In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht. Man muss herausfinden, was das ist. Das soll aber nicht heißen, dass man die Brücken hinter sich abbricht. Es handelt sich darum, die vorhandene Theorie auszubauen.
Friedrich Pollock
In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht. Man muss herausfinden, was das ist. Das soll aber nicht heißen, dass man die Brücken hinter sich abbricht. Es handelt sich darum, die vorhandene Theorie auszubauen.
Philipp Lenhard
Friedrich Pollock und der Anfang der Kritischen Theorie
Wie auch immer man zu den einzelnen Urteilen Pollocks stehen mag, so war er doch der erste, der erkannt hat, dass die alten analytischen Kategorien ihre Bedeutung verloren hatten und der Kritiker mit einer qualitativ neuen, noch ungekannten Ordnung konfrontiert war. Wie dieser Ordnung entgegenzutreten war, das war für Pollock noch nicht entschieden. Zunächst einmal konnten er und seine Mitstreiter das, was sie vor sich sahen, nur so akkurat wie möglich analysieren. Der Text Die bessere Ordnung stellt deshalb ein Zeugnis des Innehaltens und Nachdenkens über die Gegenwart und Zukunft der Kritik dar.
Manfred Dahlmann
Der zentrale und von uns schon hervorgehobene, für die aktuelle Krisenentwicklung maßgebliche Fakt (und dieser wird kaum noch geleugnet, auch wenn öffentlich nicht darüber geredet wird) ist: Nicht zuletzt der Erfolg der Antiinflationspolitik hat dazu geführt, dass die Geldmenge mittlerweile ein Vielfaches der Preissumme der aktuell produzierten Warenmenge ausmacht. Eine Hauptaufgabe der aktuellen Politik besteht zweifellos darin, den Eigentümern des von Grund auf überflüssigen Geldes das Vertrauen zu vermitteln, dass sie trotz dieses Inflationspotentials darauf rechnen können, ihr Geld in Zukunft in genau die Waren tauschen zu können, die sie glauben, zum aktuellen Zeitpunkt damit erwerben zu können. Wie dieses Vertrauen mit der rigiden deutschen Sparideologie generiert werden kann (und soll), wurde an anderer Stelle dargelegt. Hier geht es darum, deutlich darauf hinzuweisen, dass es politischen Akteuren grundsätzlich unmöglich ist, gesamtökonomisch notwendige Maßnahmen zur Vermeidung von Krisen, sei es die Entwertung von Geld, sei es die Zerstörung von Waren, bewusst strategisch in Angriff zu nehmen. Beides geschieht entweder hinter dem Rücken aller Akteure oder gar nicht – es sei denn, man kann Notwehr gegen einen äußeren oder inneren Feind als Rechtfertigung in Anspruch nehmen. Und was das Geld betrifft: Es entwertet sich sowieso nur, mit den wenigen, andernorts vermerkten Ausnahmen, ›automatisch‹, also in der Form von Naturkatastrophen oder Schicksalsschlägen, entweder in einer Inflation oder dann (was allerdings nur das Buchgeld betrifft), wenn Submärkte (wie der Aktien-, Devisen- oder Immobilienmarkt) kollabieren. Und in deren Crash wird der politische Submarkt unweigerlich mit hineingezogen. Politiker, die für eine bewusste Entwertung von Geld (oder Waren) plädieren würden, weil sie deren Notwendigkeit im Interesse des ökonomischen Ganzen erkannt haben, stünden von vornherein mit zumindest einem Bein in einer psychiatrischen Anstalt.
