysik unvermeidbar ist.
Inwieweit es Marx gelungen ist, die Metaphysik in seiner Darstellung auf deren unvermeidbaren Kernzu reduzieren, und die Größen, mit denen er operiert, tatsächlich in einen Status zu versetzen, der dem szientistischen Anspruch auf Messbarkeit genügt, können wir hier unmöglich im Detail untersuchen, ebenso wenig, ob die Operationalisierungen, die er vornimmt, bis in alle Einzelheiten hinein korrekt sind – was, wäre das der Fall, angesichts der Komplexität der Materie an ein Wunder grenzen würde und schon deshalb nahezu unmöglich ist, weil sich diese Komplexität bis heute vielfach potenziert hat. Uns reicht der Nachweis, dass Marx, was die Möglichkeiten der Formalisierung ökonomischer Prozesse betrifft, der aktuellen Realität – und das nachprüfbar – sehr viel näher kommt als alle heutigen Ökonomen zusammen, und geben uns mit der Angabe des Weges zufrieden, wie die Operationalisierung prinzipiell durchzuführen wäre.
Hans-Georg Backhaus
Georg Simmels »Philosophie des Geldes«
Simmel hat als seine Grundabsicht ausgesprochen: »dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen, derart, daß der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen … psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden. Für die Praxis des Erkennens muß sich dies in endloser Gegenseitigkeit entwickeln: an jede Deutung eines ideellen Gebildes durch ein ökonomisches muß sich die Forderung schließen, dieses seinerseits aus ideelleren Tiefen zu begreifen, während für diese wiederum der allgemeine ökonomische Unterbau zu finden ist, und so fort ins unbegrenzte.« Simmels Vorstellung, auf der Basis der subjektiven Wertlehre dennoch den »Erklärungswert« des historischen Materialismus zu »wahren«, liegt die Voraussetzung zu Grunde, daß sich objektive Werttheorie und historischer Materialismus unabhängig voneinander analysieren und rezipieren lassen. Der polemische Zug gegen die Fachwissenschaft ist Simmel und Marx gemeinsam. Es geht um »Anknüpfung der Einzelheiten und Oberflächlichkeiten des Lebens an seine tiefsten und wesentlichsten Bewegungen und ihre Deutung nach seinem Gesamtsinn.« Die Intention beider ist darauf gerichtet, der Einzelerscheinung in der Weise gerecht zu werden, daß ihre »Erlösung aus der Isolierung und Ungeistigkeit … des ersten Anblicks«, ihre »Erweiterung und Hinausführung zur Totalität und zum Allgemeinsten«, nicht nur in der Weise der traditionellen Philosophie postuliert, sondern auch vollbracht werden soll.
Günther Anders
Über Rilke und die deutsche Ideologie
1948. Aus dem Nachlass
Und tatsächlich ist auch die Figur, die der von Langenau [aus Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke] nun als »Spork« erkennt, unverkennbar: sie ist das genaue Gegenstück zu ihm selbst: Während er Seide und Wehmut ist, ist der Eisen und Verachtung – wobei R. Verachtung als Kraft, und damit als Tugend meint. Den Brief, den der Knabe ihm überreicht – eine Empfehlung für die Promotion zum Fähnrich – kann Spork offenbar nicht lesen. Die Apotheose des Analphabetentums und der reinen Gewalt ist unüberbietbar. Denn Spork verschmäht sogar zu reden: Reden ist für ihn ein läppisches Derivat des Fluchens, für das die Lippen gemacht sind.
Für den von L. ist er der Inbegriff von wahrer Größe. »Der Spork ist vor Allem. Sogar der Himmel ist fort.« Und in vollen Zügen genießt er vor der Allmacht des Anderen seine eigene Ohnmacht. Nur ein einziges Wort kommt von Sporks Lippen: »Cornet« – also die Beförderung zum Fähnrich. »Und das ist viel«, schließt Rilke diese Seite.
