Das alltägliche Auschwitz

Glazers Film nivelliert das Besondere der Shoah, und macht sie zu einem Allerweltsereignis. Die Täter werden als ganz normale Menschen dargestellt, die sich in keiner Hinsicht von uns unterscheiden. The Zone of Interest reagiert damit auf die alten Rechtfertigungsstrategien, die die Nazis zu Monstern und Hitler zum großen Verführer, mit der Fähigkeit Massen zu verzaubern, verklärten. Dieser mythisch-verklärenden Sichtweise stellt Glazer einen bewusst nüchternen Blick entgegen. Er verzichtet darauf, das Phänomen des Nationalsozialismus mit Rekurs auf dessen eigene Mythologie zu erklären. Doch diese bewusste Enthaltsamkeit führt zu einer neuen Form, die Shoah zum Verschwinden zu bringen und eröffnet die Möglichkeit, andere Verbrechen aus Geschichte und Gegenwart für sie einzusetzen. Die Verklärung von Auschwitz zu einer Metapher für Massenverbrechen und seine Austauschbarkeit folgt jedoch einer inneren Logik, die einer beliebigen Verwendung entgegensteht. Auf dem Rangierbahnhof der Metaphern können zwar die unterschiedlichsten Orte, Personen und Taten gegeneinander ausgetauscht werden. Aber schon in der Zwanghaftigkeit, mit der der Film vom Antisemitismus absieht, kündigt sich die antizionistische Logik der Umbesetzung, als der zeitgemäßen Form der Täter-Opfer-Umkehr an. Und so ist es eben kein Wunder, dass sich – beim Publikum, bei der Kritik wie beim Regisseur selbst – quasi automatisch die Analogie von Auschwitz und Gaza ergab. So wie die Höß’ sich damals neben dem Vernichtungslager häuslich einrichteten, suggeriert Jonathan Glazer in seiner Rede, so richteten sich die Israels heute neben Gaza ein und wir alle schauten unbeeindruckt zu. So beweist der Film vor allem und anders als intendiert, dass die Verhältnisse, die Auschwitz ermöglichten, fortbestehen und die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht gelungen ist.

Seit Martin Broszats Vorwort zu Kommandant in Auschwitz überrascht, mit wie viel Spott, Hohn und Verachtung über Höß’ angebliche Spießigkeit hergezogen wird. Richtig in Rage gerät der Deutsche, wenn er im Nazi den Spießer entdeckt (als würde er es ihm übelnehmen, nicht der ›richtige Nazi‹ zu sein). In seiner Verachtung wird er wortreich. Anders ist es bei der Judenvernichtung: über die gebe es nicht viel zu sagen, weiß man seit Broszat, der dasselbe sagt wie Höß: sauber, sachlich, ruhig, lautlos und ohne Qualen sei es da zugegangen.

In dieser Kritik am Täter verschwindet die Judenvernichtung hinter dem Spießersein. Mit der Charakterisierung der Täter als Spießer ging die Konstitution des Selbstbildes der sich in den 1960er Jahren in Westdeutschland formierenden links-liberalen kritischen Bevölkerungskreise einher. Wenn Nazis Spießer waren, dann konnte man sich selbst und anderen zeigen, kein Nazi zu sein, indem man kein Spießer war.

Wenn der alternde Schriftsteller auf sein kindliches Selbst zurückblickt, so weiß er, was aus dem Menetekel an den Wänden von Marseille geworden ist: Der »alte Tötungswunsch« hat sich im Unmaß verwirklicht. Und so macht Cohen sich keine Illusionen, sein Schreiben könnte dem etwas anhaben.

Wozu dann dieses Buch? Es ist das Testament des alternden Schriftstellers: Totenklage, Anklage und Appell zugleich. Mit ihm tritt Cohen den Beweis an, dass die Ohnmacht der Sprache nicht das letzte Wort hat. Indem sein Schreiben unterschiedliche sprachliche Register zieht: erzählt, reflektiert, ironisiert, appelliert, anklagt, vor allem aber durch all das hindurch erinnert, erweist es seine »schwache messianische Kraft«. In oft biblisch anmutendem Ton besingt Cohen die Toten, ohne aber ein »kindisches Jenseits« anzurufen. Im Himmel wohnt kein guter Vater, dort kreist nur ein uns allen geduldig harrender Geier. Zu Brüdern machen uns keine hehren Werte, sondern allein der uns allen gleichermaßen drohende Tod. Doch bleibt diese Klage nicht bei solcher abstrakten Universalität stehen, die stets Gefahr läuft, die besonderen Opfer der Geschichte zu verdecken. Am Ende macht Cohen überdeutlich, dass seine Trauer den in Auschwitz Ermordeten gilt, darunter Angehörigen von ihm: den jüdischen Opfern der Vernichtung, die es »ohne den Straßenhändler und seine bösartigen Gleichgesinnten, seine unzähligen Gleichgesinnten in Deutschland und anderswo«, ohne all die »Judenhasser« nicht gegeben hätte.

Wer von Vermittlung spricht, sagt Herrschaft: Nicht, wie der Marxismus, gar: der Marxismus-Leninismus sagt, geht es darum, Theorie und Praxis zu vermitteln, sondern, wie Materialismus es fordert, die Bedingung der Möglichkeit ihres Auseinandertretens theoretisch zu kritisieren und praktisch zu destruieren. Es ist dieser intellektuelle Vermittler, der, wie jeder Verkäufer die Reklame, einer Didaktik, Pädagogik und besonderen Technik bedarf, um seine Ware, das heißt die Aufklärung, das heißt das Denken in der Warenform, unter die Leute zu bringen, heiße diese Manipulationskunst nun (Bundeszentrale für) »politische Bildung« oder eben, von links, Agitation und Propaganda. Indem der Intellektuelle jedoch die Funktionen der Vermittlung und Synthesis reklamiert, okkupiert er nichts anderes für sich als das idealisierend zur Prämisse von Aufklärung schlechthin stilisierte Recht des Aufklärers selbst, dem Zwang zur materiellen Reproduktion durch die freiheitsträchtige Pflicht der geistigen Produktion zu entkommen. Er reklamiert das Privileg, aber er reklamiert es nicht im Zuge eines eigennützigen Lobbyismus, sondern als bloß arbeitsteilig mit der theoretischen Arbeit an der Einsicht in die Notwendigkeit von der Gesellschaft betrauter Kommissar.

