Essay
Till Gathmann
Antisemitisches Wahnbild und antiislamische Karikatur
Die antiislamischen Cartoons von Charlie Hebdo sind in der Tat Schmähzeichnungen, ganz im Sinne der Definition Kris’ und Gombrichs; sie zielen auf die Ehre. Vermenschlichung heißt hier die antiautoritäre Aggression gegen den Respekt vor der religiösen Sphäre: die Pfaffen, Imame, Rabbis sind Menschen wie du und ich, zuweilen niederträchtig, verlogen und permanent in Widersprüche verstrickt. Der eine Gott – so es ihn denn gibt – muss, wenn er allmächtig ist, ein Sadist sein, was seine fleischgewordenen Vertreter auf Erden in keinem guten Licht erscheinen lässt. Die Blasphemie der Cartoons ist aufklärerisch im besten Sinne. Ihr Witz weigert sich, das Unvernünftige der Religion anzuerkennen und markiert es als psychisches Bedürfnis des Gläubigen. Der Muslim erscheint als lächerliche und getriebene Erscheinung, der seinem Wahn ausgeliefert ist. Wenn er sich rechtfertigen muss, ist er beleidigt, immer sehnt er sich dabei nach einer in seinem Sinne gesäuberten, regelkonformen Welt. Gerade durch seine Distanz zum Naturalismus zeigt ihm der Cartoon, dass er in einer dreckigen lebt und dass sie so bleiben soll. Keine Erlösung ist besser als Endlösung, Sinnlosigkeit besser als Sinnstiftung. Immer wieder schlägt die Realität in die Zeichnungen herein, durch den Witz ist die Zensur gelockert, was sie produziert ist nicht immer schön – auch in dieser Hinsicht zeigt sie sich radikal antimythologisch. Sie zieht es vor, auf dem Boden zu bleiben, ohne der Sache auf den Grund zu gehen; oberflächlich, wie sie ist, zieht sie alles Hohe herunter. So ermöglicht sie auch, der Westergaardschen Intention ähnlich, den Zweifel des Gläubigen darzustellen. In der obigen Zeichnung ist es ja Mohammed selbst, der den Witz reißt und so der Lächerlichkeit seines eigenen Regelwerks entkommt. In dem Sinne ist Mohammed hier nicht Objekt, sondern Subjekt. Als Comicfigur macht er, stellvertretend für alle Apostaten, was er will, und zeigt damit einen Weg, die Aggression, die in den Verboten gebunden ist und zur Vollstreckung ihrer ausgelebt werden kann, antiautoritär zu wenden.
Georges-Arthur Goldschmidt
Der Deutsche und das Ressentiment – eine Antwort auf Alain Finkielkraut
Es stimmt, wie Finkielkraut sagt, dass Heidegger den Biologismus Rosenbergs und der ersten Naziperiode verachtete, doch fordert er unermüdlich das Einführen von Zwang und »Zucht«, damit das »Deutschtum« über den Biologismus siegt. Wenn die französischen Fassungen von Heideggers Texten die Illusion von Denken verschaffen können, sind die steifen und brutalen oder gekünstelten und affektierten deutschen Texte durch ihren Wiederholungscharakter und ihre Gedankenlosigkeit eher erschreckend. Es gibt in Frankreich ein vollständiges Verkennen des Nationalsozialismus und seines besonderen »deutschen« Charakters. Hier war die Modernität am Werk, allerdings genau jene Heideggers. … Jene Modernität der »Todesmaschinerie«, die Alain Finkielkraut – Hannah Arendt und Raoul Hilberg zitierend – so gut beschreibt, ist auch in Heideggers »Denken« vollkommen vorhanden, wofür die von Farias zitierten Texte der philosophische Niederschlag sind. Diese Maschinerie wird nämlich von der Entschlossenheit und vom Einsatz bis zum letzten gesteuert, die Heidegger von seinen Studenten fordert, die ins Arbeitslager ziehen. Das Hitlersche Sein und das Heideggersche Sein – irgendwo aus der tiefsten Tiefe einer Vision des Deutschtums entstanden – sind von ein und demselben Wesen, wie der Schweizer Philosoph Max Picard bereits 1946 feststellte (L’homme du néant, Le Seuil, 1947), dessen Analysen der Modernität unvergleichlich origineller sind als die Heideggers.