Das ist wirklich viel. Zwar ist der von Langenau nun Symbolträger geworden, im wörtlichsten Sinne des Wortes, und hat dadurch weiteres dichterisches Gewicht gewonnen – aber wofür die Fahne steht, welches Symbol der Fähnrich trägt oder verkörpert, das erfahren wir niemals. Wie begreiflich, dass dieses Buch die Lagerfeuerbibel der Jugendbewegung wurde und dass sie, in Tornister-Ausgabe, die deutschen Soldaten in den ersten Krieg begleitete. Dass sie sogar in der Nazijugend ihre weitere Verehrung genoss, ist umso bedeutsamer, als schließlich die femininen Züge des »Helden« der Dichtung durchaus nicht mit dem soldatischen (wenn auch mit dem Jugendbewegungs-) Ideal im Einklang sind. Aber die Idealisierung von »Symbolismus überhaupt«, die Ignoranz der Sache, für die man stirbt, und die Verehrung von Macht – diese drei Dinge zusammen haben die Dichtung für beinahe zwei Menschenalter einen Erfolg bleiben lassen.
Markus Bitterolf
Ein guter Europäer: Heidegger 1936 in Rom
Der Literaturwissenschaftler Silvio Vietta bringt es fertig, die antisemitischen Passagen der Schwarzen Hefte als legitime »Judenkritik« zu deuten. Heideggers seynsgeschichtlicher Antisemitismus wird – unter Abspaltung der Realgeschichte – zur Globalisierungskritik frisiert: »Etwas rast um den Erdball …« Unfreiwillig trifft diese Verteidigung das Projektive der Antiglobalisierungsrhetorik von links bis rechts: transnationale Konzerne, Heuschrecken, Bankster, die amerikanisch-jüdische Ostküste, oder was sonst noch Sahra Wagenknecht, die IG Metall, Augstein Junior, Jürgen Elsässer und die NPD Görlitz für antisemitisch konnotierte Umschreibungen gesellschaftlicher Herrschaft finden werden. Welche Konsequenzen auf solchem Wahn gründende Politik bereits im 20. Jahrhundert zeitigte, ficht auch Vietta naturgemäß nicht an; er affirmiert Heideggers Pseudokritik des Kapitals als »Zivilisationskritik« mit antiimperialistischer Ausrichtung.
Georges-Arthur Goldschmidt
Der Juden sich entledigen!
Über Peter Trawnys Buch »Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung«
Wie fortgeschritten auch immer die Assimilation, ja gar Fusion mit der deutschen Gesellschaft, für Heidegger sind und bleiben die Juden Deutschland völlig fremd – die alte, infantile Leier, die seit Luther endlos wiedergekäut worden ist. Dabei ist es erstaunlich, wie eifrig sich dieser »große Denker« die ältesten und abgedroschensten Klischees zu eigen macht. Alles, was er – neu verpackt in mediokrem, verschnörkeltem Deutsch – aufs Papier bringt, ist schon tausendmal wiederholt worden im Laufe der deutschen Geschichte, immer in den gleichen Termini.
Parataxis
Florian Markl
Iran-Deal und Jew-Tracker
Obamas Abkommen mit der Islamischen Republik und die Folgen
Die Stimmungslage, die in den Meinungsumfragen Ausdruck fand und sich auch im US-Kongress niederschlug, war präzedenzlos: Noch nie zuvor hat es eine vergleichbare Situation gegeben, in der eine US-Administration ein Abkommen aushandelt, das ihren Behauptungen zufolge von welthistorischer Bedeutung sei, die Verbreitung von Nuklearwaffen verhindere und das Risiko eines erneuten Krieges im Nahen Osten reduziere – und dafür von einer Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung und der Kongressabgeordneten aus beiden Parteien Ablehnung erntet.
Einen Schritt weiter als der Präsident und seine Hofschranzen ging die New York Times. Sie veröffentlichte auf ihrer Webseite eine Grafik, in der alle Abgeordneten verzeichnet waren, die im Kongress gegen den Iran-Deal gestimmt hatten – und hob, grafisch passender Weise mit gelber Farbe versehen, hervor, ob es sich bei den Abgeordneten um Juden handelte und wie hoch der Anteil der Juden im jeweiligen Bundesstaat ist. Zu Recht bezeichnete Adam Kredo vom Washington Free Beacon die Grafik schlicht als »Jew-Tracker«. Der Eindruck, der erweckt wurde, war eindeutig: Gegner des Iran-Deals seien entweder selbst Juden oder würden von ihrer jüdischen Wählerschaft unter Druck gesetzt, stellten aber in jedem Fall Partikularinteressen über amerikanische Interessen. In Kombination mit der von Obama propagierten Argumentationslinie, der zufolge es sich bei Gegnern des Deals um Kriegstreiber handle, die lieber heute als morgen Teheran bombardieren wollten, wurde das alte antisemitische Stereotyp vom kriegstreiberischen und illoyalen Juden neu aufgewärmt.