Alex Gruber
Alexander Dugin und der russische Aufstand gegen die Vernunft
Mögen es (fern-)östliche Theologien sein oder mystische Strömungen, archaische Mythen oder irrationalistische Philosophien; all dies, worauf Dugin sich immer wieder positiv bezieht, ist für sein Denken nur insoweit von Belang, wie es sich als Modell des Gegensouveräns inszenieren lässt und damit als Aufruf zum »globalen Kreuzzug gegen die USA, den Westen, die Globalisierung und deren politisch-ideologischen Ausdruck, den Liberalismus«. Darin erweist sich der ontologische Seinsbegriff ein weiteres Mal als Resultat der Hypostasis subjektiver Sehnsüchte und Bedürfnisse: als Instanz verordneter Archaisierung, die nur als Regression zu haben ist. Wenig überraschend erweist sich Dugin dann auch als großer Freund der islamischen Erweckungsbewegung, der er attestiert, »exakt eine Zivilisation [zu sein], die ihre Besonderheit und ihre Unterschiede zu anderen Zivilisationen immer deutlicher erkennt, in erster Linie in Abgrenzung zur liberal-westlichen Zivilisation, die die islamische Welt aktiv mit Füßen getreten hat im Laufe der Globalisierung.« Dementsprechend plädiert er dafür, den Islam in die „antiglobalistische und antiimperialistische Front“ einzubeziehen, deren gemeinsame Grundlage der »Haß auf die gegenwärtige soziale Realität« darstelle – wobei seine besondere Bewunderung dem Iran gilt, der bereits heute der »westlich-amerikanischen Hegemonie« direkt widerstehe. Dugin möchte also Russland und die Orthodoxie mit dem Islam verbünden und gibt damit so etwas wie eine ideologische Unterfütterung für beziehungsweise Begleitmusik zu Putins zunehmender Annäherung an Teheran.
Esther Marian
Teil 1
Wenn Freud trotz seines Bewusstseins davon, wie zweifelhaft angesichts der »sozialen Ordnungen«, welche die Frau »in eine passive Situation drängen«, endgültige Aussagen über die Herkunft der Geschlechtscharaktere sind, gleichzeitig meint, der anatomische Unterschied müsse sich »doch in psychischen Folgen ausprägen« und an einer häufig kritisierten Stelle proklamiert: »Die Anatomie ist das Schicksal«, dann ist selbst dies nicht bloß eine Anpassung ans Vorurteil, sondern rührt von einem wirklichen theoretischen Problem her: wie nämlich, wenn man eine völlige oder weitgehende Unabhängigkeit der psychischen Charaktere von der Anatomie annimmt, die Korrelationen zu erklären sind, welche unter den bestehenden Verhältnissen bei erwachsenen Menschen zwischen ihrem jeweiligen anatomischen Geschlecht und dem, was als psychische »Männlichkeit« oder »Weiblichkeit« firmiert, unzweifelhaft bestehen. Die Psychoanalyse geht nicht nur von einer konstitutionellen »Bisexualität«, sondern mehr noch, von einer »polymorph-perverse[n]« Anlage aus, in welcher jede Art der Sexualbetätigung und geschlechtlichen Charakterformation als Möglichkeit enthalten ist, und steht deshalb vor der Schwierigkeit, erklären zu müssen, wie aus dem polymorph-perversen Kind, dessen Triebe nur locker
unter dem Primat einzelner erogener Körperzonen wie des Mundes, des Anus und dann des Genitales stehen, eine Frau oder ein Mann wird, deren oder dessen Sexualtriebe, wie von der Gesellschaft gefordert, sich vereinheitlichen und in den Dienst der Fortpflanzung treten.
Tanja Walloschke
Es scheint sich eine Tendenz abzuzeichnen, in der die Polit-Gruppe die an den Stalinismus angelehnte Pyramidenstruktur der Masse mit der Verherrlichung eines zentralen Organs, die eine ewige Schuld gegenüber dem Vater abträgt und deshalb dem Ödipus auf unbewusste Weise huldigt, ablegt und sich zur narzisstischen Gruppe umformiert. Es ist ihre Crux, in der Trauer über das, was dem Individuum durch eine als Enttäuschung erfahrbare Realität mit ihren teils gewaltsamen Zumutungen in einem anstrengenden Prozess des ›Erwachsenwerdens‹ widerfährt, die anti-ödipale narzisstische Position nicht aufgeben zu können mit all ihrer Destruktivität, die bis zur virtuellen Vernichtung des Objekts reicht. Die Gruppe als Schutzraum ist der Ort, an dem sowohl die Einheit mit der Mutter als auch die Identifikation mit dem Vater gelebt werden kann. Masse und Gruppe gemeinsam ist es, den Trieb, für den nicht zuletzt die Frauen stehen, entweder auszulagern oder auf ihn verzichten zu müssen und eigenes Schuldgefühl und Versagen auf versagende Objekte zu projizieren.