Georges-Arthur Goldschmidt
Ein Leben, ein Werk im Zeichen des Nationalsozialismus
Es ist verständlich, daß man in Paris versucht hat, diese bestürzenden Texte zu verschweigen, denn sie kompromittieren sein Denken grundlegend. Zum Wohle des »Denkens« sollte Heidegger unbedingt gerettet werden, so als wäre er nicht eben durch dieses Denken kompromittiert. Nunmehr wird man nicht mehr um die Feststellung herumkommen: Heideggers Nationalsozialismus liegt im Wesen seines Denkens, und es geht darum zu wissen, was das zu bedeuten hat.
Martin Blumentritt
Antisemitismus auf den Richterstühlen der Vernunft
Jüdisches und Antijüdisches im Deutschen Idealismus (Teil 2)
Schellings Christologie steht der anamnetischen Tradition des Judentums näher als seine akademische Umgebung. Die Verfahrensweise seines Geschichtsdenkens, das dann in einer »metaphysischen Erfahrung« (Adorno), einem »metaphysischen Empirismus«, mündet, hat auch strukturell eine aktuelle kritische Bedeutung, wie sie für die Kritische Theorie des 20. Jahrhunderts bedeutsam ist. So fi nden wir in dem Teil »Vergangenheit«, der als einziger fertiggestellt wurde und fertiggestellt werden konnte, Bemerkungen, die wir in Diskussionen zur »Vergangenheitsbewältigung« hätten hören können. An ihnen merken wir, dass Schelling nicht einer jener Romantiker ist, die die Vergangenheit bis zur Verklärung idealisieren. Das Diktum Ulrich Sonnemanns, demzufolge Zukunft nach außen wiederkehrende Erinnerung sei und deswegen Gedächtnislosigkeit keine habe, wird von Schellings historischer Verfahrensweise vorweggenommen: »Wie wenige kennen eigentliche Vergangenheit! Ohne kräftige, durch Scheidung von sich selbst entstandene, Gegenwart gibt es keine. Der Mensch, der sich seiner Vergangenheit nicht entgegenzusetzen fähig ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr. Ebenso jene, welche immer die Vergangenheit zurückwünschen, die nicht fortwollen, indeß alles vorwärts geht, und die durch ohnmächtiges Lob der vergangenen Zeiten wie durch kraftloses Schelten der Gegenwart beweisen, daß sie in dieser nichts zu wirken vermögen. Die meisten scheinen überhaupt von keiner Vergangenheit zu wissen, als der, welche sich in jedem verfließenden Augenblick durch eben diesen vergrößert, und die offenbar selbst noch nicht vergangen, d. h. von der Gegenwart geschieden ist.«
Manfred Dahlmann
Ökonomie und Ideologie
So sehr die Subjekte sich auch darum bemühen, Maße für ihre ideelle Gedankenwelt zu entwickeln, indem sie Alles und Jedes in allen möglichen Formen quantifizieren, es existieren schlichtweg keine objektiven Messverfahren (und -einheiten), auf welche sie zurückgreifen könnten, um die Geltung ihrer Maßstäbe auszuweisen. Befriedigung kann sich nur im Subjektiven einstellen, an einem Ort also, wo jedes Anlegen eines quantifizierenden Maßes willkürlich ist, da in ihm der Satz der Identität keine Grundlage vorfindet, sondern nur in ihn projiziert werden kann. Um solche Projektionen handelt es sich etwa bei dem Überlegenheitsgefühl, das sich allgemein einstellt, wenn Deutschland Fußballweltmeister geworden ist, bei der allseitigen Freude, wenn die Partei, die man gewählt hat, auch an die Regierung gelangt ist, bei der Bestätigung, die jedermann in sich verspürt, wenn er vom Chef gelobt wird. Denn diese emotionalen Aufwallungen stehen allein für sich selbst und sind, warenförmig idealisiert und quantifiziert, nichts als Ausdruck der Vernunftwidrigkeit des ökonomischen Ganzen. Solcherart psychischer ›Mehrwert‹ lässt sich, rationalisiert, der betriebswirtschaftlichen Logik, an der auch alle Politik sich ausrichtet, zwar umstandslos subsumieren und diese Subsumtion erfolgt allgegenwärtig, erreicht aber die Basis nicht, auf der diese Logik sich konstituiert.