Der psychische Gewinn für den Antisemiten damals wie auch für den Antizionisten heute ist es, seinen inneren Konflikt zwischen der »Neigung zum Aufruhr« und dem »Respekt vor der Obrigkeit« im Judenhass zu lösen. Weil die Geisteswissenschaftler – wie übrigens auch die Künstler, die sich in einer ähnlichen Situation befinden – zurecht ahnen, wie leicht sie gesellschaftlich suspendiert werden können, da sie, um es im Vokabular der Coronapandemie auszudrücken: nicht »systemrelevant« sind, drängt es sie zur Rebellion. Allerdings nicht gegen die tatsächliche Autorität – im psychoanalytischen Sinne den Vater –, sondern in einer Verschiebung gegen einen anderen Feind, von dem sie, allein durch seine Unterzahl und mangelnden Verbündeten, keine Strafe befürchten müssen. Sie haben die Gewissheit, dass ihr Verhalten keine schwerwiegenden Nachteile für sie bedeutet. – Im Gegenteil: Je näher man sich am Nerv der Zeit bewegt, desto besser stehen die Chancen für die eigene Karriere.

Niemandem aber unter denen, die sich heute – gegen die aktuelle Regierung von Netanyahu gewandt (obwohl hier Folter gar kein Thema ist) – auf seinen letzten Artikel zu Israel eifernd politisierend und moralisierend berufen, kommt natürlich in den Sinn, dass er, wenn er zunächst den Primat des jüdischen Staats zugunsten abstrakter Moralphilosophie zurücknahm, etwas von seiner eigenen, immer schwieriger werdende Lage innerhalb der deutschsprachigen Öffentlichkeit preisgegeben haben könnte; mit anderen Worten: dass es sich um den Beginn eines vollständigen Rückzugs, wenn nicht eine der Ankündigungen seines baldigen Suizids handelte. So wie alle, die sich nach dem 7. Oktober auf diesen Artikel berufen wollen, um den praktischen Imperativ, den Primat des jüdischen Staats, auszulöschen, darüber geflissentlich hinweggehen, dass Améry am Ende des Textes die Zurücknahme selbst wieder zurücknahm, oder anders ausgedrückt: dass der radikale Universalismus, mit dem er anhebt, zuletzt doch an diesem Imperativ scheitern muss.

Wirkte Erdoğan in den ersten Tagen nach dem Pogrom vom 7. Oktober angesichts der Vielzahl an rivalisierenden antizionistischen Einpeitschern fast wie ein Getriebener, gelang es ihm bald darauf wieder, sich als Oberhaupt der faschistischen Agitatoren zu inszenieren. Bei der Istanbuler Massenchoreografie am 28. Oktober, zu der die türkische Staatsfront aufgerufen hatte, drohte er Israel unverhohlen damit, dass »wir eines nachts unerwartet kommen« könnten. Die Masse an Brüllvieh sekundierte: »Hier ist die Armee, hier ist der Kommandeur«. Das antizionistische Geschrei verrät vor allem die eigenen revanchistischen Gelüste der nationalen Entgrenzung. So sprach Erdoğan am 28. Oktober unverhohlen davon, dass Gaza, Skopje, Thessaloniki, Mossul und Aleppo ihnen ebenso gehöre »wie unser Blut und unsere Seele«. Und natürlich raunte Erdoğan an jenem Tag auch von den Dunkelmännern hinter den »erbärmlichen Terroristen« in Nordsyrien. Sein antiimperialistischer Opfermythos ist projizierter Geltungsdrang, in Unschuld sich verhüllende imperiale Aggression.

Um sich mit den grauenvollen Terrorangriffen vom 7. Oktober auseinandersetzen zu können, braucht es einen Blick auf den Kontext, in dem sie stattfanden. Ausgegangen sind die Taten von einem Quasistaat in Gaza, in dem die Hamas tonangebend ist: Zwar fehlt ihr die Souveränität nach Außen – ein Staat in Gaza ist international nicht anerkannt und die Hamas bemüht sich auch nicht um diese Anerkennung. Sie verfügt über keine eigene Währung und kann damit keine eigene Finanzpolitik betreiben. Die Hamas ringt jedoch in festen Grenzen um die Herrschaft über den Küstenstreifen, sie stellt den Einwohnern des Küstenstreifens öffentliche Güter wie ein Gesundheits- und Bildungssystem zur Verfügung. Diese Quasistaatlichkeit wird in der weltweiten Debatte über ein Ende der zum Nahost-Konflikt verharmlosten antisemitischen Gewalt gerne ignoriert. Der Quasistaat im Gazastreifen basiert auf einer Rentier- und Racket-Ökonomie. Anders als andere nationale Rentierökonomien beruht diese nicht auf Ressourcen wie Öl oder Gas, die man mit verhältnismäßig geringem Aufwand fördern, exportieren und die so erzielten Gewinne unter dem geneigten Klientel verteilen könnte. Was die Hamas unter den Augen Israels in Gaza in den letzten Jahren unter die nationale Umma brachte, war die Entwicklungshilfe westlicher und die direkte Unterstützung arabischer und islamischer Staaten. Damit diese »sekundären Renten« fließen können, muss der latente Kriegszustand gegenüber Israel aufrechterhalten werden, das Elend in den palästinensischen Gebieten reproduziert und die Gewalt gegen den jüdischen Staat Israel ständig fortgeführt werden.