Renate Göllner
Chasseguet-Smirgel, Grunberger und Lacan
»… die Bisexualität! Mit der hast du sicher Recht. Ich gewöhne mich auch, jeden sexuellen Akt als einen Vorgang zwischen vier Individuen aufzufassen.« – Sigmund Freud an Wilhelm Fließ
Dieter Sturm
Sartres und Adornos Kritik des Antisemitismus und deren philosophische Voraussetzungen
Sartre und Adorno kommen in ihrer Kritik des Antisemitismus, ausgehend von völlig unterschiedlichen Grundlagen, zu erstaunlich ähnlichen Befunden. Adorno ist diese Nähe nicht entgangen. In einer Fußnote in The Authoritarian Personality merkt er an: »There is marked similarity between the syndrom which we have labeled the authoritarian personality and the ›portrait of the anti-Semite‹ by Jean-Paul Sartre. … That his phenomenological ›portrait‹ should resemble so closely, both in general structure and in numerous details, the syndrome which slowly emerged from our empirical observations and quantitative analysis, seems to us remarkable.« Adorno kam später merkwürdigerweise nie mehr auf »Sartre’s brilliant paper« zurück; und Sartre nahm von den Arbeiten der Kritischen Theorie offenbar überhaupt keine Notiz. Dass der, der die Bekämpfung des Antisemitismus nicht der auf unabsehbare Zeit vertagten Revolution überlassen will, mit Adorno den Judenhass als ein der falschen Gesellschaft Entsprungenes und ihn zugleich – nicht nur aus pragmatischen, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen – mit Sartre als »freie und totale Wahl« begreifen muss, soll im vorliegenden Beitrag dargelegt werden.
Oshrat Cohen Silberbusch
Jean Améry und Theodor W. Adorno
Dass Améry dem dialektischen Denken tatsächlich viel näher stand, als die Lektüre seines Jargons der Dialektik nahelegen könnte, wird all jene, die mit Amérys Werk ein wenig vertraut sind, nicht überraschen. Sein Misstrauen gegen absolute Wahrheiten war viel zu groß, als dass er sich nicht angezogen gefühlt hätte von dieser Philosophie der immerwährenden Bewegung des Denkens. Seinen autobiographischen Essay nannte Améry Revision in Permanenz, einer Sammlung von Essays gab er den Titel Widersprüche. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Lessing-Preises heißt es: »In keiner meiner Schriften, ja kaum in einem einzigen Satz, den ich niederschrieb, sind nicht Spuren von Dialektik nachweisbar«, und noch radikaler in seinem Nachwort zu seinem Roman-Essay Lefeu: »Kaum ist ein Gedanke gefasst, stellt auch schon der Widerspruch sich ein, den ich nicht ersticke, sondern so lange hege, bis er mir die erlangte Idee umgebracht hat.« Nein, Améry ist kein Feind der Dialektik, im Gegenteil. Doch er misstraut den Dialektikern, sodass letzten Endes die potentielle Gefahr der Dialektik in seinen Augen die Übermacht gewinnt über ihre Chancen. Während Adorno genau umgekehrt die Chancen der Dialektik sieht vor ihren Gefahren. Diesen grundlegenden Unterschied möchte ich an zwei Zitaten veranschaulichen, in denen tote Hasen eine zentrale Rolle spielen. Tote Hasen, die, wie wir sehen werden, die Differenz zwischen Améry und Adorno erstaunlich gut illustrieren.
Martin Blumentritt
Jüdisches und Antijüdisches im Deutschen Idealismus
War Janus ursprünglich ein Lichtgott, so wandelte seine Vorstellung sich allmählich zum Gott allen Ursprungs, des Anfangs und des Endes, der Türen und der Tore, zum Vater aller Dinge und Götter. Das, was die Deutschen Idealisten über das Jüdische dachten, war nicht weniger janusköpfig als der Ursprung ihres Denkens: die Aufklärung, so wie sie von Kant als Ausgang aus der Unmündigkeit zusammengefasst wurde, und ihr gegenüber das Traditionale, wozu wesentlich auch der Bereich des Religiösen gehörte, das sie zugunsten eines Reiches der Freiheit, menschlicher Autonomie, aufzuheben intendierte. Offenbarungstheologie wurde verdrängt durch den Gedanken, dass nichts am Religiösen zu akzeptieren sei, das die Menschen unter heteronome Verhältnisse bringen könnte. Dass Juden zum Opfer genau dieser Aufklärung wurden, welche auch ihre eigene Kritik hervorbrachte, sei es im persönlichen Kontakt zu Juden, sei es zu anderer antisemitischer Demagogie motiviert, macht eine Konstruktion des Antisemitismus unmöglich, die nicht deren heimlichen Telos des Antisemitismus im Massenmord an den europäischen Juden im Blick behält, ohne es anachronistisch als Maßstab zu nehmen.