Martin Dornis
Sigmund Freuds biologischer Materialismus
Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Natur und naturhafter Gesellschaft in der Psychoanalyse
Dem Marxschen historischen Materialismus zufolge erscheinen gesellschaftliche Verhältnisse als natürlich. Er durchdringt eine als naturhaft erscheinende Gesellschaft und entlarvt sie als menschlich gemachte, zeigt wie und warum das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein determiniert. Individuelles Bewusstsein, dem von den Individuen, die keine sein wollen und die Identität ersehnen, hingegen ist nur psychoanalytisch zu fassen. Auf dieser Nichtidentität ist strikt zu beharren, soll das Identitätsprinzip nicht theoretisch zementiert werden, die Kritik nicht ideologisch regredieren. Freud zeigt in seinem biologischen Materialismus hingegen auf, dass in den Menschen und außerhalb ihrer ein Naturreich existiert, das sie nicht beherrschen. Bei Marx ist der Mensch als gesellschaftliches ein nicht-gesellschaftliches, daher naturhaft agierendes und bei Freud als natürliches ein nicht-natürliches Wesen.
Esther Marian
Psychoanalytische Frauenbiographik und die Theorie der Geschlechterdifferenz
Teil 2
Während Freuds Verhältnis zur gesellschaftlichen Norm zweideutig ist – die Inhumanität der »Bekenner des ›Normalmenschen‹« war ihm zuwider – tritt seine Schülerin Helene Deutsch als Verteidigerin der Norm gegen eine sich bereits abzeichnende Auflösung auf … Nicht die Flucht, die George Sand unternahm, sondern nur ein Einlenken in den »weiblichen Entwicklungsweg« ermöglicht einer Frau ein befriedigendes Sexualleben, lautet die unmissverständliche Botschaft an Leserinnen und Zuhörerinnen … Dabei ist das, was Deutsch als »Weiblichkeit« empfiehlt, zum Fürchten: über die Angstträume der kleinen Aurore, dass ein ihr geschenkter Polichinelle, ein »Wurstl in rotgoldener Kleidung« sie und ihre Puppe mit Feuer vom Ofen verfolge, sagt sie: »Und dieser rotgoldene Wurstl, der sie feuersprühend und angsterregend bedrängte, ich glaube, er war der einzige Mann ihres Lebens, demgegenüber George Sand vollkommen weiblich empfand.« Das »weibliche« Empfinden reduziert sich damit auf das angst- und zugleich sehnsuchtsvolle Erwarten der »aktiven Tat« des Mannes, einer empfundenen oder realen Vergewaltigung, die für Deutsch am »aktiven Organ« und damit an den »anatomischen Gegebenheiten« zu hängen scheint. Wenn Deutsch schließlich Sand für ihre Meinung rügt, man überschätze die Bedeutung der anatomischen Geschlechtsunterschiede, und die Diagnose trifft, die Verschmähung des »weiblichen Masochismus« habe bei Sand, da Frauen aufgrund ihrer »Organlosigkeit« zu einer produktiven Umsetzung aggressiver Strebungen im Sexualleben »die anatomischen Mittel fehlen«, nur dazu führen können, dass sie Männern »Böses tat« und »von einem Teil der Umwelt mit Fluch belegt wurde« – dann ist dies nicht nur ein Anschlag auf jeden Versuch, aus der verordneten Passivität auszubrechen; Deutsch verkennt auch die Größe von Sands Einsicht und ignoriert gerade einige der avanciertesten Thesen Freuds.