Der Angriff der Hamas auf die israelische Bevölkerung am 7. Oktober war keine Kriegshandlung, wie wir sie uns normalerweise vorstellen, sondern etwas sehr viel Schlimmeres. Wir haben keinen adäquaten Begriff für das, was an diesem Tag geschah, also werden Worte wie »Terrorismus«, »Barbarei«, »Gräueltat«, »Massaker« und so weiter verwendet. All diese Begriffe sind richtig, und doch werden sie dem Vernichtungswahn, der auf dem Nova-Musikfestival und in den Kibbuzim und Kleinstädten im Süden Israels losbrach, nicht gerecht. Die Hamas ist am 7. Oktober angetreten, die Existenz des jüdischen Staates so energisch wie möglich rückgängig zu machen. Ihre Bluttaten an diesem Tag zielten darauf ab, Juden zu demütigen und zu töten und andere dazu zu bringen, dem jüdischen Staat kollektiv ein Ende zu bereiten – ein Vorhaben, das an einige denkwürdige Worte des ungarisch-jüdischen Schriftstellers und Holocaustüberlebenden Imre Kertész erinnert: »Und der Antisemit unserer Zeit will nicht mehr von den Juden abrücken, er will Auschwitz.«

Alex Gruber: Während du mir in deiner Antwort darin zustimmst, dass Mbembe den Nationalsozialismus und den Holocaust in den Zionismus integriere, bin ich in meinen Überlegungen gewissermaßen einen Schritt weitergegangen und habe Mbembe zum Vorwurf gemacht, die NS-Vernichtungspolitik »durch den Zionismus quasi ins Judentum« selbst zu integrieren. Das ist es auch, was ich am Ende meines sans phrase-Aufsatzes versucht habe, noch einmal begrifflich zu fassen, als ich auf den Unterschied zwischen Judith Butler und Achille Mbembe zu sprechen kam. Während Butler das Diaspora-Judentum quasi zum ›wahren Judentum‹ überhöht und hypostasiert und dem aus Angst vor Verfolgung und Vernichtung entstandenen Zionismus mit seinem unterstellten »Rückgriff auf schrankenlose Aggression im Namen der ›Selbstverteidigung‹« vorwirft, dieses ›wahre Judentum‹ verraten zu haben, verlegt Mbembe die »Viktimisierungsneurose« und die daraus resultierenden Rachegelüste geradezu ins Judentum selbst.

Im Frühjahr 2020 entbrannte in Deutschland eine Debatte um Achille Mbembe. Dabei ging es um das Verhältnis der Shoah zu anderen modernen Gewaltverbrechen, den Status der Shoah in der deutschen Erinnerungskultur sowie die definitorische Reichweite des Antisemitismus-Begriffs. Seither gehört die Mbembe-Debatte zum Referenzpunkt aller weiteren Diskussionen über den Antisemitismus des ›globalen Südens‹, den Elementen antisemitischer Ideologie in postkolonialen Theorien, wie es das niederträchtige Schauspiel, das vor, während und nach der documenta 15 ablief, zeigte. Es ist zur schlechten Mode verkommen, vom Inhalt inkriminierter Äußerungen zu abstrahieren, um vermeintliche ›Sprechpositionen‹ zum bestimmenden Kriterium für die Beurteilung antisemitischer Äußerungen zu machen. Hier soll es daher darum gehen, Mbembes Verhältnis zum Judenstaat sowie zum Nationalsozialismus zu thematisieren. Keineswegs ist es so, dass sich Mbembe, wie die Postcolonials stets weismachen wollen, ›nur‹ über den israelischen Kolonialismus äußere und die Judenvernichtung in einer allgemeinen Gewalt- und Kolonialgeschichte ›bloß‹ auflöse; er greift das Judentum selbst an.

Das Wort Provinz stammt ursprünglich aus dem Lateinischen: pro ›für‹ und vincere ›siegen‹. Im Römischen Reich bezeichnete es einen »Geschäfts- und Herrschaftsbereich«, ein »unter römischer Oberhoheit und Verwaltung stehendes Gebiet außerhalb Italiens«. Laut dem Wörterbuch der deutschen Sprache bedeutet Provinz: »das von den (modischen) Neuerungen, dem kulturellen Geschehen der Hauptstadt, einer Großstadt wenig berührte Hinterland«. Der etymologische Blick gibt Auskunft darüber, wie sehr es bei der einstigen Bedeutung – und das völlig unbewusst – bleibt, wenn heutige Postcolonials der deutschen Erinnerungskultur zum Vorwurf machen, provinziell zu sein. Dass darin herrschaftliches Denken enthalten ist, liegt auf der Hand. Bekanntlich war Rom im Kolonialgebilde des Römischen Reiches das Zentrum. Die Eigenständigkeit der jeweiligen Provinzen, die es zu verwalten hatte, bedeutete stets eine potenzielle Bedrohung für die Einheit. Es scheint, dass die heutigen Postcolonials sich ebenso wie einst Rom von den Provinziellen bedroht sehen. Es geht ihnen um die Herstellung einer Gemeinschaft durch gemeinsames, inklusives ›Erinnern‹. Der Ruf nach Inklusion blendet völlig aus, in was dabei inkludiert werden soll. Und was den postkolonialen Vertretern zufolge nicht mehr gestört werden soll durch provinzielle Abweichler. Im sogenannten Erinnerungsdiskurs gibt es keinerlei Bewusstsein über den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang. Wahrheit wird auf Faktizität reduziert. So, wie die Naturwissenschaftler keinen Begriff von Natur zu haben brauchen, da sie nur erkennen, was den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgt, bewegen sich die Erinnerungsforscher lediglich im ›Erinnerungsdiskurs‹. Sie haben keinen Begriff von gesellschaftlicher Totalität, der aber notwendig ist, um den Antisemitismus überhaupt begreifen zu können.