Jan Süselbeck
Über Karl Gutzkows Roman »Wally, die Zweiflerin«
Das Schwanken einer Frauenfigur wie Wally zwischen der Hure und der Heiligen, dem bei Gutzkow die Stereotypien der ›schönen Jüdin‹ beigesellt werden, verstört an diesem Roman bereits genug. Dann jedoch taucht auch noch Delphine auf, der selbst Wally als Frau jede geistige Eigenständigkeit abspricht: Wallys zitierte strenge Empfehlung, Cäsar solle Delphine gefälligst zur Lektüre anhalten, liest sich dabei wie eine Chiffre zeittypischer Assimilationsforderungen gegenüber der jüdischen Minderheit, die Gutzkows Text allerdings trickreich im empfindsamen ›Poesiealbum‹ weiblicher Tagebuchnotizen über mögliche Formen der eigenen Emanzipation camoufliert. Im Blick auf das leidige Problem der Intention kann man hier tatsächlich nur spekulieren: Jenes Schwanken resultierte im Bewusstsein des Autors womöglich aus der Abspaltung eines verdrängten Unheimlichen im Eigenen der Triebstruktur, deren Manifestationen er trotz seines betonten Altruismus gegen über den Frauen und dem Judentum nicht unter Kontrolle zu bringen vermochte.
Renate Göllner / Gerhard Scheit
Es nützte nichts: Man nimmt es den konsequenten Widersachern des Antisemitismus merkwürdigerweise nicht ab, dass sie keine Philosemiten sind, es fehlte nur noch, dass man Juden, die sich selbst zu verteidigen wissen, einen jüdischen Philosemitismus unterstellte, und so scheint es verständlich, wenn manche inzwischen dafür plädieren, den Ausdruck gar nicht mehr zu verwenden. Die Frage ist allerdings, ob dadurch nicht auch etwas von den Voraussetzungen des eigenen Engagements der Reflexion entzogen wird.
Klaus Thörner
Clark präsentiert Geschichtsforschung auf dem Niveau eines Groschenromans und wird auch deshalb in Deutschland so gerne gelesen. Münkler interessiert entgegen seiner Rezeption die Frage nach den Ursachen des Krieges nur am Rande. Im Mittelpunkt seines Buches stehen Beschreibungen entscheidender Schlachten und Erzählungen über die fortschreitende Technisierung und Vermassung des Militärs. Er bescheinigt der deutschen Regierung lediglich Fehlurteile und Fehleinschätzungen, das heißt Führungsfehler, die zunächst in den Krieg und dann in die Niederlage geführt haben. So betätigt sich Münkler als aktueller deutscher Regierungsberater.
Interview
Ein Gespräch mit Thomas von der Osten-Sacken über die Lage im Nahen Osten
Nun ist die Außenpolitik der Islamischen Republik führend, wenn es um Destruktivität geht, wie alle anderen Islamisten haben sie enorme Schwierigkeiten, irgendetwas konstruktiv aufzubauen. Und der Irak unter iranischer Schirmherrschaft entwickelte genau diese destruktive Dynamik: Unter Nouri al-Maliki besetzten seine Anhänger alle wichtigen Positionen, Sunniten wurden gnadenlos marginalisiert, mit den Kurden befand man sich im Dauerclinch, Institutionen wie die Armee verwandelten sich in De-facto-Milizen. Und dann brach der sogenannte Arabische Frühling aus, der die Hegemonie der Islamischen Republik in Syrien radikal in Frage stellte. Bis 2012 war Iran ganz sicher einer der Verlierer der Entwicklung im Nahen Osten, bis in Syrien der Islamische Staat als Hauptakteur auftrat und man sich regional und auf internationaler Bühne plötzlich als Vorkämpfer gegen den Terrorismus gerieren konnte. Geschickt haben dabei iranische Alliierte in der ganzen Region geholfen, diesen Konflikt zu konfessionalisieren und zu sakralisieren. Eine Politik, die – so zynisch und unmoralisch sie auch immer sein mag – in einigen Fällen amerikanischen Interessen gedient hat, etwa im Kampf gegen ›Kommunisten‹ in Süd- und Lateinamerika. Eine solche Realpolitik setzt aber voraus, dass man es miteinigermaßen rationalen Akteuren zu tun hat, wie Pinochet sicher einer war. Die Islamische Republik aber ist kein solch ›rationaler‹ Akteur, ebenso wenig wie die Nazis es waren. Und deshalb verschlimmert sich die Situation auch immer weiter, weil überall solche Partner gesucht werden, früher waren es Saddam Hussein oder die Saudis, heute liebäugelt man mit Teheran – nur um die verheerenden Fehler zu wiederholen. Wobei, und das unterscheidet Iran von den anderen, die iranische Regierung sich wesentlich cleverer zu präsentieren versteht, was eben daran liegt, dass sie immer so tun kann, als vertrete sie eigentlich die Interessen des Nationalstaates Iran, der, gäbe es dort einen regime change, ja auch durchaus ein konstruktiver Partner sein könnte!