Christoph Hesse
Ohne Namen
Die Darstellung der Verfolgung und Vernichtung der Juden im sowjetischen Kino (1938–1945)
Ein Ungenügen an der Vorstellungs- und Aussagekraft dokumentarischer Aufnahmen, wie es Lanzmann Jahrzehnte später polemisch zum Ausdruck bringt, empfanden allerdings schon zu jener Zeit auch manche sowjetische Filmemacher, aus wenngleich anderen Motiven: Denn ihnen ging es nicht um Erinnerung dessen, was sie selbst eben noch mitansehen mussten, sondern, neben der Aufnahme von Beweisstücken im historischen Prozess, um eine größtmögliche Mobilisierung der Bevölkerung mit dem Ziel, dem immer weiter um sich greifenden Morden Einhalt zu gebieten, die Deutschen zurückzuschlagen oder ihnen notfalls immerhin zu entkommen. Zu diesem Zweck wurden ab 1942 hinter der Front auch Spielfilme produziert, die nicht nur den Krieg, sondern insbesondere die von den Deutschen verübten Massaker an den Juden in Form einer fiktionalisierten dramatischen Handlung darzustellen oder zumindest anzudeuten versuchten.
Tobias Ebbrecht-Hartmann
Lass die fernen Orte zu dir kommen…
Aharon Appelfeld und die »Durchlässigkeit der Überlieferung«
Weder kann die Tradition weiterhin in eine hermetische Form von Gesetzen und Ordnungen gebannt werden, noch kann die neue Ordnung als völlig abgelöst von der alten gestaltet werden. Dieser ›Blick in beide Richtungen‹ tangierte also auch den Zionismus selbst, der »bei Agnon als ein zwar edles, aber zum Scheitern verurteiltes Unternehmen erscheint«. Anders als die heute literarisch, kulturell und politisch den Gegensatz von – dieses Mal als fortschrittlich deklarierter – Diaspora-Identität und – als veraltetes Konzept denunzierter – zionistischer Staatlichkeit propagierenden Kritiker Israels, wussten Agnon und seine Zeitgenossen aber genau, dass »freilich alles andere noch viel schlimmer, nämlich Lug und Trug ist.« Und anders als die aktuelle nostalgische Rückbesinnung auf das ›jüdische‹ Europa vor dem Holocaust, die auch die dritte und vierte Generation von Israelis erfasst hat, war den hebräischen »Klassikern« klar: »zu dem alten Leben gibt es in unserer Zeit, was immer seine vergangene Glorie gewesen sein mag, keinen Weg zurück.«
Gerhard Scheit
Nach Kafka
Imre Kertész’ negative Ästhetik
Auch die Helden Kafkas suchen mit allen Mitteln, ihre Vorstellungen von einer rationalen Ordnung der Welt sich zu bewahren, aber bei Kertész ist damit einerseits die Naivität eines Vierzehnjährigen gestaltet, andererseits – und hier liegt die fundamentale Differenz zu Kafkas Welt – weiß jeder, der diesen Bericht liest, immer mehr als das Ich des Schicksallosen, kennt von Anfang an den Weg in die Vernichtung, über den dieses Ich sich keine Klarheit verschaffen kann und will. Das Naive wird derart gesteigert, dass ein Bewusstsein imaginiert wird, das nur noch aus Verdrängung der Gewalt, die es fortwährend erfährt, zu bestehen scheint.
Parataxis
Joel Naber
Der kleine Charlie als gutes Objekt
Was am siebten Januar getötet wurde
Der Marsch in Paris vom 11. Januar war also ein Trauermarsch, eine Beerdigung. Beerdigt wurde die Freiheit des Denkens und des Ausdrucks. Beides ist ja untrennbar miteinander verbunden. Warum hatte es zuvor keine derartigen Trauermärsche, etwa nach den islamistischen Morden an Juden in Toulouse und Brüssel, gegeben? Weil die Mehrheit sich innerlich längst damit abgefunden hat, dass die Juden geopfert werden sollen. Der eigene Superioritätsverlust des Westens über den Islam hingegen wurde im kollektiven Bewusstseinsbild geleugnet: Deshalb gibt das, was die Europäer und die Franzosen mit dem Massaker an Charlie Hebdo erlebt haben, ihnen zum ersten Mal wirklich ein Gefühl davon, wie es ist, als Dhimmi zu leben. Und doch wissen alle Nichtjuden, dass sie angesichts des Terrors eine Wahl haben – während die Juden keine haben. Dass man sie, die Nichtjuden, zwingen möchte, die Unterwerfung zu wählen, und dass sie insgeheim wissen, dass sie die Unterwerfung wählen werden, hat eine große Zahl von Menschen schmerzlich getroffen.