Diskussion mit Thomas von der Osten-Sacken
Das gesamte EU-Fluchtabwehrsystem kollabiert
Über Flüchtlingskrise, europäische Politik und das Ende des Antifaschismus
Die Regionen außerhalb der Kontrolle Assads und des Irans verwandeln sich, auch dank der täglich fallenden Fassbomben, derweil zunehmend in eine Mad-Max-Region, in der islamistische sunnitische Rackets sich gegenseitig bekämpfen, ohne dass einer je siegen kann. Auf eine solche ›Lösung‹, die natürlich nur eine temporäre sein kann, dürften auch die russisch-iranischen Interventionen momentan hinauslaufen, wobei die große Frage ist, inwieweit der Iran und Russland langfristig nicht äußerst divergierende Interessen in Syrien verfolgen: Statt neuer Staaten oder Grenzen kreiert der Iran diese parastaatlichen Gebilde, wie etwa den von der Hezbollah kontrollierten Südlibanon, die völlig von Teheran abhängig sind und zugleich als Front gegen Israel dienen. Ähnliches schwebt ihm nun sowohl in Syrien als auch im Irak vor, wo dank des IS die Sunniten als eigenständiger politischer Faktor de facto ausgeschaltet sind.
Diskussion mit Manfred Dahlmann
Der Euro und sein Staat
Auch Deutschland ist spätestens seit der Niederlage im Ersten Weltkrieg kein imperialistischer Staat mehr – sondern versucht sich (im Grunde schon seit seiner Reichsgründung) als Gegenhegemon (gegen Großbritannien und die USA) zu profilieren. (Die Schwierigkeiten der Historiker, die Politik des Deutschen Reichs bis zum Ersten Weltkrieg auf den Begriff zu bringen, resultieren daraus, dass sie immer noch historisch längst überholte imperiale Momente mit ›modernen‹ hegemonialen kombinieren.) Es gehört zur Politik auch dieses Gegenhegemons (und das Dritte Reich tanzt hier keineswegs aus der Reihe), nicht den Eindruck zu vermitteln, auf Krieg und Vernichtung zu setzen. Die Sache ist nur die, dass die Deutschen damals genau wussten, dass ihr Wahn, sich zum Weltsouverän zu erheben, sich ohne dieses Setzen auf Krieg und Vernichtung gar nicht verwirklichen ließ. Mag ja sein, dass es heute mehr Deutsche als Anfang der 1930er Jahre gibt, denen es mit dem Verzicht auf eine hegemoniale Rolle in der Welt ernst ist; ich habe da so meine Zweifel.
Klaus Thörner
Den Vernichtungskrieg durch andere Staaten finanziert – die Schulden nie beglichen
Die Geschichte dieser Schulden beginnt noch vor dem Nationalsozialismus, im Jahr 1932. Damals torpedierte die deutsche Regierung endgültig den unter anderem von Frankreich und den USA unterstützten Plan multinationaler Präferenzverträge für die südosteuropäischen Agrarstaaten. Der deutschen Seite gelang es, diesen Plan zunichte zu machen, da Frankreich und Großbritannien letztlich zu wenig Interesse an Importen aus Südosteuropa zeigten. Großbritannien konstituierte mit den Beschlüssen von Ottawa (1932) einen nahezu geschlossenen Wirtschaftsraum, innerhalb dessen den eigenen Kolonien Präferenzen bei der Einfuhr von Agrarprodukten gewährt wurden. Frankreich galt im landwirtschaftlichen Bereich als Selbstversorger und deckte weiteren Bedarf aus seinen Kolonien. Dagegen strebten deutsche Wirtschaft und Politik unter anderem aufgrund der Erfahrung der Seeblockade im Ersten Weltkrieg nach einem blockadesicheren ›Ergänzungsraum‹, in dem sie ein sine qua non für einen zweiten kriegerischen Griff nach der Weltmacht sahen. Mit den Rohstoffen sollte die Kriegsmaschinerie ins Laufen gebracht und in Bewegung gehalten werden, mit den Agrarprodukten sollte ein Hungern und damit eine Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung wie in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges vermieden werden. Die Sicherung des dafür vorgesehenen ›Ergänzungsraums‹ Südosteuropa bildete eine wesentliche Grundlage für das 1929 entwickelte Konzept der deutschen Großraumwirtschaft, das Carl Schmitt später mit dem »Interventionsverbot für raumfremde Mächte« erweiterte. Das Scheitern der jahrelangen internationalen Verhandlungen über Preisgarantien für die südosteuropäischen Staaten eröffnete dem Deutschen Reich 1932 die Chance, diese Großraumwirtschaft mit Südosteuropa als Zufuhrgebiet für Agrarprodukte und kriegswichtige Rohstoffe zu realisieren.