Florian Markl
Friedensverhandlungen forcieren, Eskalation bewirken
Unter dem Strich hatte die Hamas jedoch wenig zu bieten, um all die Zerstörungen im Gazastreifen und all das Leid, das sie über die eigene Bevölkerung gebracht hat, zu rechtfertigen. Trotz wochenlangem Dauerbeschusses mit über viertausend Raketen blieben die Folgen des Krieges in Israel überschaubar; dem Raketenabwehrsystem ›Iron Dome‹ war zu verdanken, dass sich unter den insgesamt 73 Opfern auf israelischer Seite nur sieben Zivilisten befanden. Demgegenüber befanden sich unter den über 2100 Opfern im Gazastreifen rund tausend Kämpfer und einige führende Kader der Hamas, des Islamischen Dschihad und anderer Terrororganisationen. Am Ende musste die Hamas ihren Krieg gegen Israel unter Konditionen beenden, die sie schon Wochen vorher hätte haben können und die sich im Grunde von Status quo ante kaum unterschieden. Sie hat ohne jeden nennenswerten Erfolg all die Angriffstunnels nach Israel verloren, die sie in den letzten Jahren mit enormen Kosten und mit großen Mühen gegraben hatte; sie hat einen Großteil ihres Raketenarsenals verloren, das sie nicht ohne Weiteres einfach ersetzen kann; militärisch hat sie kaum greifbare Erfolge vorzuweisen – es gelang ihr beispielsweise nicht einmal, auch nur einen einzigen der israelischen Soldaten zu verschleppen, die im Gazastreifen operierten –; politisch hat sich an ihrer Isolation nichts geändert. Ganz im Gegenteil: Große Teile der arabischen Staatenwelt haben nicht einmal Lippenbekenntnisse zur Unterstützung ihres Krieges abgegeben.
Gerhard Scheit
Der Weltsouverän als BDS-Aktivist
Vor Auschwitz sprach man von der Lösung der Judenfrage, nach Auschwitz spricht man von der Lösung des Nahostkonflikts. Die Feinde Israels haben jetzt für diese Lösung zusätzlich eine neue Strategie entwickelt: Zu der ›Zwei-Staaten-Lösung‹ gesellt sich die des ›One Democratic State‹. Israel soll gezwungen werden, sich selbst zu zerstören, seinen besonderen Status aufzugeben, der Staat aller vom Antisemitismus Verfolgten zu sein, und das Law of Return von 1950, das erste Gesetz Israels, das Gesetz, das jedem Juden und jeder Jüdin das Recht gewährt, nach Israel zu kommen, zurückzunehmen – indem es nun das Rückkehrrecht der palästinensischen Araber miteinschließen soll.
Interview
Leben im Sozialismus des 21. Jahrhunderts: Ein Interview über Venezuela mit Sascha Kählß
Das Erschreckendste, was ich bislang auf den Straßen gesehen habe, war im Sommer ein Graffito beim Ausgang der Metro-Station ›Parque del Este‹ in Caracas. »Haz Patria, mata un judío«, das heißt: »Schaffe Heimat, töte einen Juden«. Im August 2014 regte ein chavistischer Parlamentsabgeordneter via Twitter an, Listen mit Namen, Adressen und Vermögen von Jüdinnen und Juden anzulegen. Androhung oder Ankündigung eines Pogroms?