Gerhard Scheit
Je suis Charlie oder Wir sind das Volk
Michel Houellebecqs Unterwerfung und die Großkundgebungen von Leviathan und Behemoth
Allerdings weist in der Form der Darstellung nichts darauf hin, dass mit der neuen Herrschaft unter Ben Abbes keineswegs der Islam selbst gemeint sein kann, sondern die Art und Weise, wie sich die Wunschphantasien europäischer Bürger eine erfolgreiche Politik vorstellen – und insofern sitzt der Roman selbst diesen Illusionen auch auf. Gerade seine Stärken, die in der Demonstration der Freiwilligkeit der Unterwerfung liegen, erweisen sich als Schwächen, wenn es um die Frage der Gewalt geht. Houellebecq zeigt eine Gesellschaft, für die der Islam die grausame Praxis der Sharia gar nicht nötig hätte, nur fehlt in seinem Roman gerade die Faszination, die in Wirklichkeit der Freiwilligkeit zu Grunde liegt: die Sehnsucht in jedem Bürger, die äußere Krise und die inneren Widersprüche durch unmittelbaren Zwang und eine, von keinem abstrakten Recht gebremste Gewalt zu bewältigen – und darin liegt wohl auch die eigentliche Ursache, warum gerade das deutsche Feuilleton für den neuen Roman sich so begeistern konnte.
Dieter Sturm
Gemeinschaft statt Nation
Anmerkungen zu den Abgründen der europäischen Ideologie
Es entbehrt vor dem Hintergrund dieses latenten oder – wie bei Menasse – manifesten antikapitalistischen und antiamerikanischen Affekts, schließlich auch nicht einer gewissen Logik, dass in Plädoyers für ›mehr Europa‹ von der Rolle Deutschlands stets auf eine Art die Rede ist: Deutschland wird einerseits als ein Land unter vielen angesprochen, das sich hartnäckig weigert, seine Souveränität (seinen ›nationalen Egoismus‹) zugunsten einer fortschreitenden transnationalen europäischen Solidarisierung zurückzustellen; und es sei andererseits nur deshalb besonders heftig zu kritisieren, weil es besonders mächtig sei, nicht aber als das Land, das mit Nationalsozialismus, Shoah und Vernichtungskrieg selbst maßgeblich zum janusköpfigen Charakter der europäischen Einigung beigetragen hat. Denn es ist dieser janusköpfige Charakter – in Form einer Union, die nicht zum Staat werden kann und darf und somit aber erst recht viel Spielraum dafür lässt, je nach Interessenslage die nationale Souveränität eines Staates gegen die eines anderen oder aber auch die ›Überwindung‹ nationaler Souveränität im Namen eines Staats (oder ›Volks‹) gegen einen anderen Staat auszuspielen –, der von jenen Proeuropäern ihrerseits letztlich bejaht wird.
Alex Gruber
Der globale Minotaurus und der verlorene Faden des Wirtschaftsprofessors Varoufakis
Es soll also ein Souverän geschaffen werden, dem diesmal wirkliche Macht zukomme, die nationalen Egoismen und die Hybris der Finanzmärkte an die Kandare zu nehmen, um so einestabile Wirtschaftsordnung herzustellen, in der die Industrie, befreit vom Gängelband der Spekulanten, sich »auf ihre Kernaufgabe konzen trieren (›Dinge‹ gut herzustellen)« könnte. Der Wahn, die Herrschsucht und die Strafphantasien, die in solchen Vorstellungen stecken, werden kaschiert, indem Varoufakis der Wall Street unterschiebt, unrechtmäßig schon zu besitzen, was er selbst für seinen »Mechanismus zum Überschussrecycling« beansprucht: die Macht, global zu herrschen – und indem er gleichzeitig den USA andient, die Seite zu wechseln und sich unter die Kämpfer für eine mögliche andere Welt einzureihen.