Gerhard Scheit
Jüdischer Israelhass?
Was sie dabei antreibt, spricht Judith Butler selber indirekt an, wenn sie ihr Verhältnis zu den nichtjüdischen Aktivisten beschreibt, die gegen Israel mobilisieren. Während einstmals Arthur Trebitsch alles tat, um nicht mit dem Judentum identifiziert zu werden, beschäftigt sie wohl die Angst, in den Augen der anderen Linken mit Israel identifiziert zu werden, weil sie jüdischer Herkunft ist. Von dieser Linken geht offenbar ein stets wachsender Druck aus, dem Butler immer mehr nachgegeben hat, wie sich an ihren Publikationen seit Ende 1990er Jahre ablesen lässt. Mittlerweile avancierte sie dank dieser Anpassungsleistung zur Gallionsfigur etwa der BDS-Bewegung, denn niemand kann diese Bewegung, welche die Zerstörung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hat, unverdächtiger repräsentieren als eine Jüdin. Anders als Trebitsch, der ein Außenseiter und Desperado blieb und der außer in kleinen Kreisen kaum ernst genommen wurde, kann Butler als Israelkritikerin ihre Karriere, die sie mit der Versenkung feministischen Engagements im Gender Trouble begonnen hatte, bruchlos fortsetzen.
Florian Ruttner
Die Natur ohne Eigenschaften
Grenzen der Akademie
Der Band stellt also den lobenswerten Versuch dar, auf den gesellschaftskritischen blinden Fleck der zeitgenössischen Kultur- und Sozialwissenschaften hinzuweisen und ein wenig Sand in das Getriebe des akademischen Kulturwissenschaftsbetriebs und der Theorien, die momentan im Schwange sind, zu streuen. Und mit diesen sieht es, wie die Herausgeber unterstreichen, düster aus: Menschenfeindliche Ideen einer »anthropozän strukturierten Geosphäre« machen die Runde, in der sich die Menschen nicht so wichtig nehmen und lieber verwundert darüber sein sollten, in einer Welt zu leben, »in der die Seienden nunmehr das Sein darstellen« und sich so dem Sein, einer irrationalen Allgewalt unterwerfen sollen, beziehungsweise sich auf radikale »Verschiebungen der Sprecherpositionen – menschlicher und nicht-menschlicher« – einstellen müssen, was immer das dann auch im Detail heißt.
Florian Müller
»Beide haben recht… Marx und Freud«
Zur Aktualität Siegfried Bernfelds
Bernfeld verwirft auch die Idee, mittels »richtiger« Pädagogik den idealen Menschentyp erziehen zu können und kritisiert an ihr, was auch Adorno in den 60er Jahren über Pädagogik geschrieben hat, dass sie mit »Tiefsinn aus zweiter Hand übers Sein des Menschen … schwafel(t)«. Er wirft der Pädagogik Unwissenschaftlichkeit vor, da sie sich nach den Maßgaben der Gesellschaft richte und eine konservative Funktion einnehme: das Bestehende zu erhalten. Da der Erziehungsprozess, den die Pädagogik wissenschaftlich untermauern möchte, von unbewussten Prozessen bestimmt wird und einen subjektiven Faktor enthält, der in der Person des Erziehers oder Lehrers gegeben ist, ist es der Pädagogik nicht möglich, Aussagen darüber zu treffen, ob die von ihr entworfenen Erziehungsmittel zur Erlangung ihrer Ziele beitragen oder nicht.