Gegen diese Einsichten fährt Kolár die auch im Oktober 2023 wieder beliebt gewordene Argumentationsstrategie, quasi mit dem Hinweis, dass all die Vernichtungsdrohungen (wenn Kolár sie nicht überhaupt leugnet beziehungsweise herunterspielt) ja nicht im Vakuum entstanden seien, diese in einen größeren Kontext gestellt werden müssen, hier den eines auf einen billigen Ökonomismus heruntergebrochenen Imperialismus. Denn es gehe »in Wirklichkeit nicht um einen Konflikt des kleinen, schwachen Israels mit zwei Millionen Einwohnern mit der starken arabischen Welt von 80 Millionen, sondern um den Konflikt der industriell nicht entwickelten arabischen Länder mit den am meisten industrialisierten und reichsten imperialistischen Mächten.« Israel würde da zwar einerseits nur eine Nebenrolle spielen, aber eben unter mächtigem Schutz stehen. Folglich, so dreht Kolár das Argument um und vertauscht wieder Täter und Opfer, erinnere – mit Blick auf die Vergangenheit – »Israel deshalb nicht an die Tschechoslowakei im Jahre 1938, sondern weit eher an die Sudetendeutschen dieser Zeit. Die wurden auch der Welt als ungeschützte verfolgte Minderheit vorgestellt, in Wirklichkeit aber hatten sie das starke nazistische Deutschland im Rücken.« Offenbar war Kolár durchaus bewusst, wie skandalös sein Vergleich war, denn schon im nächsten Satz betonte er, diesen gar nicht gezogen zu haben, er wolle »damit klarerweise kein Gleichheitszeichen zwischen die nazistischen Sudetendeutschen und die Israelis setzten«. Es folgt aber keine Erklärung, warum er das, was er doch gerade getan hat, doch nicht getan hat, sondern ein Hinweis, auf den sich bis heute alle, die gerne kontextualisieren und die vom horror vacui geplagt sind, einigen können: »Die Israelis gerieten selbst durch die Politik ihrer Regierung in diese nicht beneidenswerte Lage der Verbündeten des Imperialismus gegen den weltweiten Fortschritt.« Die Juden sind selbst schuld, und damit ist wohl das zentrale durchgängige Motiv jeglichen Antisemitismus auf den Punkt gebracht.

Was genau Malleys erzwungenen Abgang als Iran-Sonderbeauftragter im April 2023 bewirkte, ist nach wie vor unklar. Bekannt wurde lediglich, dass er auf unbezahlten Urlaub geschickt wurde, nachdem ihm offenbar wegen eines problematischen Umgangs mit geheimen Unterlagen die Sicherheitsfreigabe entzogen worden war. Um welche Materialien es sich dabei gehandelt hat und worin sein missbräuchlicher Umgang bestanden haben soll, darüber hat die US-Regierung bis heute keine Auskunft erteilt.

Die Informationen, die über die Malley-Affäre bisher an die Öffentlichkeit gekommen sind, stammen pikanterweise zumeist nicht von amerikanischen Behörden, sondern ausgerechnet mit der Tehran Times von einer Tageszeitung, die dem iranischen Regime nahesteht. Mitte Juli etwa berichtete das Blatt, Malleys Suspendierung sei die Folge von »geheimen Gesprächen mit einem hochrangigen iranischen Diplomaten bei den Vereinten Nationen und seinen verdächtigen Interaktionen mit inoffiziellen Beratern iranischer Herkunft« gewesen.

Fünfzig Jahre später befindet sich Israel aus vielerlei Gründen in einer weitaus stärkeren Position als zu Jom Kippur 1973. Dennoch steht das Land weiterhin unter Druck – sei es der der Freunde oder der der Feinde, wie dem potenziell mit Atomwaffen ausgerüsteten Iran. Meir hatte viele Fehler gemacht, und es ist nicht wahrscheinlich, dass die Generation, die diese Krise miterlebte, jemals dazu gebracht werden kann, ihr zu verzeihen. Aber ihre Nachfolger täten gut daran, sich ihren Zynismus gegenüber den internationalen Beziehungen und ihre Einsicht in das Erfordernis politischer Selbständigkeit in dieser Welt zum Vorbild zu nehmen. Auch wenn manche ihre Haltung als Relikt einer vergangenen Ära der zaristischen Unterdrückung und des Holocausts abtun, ist Golda Meirs unnachgiebiges Beharren auf der Verteidigung der Interessen ihres Landes und, wo immer möglich, auf dem Vorzug greifbarer strategischer Vorteile gegenüber der Sympathie einer internationalen Gemeinschaft, die Israel heute so feindselig gegenübersteht wie vor einem halben Jahrhundert, genauso richtig wie damals.

Der Jom-Kippur-Krieg, Ramadan-Krieg oder Oktoberkrieg stellt bis heute eine der größten Bedrohungen des jüdischen Staates seit dessen Gründung dar. Bei dem anfangs verheerend erfolgreichen Angriff auf den Judenstaat handelt es sich um einen in Europa und der Linken weitestgehend verdrängten Krieg, widerlegt er doch sowohl das Zerrbild des von allen Seiten unterstützten, und darum militärisch stets überlegenen und siegreichen Israel als auch das Bild der sich permanent in der Opferrolle befindlichen arabischen Welt oder des sogenannten globalen Südens. Zudem wird deutlich, dass es sich keineswegs nur um einen regionalen Konflikt zwischen Israel und den ›Palästinensern‹ handelt, sondern um einen jahrzehntewährenden Krieg der ganzen arabischen Welt und des realsozialistischen Lagers gegen den kleinen Judenstaat. Heute, fünfzig Jahre später, kämpft Israel wieder um seine Existenz; diesmal gegen islamistische, vom iranischen Regime unterstützte nicht-staatliche Milizen und Terrorrackets. Während im Jom-Kippur-Krieg keine jüdischen Ortschaften direkt angegriffen werden konnten, gelang es den islamistischen Mörderbanden dieses Mal, tief ins israelische Staatsgebiet einzudringen: die Regierung hatte die Gefahr nicht kommen sehen, was die Erinnerungen an die Vorgeschichte des Jom-Kippur-Kriegs weckt.