Leo Elser
Das exzessive und das ›anständige‹ Ressentiment
Es stellt sich also die Frage, wie sich der ganz normale, alltägliche Antisemitismus, dessen Protagonisten die Annahme einer jüdischen Weltverschwörung jederzeit bestreiten würden, die brav klatschen, wenn israelische Politiker vor dem Bundes tag sprechen, die gegen rechten und manchmal auch islamischen Judenhass demonstrieren, von jenem Antisemitismus sowohl abgrenzen lässt, dessen Anhängern die bloß diplomatische Mitwirkung an der Vernichtung Israels nicht ausreicht und die lieber heute als morgen die Israelis ins Meer treiben würden, als auch nur auf denselben Antisemitismus zugleich sich beziehen lässt.
Devi Dumbadze
Die gebrochene Liebe als »vzaimne«
Wie der Antisemitismus doch noch Georgiens Beziehung zu Israel prägt
»Weder den Spieß anbrennen noch das Fleisch« ist eine georgische Redensart, die dunkel jene Unentschlossenheit zur Sprache bringt, die die gleichzeitige Beschwichtigung des Iran und Russlands in Georgien bedeutet. Um Israel aber in Wahrheit als einen strategischen Partner zu gewinnen, könnte man diesem stattdessen die Nutzung des eigenen Gebiets zwecks eines womöglich notwendig werdenden Schlags gegen die Atomanlagen im Iran anbieten. Die Gefahr eines theokratischen Regimes im südlichen Nachbarstaat will man indessen deshalb nicht wahrhaben, weil auch daheim zwar eine orthodox-christliche, aber dennoch auf die Dominanz der Religion über die bürgerlichen Rechte abzielende gottesfürchtige Staatsordnung visiert wird, die Georgien ohnehin Russland noch näher bringt.
Tjark Kunstreich
Das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation
Nicht alle Homosexuellen freuen sich über die Aufmerksamkeit, die ihnen in den vergangenen Jahren zuteil geworden ist. Anlass für diese Aufmerksamkeit waren Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung und nach dem Ende diskriminierender Gesetzgebungen, die mit einem Male durchsetzbar waren; zugleich aber auch ein, wie es schien, Rückschlag im Anstieg von Diskriminierung und Verfolgung weltweit. Mit der homosexuellen Emanzipation ist vielleicht die Diskriminierung als ein gesetzlich und gesellschaftlich akzeptierter Vorgang minimiert worden, nicht aber die Verfolgung: Tatsächlich empfinden es nicht wenige Schwule und Lesben nun als schwieriger, sich in der Öffentlichkeit mit dem oder der Geliebten in offener Zuneigung zu zeigen, als in Zeiten, in denen die Reaktionen sehr viel vorhersehbarer waren. Das heißt: Wo man früher einem gesellschaftlichen Konsens begegnete, der Diskriminierung und Verachtung bedeutete, ist man heute Situationen ausgesetzt, die weniger einschätzbar und von Individuen oder Gruppen, nicht aber von der gesellschaftlichen Situation abhängig sind.
Birte Hewera
Wem gehört die Erinnerung?
Überlegungen zu Zeugenschaft und Kulturindustrie
So ergibt sich die paradoxe Situation, dass einerseits die Darstellung des Verbrechens in den Formaten der Kulturindustrie mit stets neuer Verblendung einhergeht, andererseits aber dadurch die Möglichkeiten einer anderen Sicht und einer anderen Erinnerung überhaupt erst zur Debatte gestellt wurden. Diese grundsätzliche Ambivalenz bezeugt Theodor W. Adorno bereits fast zwanzig Jahre vor der Ausstrahlung von Holocaust. Er berichtet von der Aufführung eines Theaterstücks über Anne Frank, in dessen Folge eine Zuschauerin erschüttert geäußert habe: »Ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen«.Adorno sieht in der Erschütterung der Frau zwar das Potential zu einer Einsicht, zugleich diene die dramatische Gestaltung des Einzelschicksals jedoch als »Alibi des Ganzen«, das darüber vergessen werde. Adorno kommt zu dem Schluss: »Das Vertrackte solcher Beobachtungen bleibt, daß man nicht einmal um ihretwillen Aufführungen des Anne-Frank-Stücks, und Ähnlichem, widerraten kann, weil ihre Wirkung ja doch, so viel einem daran auch widerstrebt, so sehr es auch an der Würde der Toten zu freveln scheint, dem Potential des Besseren zufließt.«