Klaus Thörner
Lumpensammler, Schiffbrüchiger und Perlentaucher
Kleines Porträt Walter Benjamins – in Zitaten
Nicht der Blick als solcher beansprucht unvermittelt das Absolute, so lernt Adorno von Benjamin, sondern »die Weise des Blickens, die gesamte Optik ist verändert. Die Technik der Vergrößerung, lässt das Erstarrte sich bewegen und das Bewegte innehalten. Seine Vorliebe für minimale und schäbige Objekte wie Staub und Plüsch in der Passagenarbeit steht komplementär zu jener Technik, die von all dem angezogen wird, was durch die Maschen des konventionellen Begriffsnetzes hindurchschlüpfte oder vom herrschenden Geist zu sehr verachtet ist.« Weil er verlorenen, unbeachteten, getrübten Gesten, Dingen und Hoffnungen Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, dem Zufälligen, Ephemeren, ganz Nichtigen, blieb Benjamin immer jenen halben Schritt zurück, »hielt stets Abstand zu der Welt – wie sie ist, wahrte jenen Spielraum, der nötig ist, um ihr in den Rücken zu fallen, vor allem aber, um in aller Unabhängigkeit den verblassten Details ihr volles Leben zurückzugeben, dieser verleugneten Kehrseite der Geschichte – die er wie kein anderer gleichsam im Handumdrehen wie ein Jackenfutter hervorzukehren verstand, um uns ihre schillernden Farben aufzudecken …«
Gerhard Scheit
Das Verschwinden des Souveräns im Ausnahmezustand
Über Walter Benjamins immanente Kritik an Carl Schmitts politischer Theologie – vom Trauerspiel-Buch bis zu den Thesen »Über den Begriff der Geschichte«
Am Trauerspiel zeigt Benjamin die »Entschlußunfähigkeit des Tyrannen«: »Der Fürst, bei dem die Entscheidung über den Ausnahmezustand ruht, erweist in der erstbesten Situation, daß ein Entschluß ihm fast unmöglich ist.« Fällt er doch, so macht ihn gerade seine völlige Unabhängigkeit von normativen Orientierungen und Rückbindungen an das Recht abhängig von der »Willkür eines jederzeit umschlagenden Affektsturms«. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, aber in der Frage, wie die Entscheidung zustande komme, tritt der Widerspruch hervor: bei Carl Schmitt ist es das Nichts, das den Ausschlag gibt; bei Benjamin jedoch kommt gerade darin das beständig Verleugnete, mühsam Unterdrückte wieder zur Geltung: Resurrektion der Natur im Wahnsinn der Politik: »Nicht Gedanken, sondern schwankende physische Impulse bestimmen« den Souverän: »Zuletzt tritt der Wahnsinn ein«.
In diesem Zusammenhang steht bei Benjamin auch die Wendung der Trauerspieldichter zur Geschichte des Ostens, zu den Herrschaftsformen des Sultanats und des byzantinischen Kaisertums: Die Faszination, die für sie von den Quellen dieser Geschichte ausgegangen sei, habe sich sukzessive gesteigert: »Denn je mehr gegen den Ausgang des Barock der Tyrann des Trauerspiels zu einer Charge wurde, die ein nicht unrühmliches Ende in Stranitzkys wiener Possentheater fand, desto brauchbarer erwiesen sich die von Untaten strotzenden Chroniken Ostroms.«
Lars Fischer
»Sein Konservatismus ist nur der allerdings unabdingliche Vordergrund von etwas ganz, ganz anderem.«
Zu Leo Strauss und seinem Briefwechsel mit Gershom Scholem
Inzwischen neigt sich die zweite Amtsperiode des Nachfolgers von George W. Bush dem Ende zu, und zumindest in der wissenschaftlichen Diskussion um Leo Strauss ist es insgesamt wesentlich ruhiger geworden. Die wüsten verschwörungstheoretischen Polemiken, die Strauss als eine direkte Inspiration der Außenpolitik Bushs darzustellen versuchten, haben stark an Konjunktur verloren. Komplizierter ist die Lage im Zusammenhang mit Strauss’ Nähe zur Konservativen Revolution der Weimarer Republik. Dass die Kritik an Strauss in diesem Zusammenhang zum Teil eher instrumenteller Natur und durch die erwähnten Polemiken motiviert war, lässt sich daraus ersehen, dass Strauss sich in der überaus interessanten Position befindet, wegen seiner Nähe zu Figuren wie Carl Schmitt und Martin Heidegger von Leuten kritisiert zu werden, die sich mit Schmitt und Heidegger selbst längst versöhnt haben (und dies obwohl in den letzten zwei Jahrzehnten über Schmitt und Heidegger Dinge enthüllt worden sind, die man Strauss beim besten, das heißt: schlechtesten Willen niemals wird nachsagen können).