Wenn in Politik und Öffentlichkeit der postnazistischen Welt direkt oder indirekt die Annahme als Gewissheit ausgegeben wird, dass Demokratie und Völkerrecht wie geschaffen seien, eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern, handelt es sich sozusagen um einen hypothetischen Imperativ nach Auschwitz – also einen Imperativ nach dem Muster: Wenn du Y willst, tue H!, der etwa auch lauten könnte: Si vis pacem, para bellum (Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor). Beim kategorischen und praktischen Imperativ hingegen wird übers Hypothetische gerade hinausgegangen, indem Mittel und Zweck in einem wie auch immer kausal vorgestellten Zusammenhang nicht voneinander getrennt zu denken sind: negativ beim kategorischen, wie ihn Adorno formulierte, dadurch, dass vom Mittel überhaupt nicht gesprochen wird; positiv beim praktischen, wie er erst noch zu formulieren wäre, darin, dass es in Gestalt des jüdischen Staats mit dem Zweck wirklich zusammenfällt: Geschaffen, jedem weiteren Versuch in irgendeinem Staat auf der Welt der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung vorzubeugen und entgegenzuwirken, ist er selbst bereits als dieser Zweck anzuerkennen. Denn wenn beim praktischen Imperativ von Kant die »Idee der Menschheit« der »Zweck an sich selbst« ist – praktisch darin, dass er den Formalismus in der Maxime des kategorischen transzendiert – hat »Hitler … den Menschen im Stande der Unfreiheit«, der nun einmal in der Existenz von Staaten (als notwendiger Bedingung des Kapitalverhältnisses) begründet liegt, auch einen neuen praktischen Imperativ aufgezwungen, der auf die Mittel-Zweck-Relation zielt, wovon der kategorische schweigt: nämlich den Staat derer als Zweck an sich selbst zu bestimmen, welche aus jener Idee der Menschheit (durch die »pathischen Projektionen« einer allgegenwärtigen »verfolgenden Unschuld«, die partout in ihnen die »abstrakte Dimension« des Kapitals verkörpert sehen will) nicht nur ausgeschlossen, sondern mit diesem Ausschluss praktisch und vollständig vernichtet werden sollten. Der antizionistische Hass fordert im Sinne negativer Urteilskraft eben darin den Superlativ heraus: Nicht nur handelt es sich um die zeitgemäß geschärfteste Form des Antisemitismus, er gibt zugleich den politischen Geltungsgrund dieser (um es einmal nicht in den Begriffen der Psychoanalyse oder der politischen Ökonomie auszudrücken) größten und wirkungsmächtigsten Lüge der sogenannten Menschheit am reinsten zu erkennen: die Juden dürfen keinen eigenen Staat haben, weil sie zum Zweck ihrer Vernichtung jederzeit frei verfügbar sein sollen, wo, wie und wann immer Kapitalverhältnis und Weltmarkt auseinanderzubrechen drohen.

»Zivilisation in ihrer staatlichen Gestalt macht zu ihrem Subjekt nicht den freien sich mit anderen freien Subjekten zum gegenseitigen Nutzen austauschenden Privatmann, sondern den Untertan, der angetreten ist, die Krisen des Kapitals mit den Mitteln des Kapitals zu meistern.« Dagegen setzt man als Sinn und Zweck die »Einführung einer Produktion, die keine Waren, sondern Gebrauchsgüter schafft«, als ob Waren keine Gebrauchsgüter wären und als ob es nicht darauf ankäme, eben das Verhältnis zu bestimmen, in welchem der Ausschluss aller durch alle vom Genuss der »nützlichen Dinge« (Marx) beschlossen ist (wie wiederum Joachim Bruhn nicht müde wurde zu betonen). Solange dieses Verhältnis nicht seiner Form nach begriffen wird, sondern als eine ihrem ursprünglichen Sinn beraubte Produktion, bleibt auch die erhoffte Einführung einer Produktion, die keine Waren schafft, nolens volens an den Staat adressiert. Sie aber seiner Form nach zu begreifen, ist zugleich die Voraussetzung, Auschwitz nicht aus ihm abzuleiten, als handle es sich um Mehrwert; die Zäsur zu erkennen, mit der diese Taten noch die Bedingungen ihrer Möglichkeit hinter sich ließen, die sie mit dem Staat des Kapitals gemeinsam haben. Andernfalls kommt man in schlecht marxistischer Tradition zu dem Ergebnis, dass man es bei der nationalsozialistischen Politik nun eben doch nicht mit einem Bruch zu tun habe: »Kein Bruch mit der Zivilisation war die Vernichtung der europäischen Juden, nimmt man die für ihre Konstitution notwendige Produktionsweise nicht aus«. Über die Produktionsweise selbst gibt es dagegen Vermutungen, die in der Sprache der Verschwörungstheoretiker angedeutet werden, statt mit dem Marxschen Begriff des automatischen Subjekts; statt also real Abstraktes und politisch Konkretes zu unterscheiden: »Im Staat des Kapitals west zwar kein unpersönliches Subjekt, das dem Regierungspersonal einfach ihr [sic!] Handeln vorschreibt, und doch scheinen hinter ihrem [sic!] Rücken Kräfte am Werk zu sein, die nicht ›entlarvt‹ werden können. Es doch zu unternehmen lässt den Einzelnen bei der Suche nach den Urhebern seiner Angst auf pathische Projektion verfallen und auf die Suche nach dem Schädling im Haus ausgehen.« Der Ratschlag lautet offenbar, letzteres besser nicht zu unternehmen. Indem man aber selber von Kräften raunt, die hinter dem Rücken des Regierungspersonals am Werk seien, ohne sie zu bestimmen, außer dadurch, dass sie die Formen, in denen sie wirken, ihres ursprünglichen Sinns berauben müssen, hält man sich die Möglichkeit offen, bei Gelegenheit den politischen Feind und Sinnräuber wieder in ›Globalisten‹, ›Eliten‹ oder ›Impfregime‹ auszumachen, um sich der durch den Bahamas-Artikel möglicherweise vergraulten Gesinnungsgenossenschaft erneut zu versichern.