Lars Fischer
Georg im Wunderland
Über ein Beispiel marxistischer Musikbiographik
Fragt man heute, was von Georg Knepler bleibt, so lautet die Antwort: viel Nachdenkenswertes, aber auch das eine oder andere eher Bedenkliche. In der Knepler-Biographie von Oberkofler und Mugrauer ist beides (sofern es denn vorkommt) in der Regel leicht zu erkennen: Das Bedenkliche daran, dass es von den Autoren gelobt; das Nachdenkenswerte, dass es von ihnen kritisiert wird. Insofern ist es wohl ein Segen, dass von dem, was an Knepler wichtig ist, in der Biographie herzlich wenig vorkommt. Bei ihrem Positivismus handelt es sich um jenen, der meint, wenn die bürgerliche Wissenschaft sich dem Positivismus verschrieben habe, dann könne der Marxismus sie dadurch zur Einsicht zwingen, dass er ihren eigenen Positivismus noch überbietet. Was könnte also geeigneter sein, dem Weltkommunismus zum Sieg zu verhelfen, als möglichst lange Listen von unbestreitbaren Fakten? Je mehr Geburtsnamen angeheirateter Kusinen ich beibringen kann, so die Logik, desto unbestreitbarer wird auch für bürgerliche Leserinnen und Leser der Wahrheitsgehalt meines Marxismus.
Robert Bösch
Von Pferden und Menschen
Wenn Suhrkamp daher gegen Schluss seines Aufsatzes die »Möglichkeit« anführt, »daß aus der Verbindung mit Motoren so etwas wie Rasse entsteht« und von Menschen schwärmt, »deren Verhältnis zum Motor etwas vom Verhältnis zu Tieren an sich hat, und die ganz, mit Haut und Haar, Leib und Seele, wie man sagt, in dem Leben mit Motoren aufgehen«, so gewinnt man den Eindruck, der Auferstehung jener Ideologie der Phrase beizuwohnen, für die Karl Kraus im Ersten Weltkrieg den Begriff des »technoromantischen Abenteuers« prägte, dessen Helden das Schwert ziehen, um im Gaskrieg bis auf das Messer zu kämpfen.
Gerhard Oberschlick
Nicht genügend kontrovers
Warum von Günther Anders’ Nachlass nichts in Tumult erscheint
Dass die Verfälschungen Ernst Noltes, widerspruchslos redaktionell als prominente Preziosa auf Sammetpölsterchen präsentiert werden, kann daher nur in einer Blattlinie gründen, die von den aktuellen Verantwortern heimlich, hinter dem Rücken des Publikums, mit Bedacht gezogen wird. In ihrer veröffentlichten und – im prägnanten Wortsinn: – unheimlichen Blattlinie deklarieren sie »Zum Charakter« ihres Blattes gegen Schluss: »TUMULT publiziert neben Luftigem und Unaufgeräumtem auch Schwieriges und Unplausibles, neben experimentellen Textsorten auch Manifestartiges. Die Redaktion schätzt denkerische Strenge und Konsequenz, aber nicht die rituelle Stilisierung selbstgenügsamer Wissenschaftlichkeit. Erkenntnis als Frucht der Begierde zu begreifen, was vor sich geht, ist heute annähernd überflüssiger Luxus. Es herrscht die Zuversicht vor, man könne sich die Welt nach Belieben zurechtmachen, müsse sie nicht erst erkennen. Aber wir hängen am Luxus und nehmen gern das Risiko in Kauf, elitär zu erscheinen. Die Intellektuellen sind die Elite der Überflüssigen.« Der elegant mit den emotionalen Qualitäten der Wörter spielende Schwall drängt mir den Eindruck auf, die Redaktion missverstehe Erkenntnis als Frucht derjenigen ihrer Begierden, um derentwillen sie auf die Lästigkeit denkerischer Strenge verzichtet, intellektuelle Unaufgeräumtheit aufopfernd pflegt, rationale Sortierung rituell vermeidet und sucht, sich’s nach Gusto in der tollen Küche zusammenzurühren – Hauptsach’, ’s is all’s ganz wild kontrovers.