Ljiljana Radonić
Seit Bekanntwerden des Denkmalprojekts Anfang des Jahres gab es in Ungarn Proteste gegen das Vorhaben, ein Mahnmal zu errichten, das den deutschen Reichsadler zeigt, der sich auf den das unschuldige Ungarn symbolisierenden Erzengel Gabriel stürzt. Schon das Haus des Terrors versucht den Eindruck zu erwecken, der Holocaust habe erst unter der Herrschaft der ungarischen Nazis, der Pfeilkreuzler, ab Oktober 1944 stattgefunden und nicht vor allem in den Monaten davor unter Horthy. … Im Juli wurde das Denkmal nachts heimlich ohne Einweihungszeremonie enthüllt. Später flogen Eier und man kann es heute nicht bewundern, ohne die Tausenden Gegenstände davor zur Kenntnis zu nehmen, die eine ganz andere Geschichte erzählen. Zu sehen ist etwa ein Foto mit der sarkastischen Beschriftung: »Die Familie Spiegel, vom ‚Erzengel Gabriel‘ nach Auschwitz deportiert.«
Florian Ruttner
Flaig meint, mit dem Hinweis auf die ›josephische Unterscheidung‹ zwischen Theokratie und säkularem
Staat sei schon das Problem gelöst: dieser sei, wenn er nur mittels direkter Demokratie regiert werde, unproblematisch und rational. Dass Hobbes den Staat mit Bedacht als einen »sterblichen Gott« begriff, dass also selbst der säkularste Staat der Welt Eigendynamiken entwickelt, die sich hinter den Rücken der Bürger durchsetzen, davon will Flaig nichts wissen. Die Opfer, die der Einzelne diesem sterblichen Gott erbringen muss, rationalisiert er. Damit fällt er aber, mag er noch an anderer Stelle Wahrheit und Vernunft hochhalten, dem Irrationalismus anheim, sie verlieren jeden Eigenwert und werden nur noch Narrative, die den Staat rechtfertigen.
Lars Fischer
Scholems Meinung nach verstand sich die Feststellung, dass es Deutsch nicht mehr gebe, offenbar von selbst und sie bedurfte keiner weiteren Erörterung. Gerade in dieser Knappheit liegt die Eindrücklichkeit dieser Formulierung, sie suggeriert aber auch, dass es hier um mehr als das unmittelbar Naheliegende geht. Es ist nicht ohne Ironie, dass Scholem diese Bemerkung auf deutsch in einem auf deutsch geschriebenen Brief machte, umso mehr, als Scholem auch weiterhin ausgiebig auf deutsch korrespondierte und zudem einer der vollkommensten deutschsprachigen Prosaisten des zwanzigsten Jahrhunderts war.
Tjark Kunstreich
Geschichtsrevisionismus in und mit der Ideologiekritik
Freud ergänzt also Kant darin, dass die Objekte ins Subjekt aufgenommen werden und dort, im Ich, ein Eigenleben führen. Die Internalisierung des Objekts ist die Internalisierung des Konflikts, der in der Melancholie stillgestellt wird. In einem Gespräch mit dem Spiegel versucht Sebald die Melancholie vor der Depression zu retten: »Melancholie ist etwas anderes als Depression. Während Depression es einem unmöglich macht, sich etwas auszudenken oder auch nur über etwas nachzudenken, erlaubt die Melancholie, auch nicht unbedingt ein angenehmer Zustand, reflexiv zu sein und in Form gewisser Basteleien, die man im Kopf anstellt, versuchsweise Sachen zu entwickeln, von denen man vorher nichts geahnt hat.« Das scheint mir eine sehr aktuelle Beschreibung des Zustands der Ideologiekritik zu sein.
Markus Bitterolf
Samuel Beckett und das Publikum
Mit dem Niedergang alles Individuellen in Massenwahn und integralem Etatismus wurde das »Selbstbewußtsein des Menschen mit seiner Funktion im herrschenden System identisch«, so Max Horkheimers Diagnose in seiner 1946 publizierten Eclipse of Reason. Nicht erst seit jenem deprimierenden Befund scheint die Menschheit ein Schicksal zu teilen: sie »vegetiert kriechend fort«. Oder, um es mit dem nicht minder bitteren, der Figur Hamm aus Becketts Endspiel in den Mund gelegten Satz auszudrücken: »Es geht voran.« Während dieser Fortschritt gesellschaftlichen Unglücks einen Tag an den anderen reiht, tut das verbliebene Bildungsbürgertum so, als stünde es im Ringen zwischen Kultur und Barbarei noch immer unentschieden. Auschwitz hat für sie nichts grundlegend verändert. Unangefochten durch die nationalsozialisierte Wirklichkeit geht es also von Spielzeit zu Spielzeit.