Eine andere Art, wie sich der neue Erinnerungstrend manifestiert, zeigt sich in der fortschreitenden Beteiligung der Museen an der ›Globalisierung der Erinnerung‹ und an internationalen Erinnerungstrends. Am deutlichsten wird dies in Chinas Auseinandersetzung mit dem Holocaust, auf den die Museen nun sowohl in den Musealisierungstechniken als auch in der musealen ›Erzählung‹ Bezug nehmen. Seit kurzem taucht die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge aus Shanghai in den Museen zum ›Widerstandskrieg‹ auf, zusammen mit einer Vielzahl chinesischer ›Schindler‹ beziehungsweise einzelner Chinesinnen und Chinesen, die den Verfolgten des Naziregimes zur Flucht verhalfen. (Es ist hier auch darauf hinzuweisen, dass als ›Schindler‹ im chinesischen Museum auch eine Frau bezeichnet wird, die hauptsächlich politischen Gefangenen und nicht Juden half.) Dies geschieht im Museum in einer spezifischen Weise, die China in die Rolle des ›Retters‹ rückt, die Erfahrungen der Flüchtlinge in Shanghai im Gegensatz zu vielen Erfahrungsberichten glorifiziert und zugleich jeden weiteren Kontext des Holocaust in Europa, vor dem sie geflohen sind, ausblendet.

»Seit Hitler sind die Juden … die Manövriermasse der Macht«, bemerkte Geisel. »Der Staat kann sie, je nach Konjunktur, verderben oder beschirmen, vernichten oder beschützen. Was im Feudalismus noch reine Laune des Herrschers war, das hat die moderne Exekutive planmäßig in Regie genommen. Ihr geht es, wenn sie Juden schützt oder opfert, anders als bei Hofe nicht um die Kasse, sondern um den seelischen Haushalt der Nation.« Auch im Erinnerungsgeschäft werden die Juden als Manövriermasse benutzt. Sind sie einem nützlich und bringen einen eigenen Gewinn, beruft man sich gern auf sie, wie im Fall des Berliner Holocaustdenkmals. Werden sie jedoch als störend empfunden, heißt es, die Erinnerung an die Judenvernichtung sei nicht mehr »zeitgemäß«. So geschehen in Österreich im Jahr 2021, als mehrere Zeithistorikerinnen und -historiker, die aufgrund »ihrer Positionen in renommierten heimischen Institutionen« lieber anonym bleiben wollten, darauf bestanden, dass ein Holocaustmahnmal, das nur jenen gedenkt, die »aufgrund der Nürnberger Gesetze verfolgt wurden«, ein »nicht mehr zeitgemäßer Zugang« sei. Heute gehe es um inklusives Gedenken, um zeitgemäße – das heißt: intersektionale – Erinnerungsarbeit.

Viele Krähen an den Ufern der Spree, die derselbe Fluss geblieben ist. Bäume zuhauf und andere Betonwohnhäuser rings um den Tiergarten, als Ganzes eher eintönige Rekonstruktion; nur die von den Bomben verschonten Häuser sind von Belang. Eine trostlose Ampelkreuzung, davor erinnert eine Gedenktafel an das Verschwinden der Synagoge. Spaziergänger gehen gleichgültig vorüber, mit ihren Hunden, die an die Stele pissen. Eine andere verwitterte Tafel zeigt an, dass die Dichterin Nelly Sachs bis zu ihrer Flucht nach Schweden 1940 auf der Flensburger Straße lebte – für mich, meine undeutlichen Erinnerungen und meine Rätsel das Zentrum der Welt.

Auch Nelly Sachs kämpfte gegen den Wahnsinn. Ihr Schicksal ist für mich verknüpft mit der jüdischen Berliner Schauspielerin, die mein Vater 1933 für meine Mutter verlassen hatte. Mein Vater schleppte bis zu seinem Tod 1991 ein schweres Schuldgefühl mit sich herum, sich nicht darum gekümmert zu haben, was aus dieser jungen Frau geworden war, als er 1937 wieder nach Berlin zurückkehrte.

Jetzt trage ich diese Schauspielerin in mir, ohne jede Genauigkeit, ohne Identität, ohne Ort oder irgendein Bild. Ich lasse sie in der Flensburger Straße wohnen, inmitten der Gespenster meiner menschlichen Komödie.

Ich bin nicht körperlich in Berlin geboren, aber ich bin dort geboren, mit den Mysterien dieser verschwommenen Erinnerungen. Welche geistige Abmachung hatten nun meine Eltern miteinander getroffen im Hinblick auf diesen verlängerten Aufenthalt in der unerträglichen Hauptstadt der Nazis? Eine Abmachung, die für meine Mutter mit dem Risiko einherging, verrückt zu werden; was denn auch geschah.

Bereits am Tag nach dem Teilungsbeschluss der Generalversammlung der UNO am 29.11.1947 haben arabische Banden jüdische Zivilisten ermordet. Die darauffolgenden bürgerkriegsähnlichen Zustände führten zur Flucht von zehntausenden Arabern, viele von ihnen waren Einwanderer oder deren Nachkommen. Einige der lautstärksten arabischen Palästinenser waren und sind Nachkommen von Einwanderern, was man an ihren Familiennamen wie al Masri oder Hourani usw. erkennen kann. Laut dem Bericht des United Nations Special Committee on Palestine (UNSCOP), der am 3.9.1947 der Generalversammlung der UNO vorgelegt wurde, lebten 1922 486.177 Muslime in Erez Israel, 1946 waren es bereits 1.076.783, d.h. 121 Prozent Zuwachs. In keinem anderen Land der Region gab es damals eine derartige arabische Einwanderungsbewegung. Das wird von den »Israelkritikern« konsequent verschwiegen.

Aber ich beeile mich hinzuzufügen, dass die Juden in ihrem Zustand der Unterdrückung unter muslimischer Herrschaft und noch mehr in der kolonialen Situation den einzigen ihnen offenen Ausweg nahmen. Die arabische Kultur und Sprache, die orientalischen Sitten und Gebräuche, die arabisch-islamische Zivilisation – das war Vergangenheit, eine dunkle Vergangenheit voller Angst, voll wirtschaftlicher und kultureller Armut. Um in das Licht der aufgeklärten Kultur zu treten, in den Genuss von Macht und Annehmlichkeiten der Zivilisation zu kommen, Teil der modernen Geschichte zu werden und die zeitlose Stagnation hinter sich zu lassen, in der die ehemaligen türkischen Besitzungen Nordafrikas versunken waren, mussten die Juden durch Europa gehen, Frankreich adoptieren und von ihm adoptiert werden. An diesem Punkt wurde deutlich, dass die muslimischen Eliten ähnlich empfanden. Auch sie begannen sich zu europäisieren, Französisch zu sprechen, Jacketts und lange Hosen zu tragen und ihre Kinder in die Schulen der Kolonisatoren zu schicken. Doch diese Annäherung blieb begrenzt und wurde durch das Ressentiment gegen den Eroberer erschwert. Die Juden aber stürzten sich kopfüber voran; sie waren nicht von den Franzosen besiegt worden und sie hatten nichts zu verlieren.

So entstand jedenfalls eine jüdische Bourgeoisie, deren Kultur, Geschmack und Bestrebungen fast ausschließlich französisch war. Ihre Kinder studierten in Europa und kehrten als Ärzte, Apotheker und Anwälte zurück. Sie bildeten eine neue Klasse von Fachleuten – dynamisch, aktiv und wohlhabend –, in Ländern, die solche Fachkräfte dringend brauchten. Das Ghetto blieb verarmt, schöpfte aber verständlicherweise Hoffnung aus dem Erfolg seiner Bourgeoisie. Die gelegentliche Karriere eines Sohnes aus dem Ghetto, der es zum Arzt, Anwalt oder reichen Kaufmann gebracht hatte; der in einer europäischen Stadt lebte; er bewies, dass der Weg zum Erfolg für alle offen war.

Während sie den Dhimmi-Status beschönigen, übersehen Studien wie die von Schreier die Tatsache, dass das islamische Recht eine ›koloniale‹ Gesellschaftsordnung vorgegeben hat. Der französische Historiker Georges Bensoussan stellt fest, dass die Hierarchie unter muslimischer Herrschaft auf Unterwerfung beruhte. Der Muslim unterwirft sich Allah, die muslimische Frau unterwirft sich ihrem Mann, der nicht-muslimische Dhimmi unterwirft sich dem Muslim. Ganz unten steht der Sklave. Der Sklavenhandel war ein riesiges arabisches Unternehmen, und das jüdische Recht musste Wege finden, um auf die erpresserischen Forderungen zu reagieren. Noch 1890 wurden Jüdinnen und Juden in Marokko versklavt und verkauft. Im Jahr 1896 wurden in Ghardaïa, einer Stadt in der Sahara, jüdische Frauen und Mädchen auf einem öffentlichen Platz als Ware angeboten. Die Bedingungen für die jüdische Bevölkerung waren in Nordafrika, Jemen und Persien im Allgemeinen schlechter als im Herzen des Osmanischen Reiches. Ein Reisender bemerkte: »Als Dhimmis gediehen die tunesischen Juden. Aber natürlich ist Gedeihen relativ. Wenn man auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter steht, ist man froh, wenn man nicht im Schlamm darunter kriechen muss.«

So eindeutig die Parteinahme für die Ukraine gegenüber Putins Regime sein muss, soll das »Minimum an Freiheit« den ganzen Sinn behalten, für den Franz Neumann die Formulierung prägte, auch dieser Krieg kann unabhängig von einem praktischen Imperativ nach Auschwitz nicht beurteilt werden, einem Imperativ, der es – anders als der kategorische, aber von ihm nicht zu trennen – mit dem Verhältnis von Mittel und Zweck beziehungsweise Selbstzweck zu tun hat: Durchsetzung und Verteidigung der Vermittlungsformen, wie sie allemal dem Kapitalverhältnis Rechnung tragen – bürgerliche Grundrechte, rule of law, Gewaltenteilung … – niemals nur als Zweck zu begreifen, der das Schlimmere barbarischen, vorkapitalistischen Zwangs verhindere, sondern jederzeit zugleich als Mittel, die Antisemiten, die Feinde Israels zu bekämpfen. Dabei kommt dem jüdischen Souverän als dem einzelnen, empirisch Gegebenen gegenüber den allgemeinen politischen Formen wie Demokratie und Völkerrecht, die als die heutigen Universalien des Politischen verstanden doch höchste Geltung beanspruchen wollen, kategorische Bedeutung zu. Denn diese Formen, in denen das Kapital sich in den verschiedensten Staaten reproduziert und für das staatliche Institutionen idealerweise nur die Voraussetzungen für seine Zirkulation einschließlich des Zugangs zum Weltmarkt schaffen, das heißt die Zirkulation eben nicht durch die eigenen hierarchisch-bürokratischen beziehungsweise racketförmigen Kommandostrukturen ersetzen wie in Staaten ohne Wahlen, Gewaltenteilung und unabhängiger Zentralbank – diese Formen können ihrerseits weder logisch, also an sich, noch historisch, also nach Auschwitz, das Besondere sein, subsumieren oder ersetzen, von dem im Sinne des kategorischen Imperativs nach Auschwitz auszugehen ist.

Wird die kurdische Avantgarde innerhalb der revolutionären Erhebung von den verschiedenen Fraktionen der iranischen Opposition durchaus anerkannt und von manchen, wie der im US-amerikanischen Exil lebenden Feministin Masih Alinejad, deutlich hervorgehoben, mehrten sich in jüngster Vergangenheit wieder Konflikte um die Frage der territorialen Integrität des Irans. In Mahabad und Saqqez, in Sardasht und Paveh, in Divandarreh und Sanandaj standen sich zwischen 1979 und 1983 militante Kurden und die Wächterarmee dort gegenüber, wo auch heute die Grundzüge der Revolution gegen das khomeinistische Regime vorgeführt werden. Als da wären: 1. die Beteiligung der ruralen Peripherie, um die Beweglichkeit der Repressionsmaschinerie zwischen den urbanen Zentren zu erlahmen, 2. die militante Organisierung der Jugend und 3. der Generalstreik. War eine überwältigende Mehrheit innerhalb der Opposition Ende der 1970er bereit, unter dem drohenden Gebrüll »Allahu Akbar« zu marschieren, schleudern die heutigen Revolutionäre im Iran den Mullahs Slogans wie »Wir hassen deine Religion, verflucht sei deine Moral« entgegen. Sie wollen kein Regime aggressiv antiisraelischer und projektiver Krisenexorzierung. Sie wollen kein militaristisch-okkultes Regime aus Klerus und einer militant-mafiotischen Armee der Wächter der Islamischen Revolution, das sich die nationale Ökonomie zur Beute gemacht hat. Und sie wollen kein Regime, in dem die Unterwerfung der Frauen eine heilige Säule des Gemeinwesens ist. Es wäre zu hoffen, dass eine Opposition, die darin ihren Minimalkonsens gefunden hat, nicht an nationaler Borniertheit zerbricht.

Lieber Klaus,

da die Sache Dich interessiert, sollte der Ältere dem Jüngeren vielleicht kurz erklären, warum Habermas nicht einfach nur nachlässig formuliert, wenn er Unsinn schreibt. Habermas hat stets besonderes Interesse für zwei Dinge gezeigt: für die Identität, früher für die personale (wie kriegt der kleine Hans ein stabiles Ich?), und für die ideale Kommunikationsgemeinschaft. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft aber muß nur in die profane Wirklichkeit überführt werden, um sich als reale Volksgemeinschaft zu entpuppen, und was dem kleinen Hans zur Identität verhilft, ist am Ende das nationale Selbstbewußtsein. Erst die neuere Entwicklung hat gezeigt, welches die angemessenen politischen Inhalte von Denkmustern und Desideraten sind, die als solche schon, also unabhängig vom politischen Inhalt, schon immer falsch waren. Weil ich nun Habermas aus meiner Gebrauchswert- und Soziologen-Zeit als notorischen Verbreiter von Falschmeldungen kenne, schaue ich auch etwas genauer hin, wenn der politische Moralist Habermas sich äußert. Dem Habermas vom Strukturwandel der Öffentlichkeit oder von Arbeit und Interaktion traue ich keine vernünftige Meinung zu, und ich glaube dennoch nicht, daß mein Urteil jetzt auf Voreingenommenheit beruht. Vielmehr ließe sich am Falle Habermas zeigen, wie eine neue Ideologie entsteht: lange bevor die politischen Inhalte deutlich werden und Gegenreaktionen hervorrufen können, werden bestimmte, zunächst als nur abstrakt erscheinende Begriffe salonfähig gemacht, die sich später erst, und dann wie von selbst, mit den anvisierten politischen Inhalten verbinden. Das Gerede von der nationalen Identität beispielsweise wäre 1965 schon deshalb auf taube Ohren gestoßen, weil mit dem damals unbekannten Begriff »Identität« niemand etwas hätte anfangen können. Erst Habermas und seine Crew ([Ulrich] Oevermann) haben mit der Sozialisationstheorie und dem symbolischen Interaktionismus auch den Begriff Identität einer ganzen Generation von Volksschullehrern und Sozialarbeitern eingebläut, die ihrerseits wieder zu seiner Popularisierung beitrug, so daß längst jeder BRD-Massenmensch von seiner Identität sprach, bevor daraus die nationale wurde. Wenn Habermas also wie die Antiimps argumentiert und sagt, daß man auf keinen Fall sich selbst verleugnen dürfe, so ist das keine Unaufmerksamkeit.

Pollock und Horkheimer haben sich im Februar 1919 noch in München aufgehalten, um dort das Abitur nachzumachen. Beide wollten dann im Sommersemester ihr Studium beginnen. Jedoch haben sich die Ereignisse überschlagen: die Räterepublik wurde im Mai brutal niedergeschlagen. Im Anschluss geriet erst Pollock ins Visier der Polizei, weil Tobias Axelrod, eine hochrangige Person der Räterepublik, dessen Ausweispapiere bei seiner Flucht bei sich hatte. Axelrod wurde zusammen mit Willi Budich und Germaine Krull verhaftet, die vermutlich Pollocks Papiere beschafft hatte, da sie mit ihm und Horkheimer eng befreundet war. Nach der Verhaftung saß Krull in Garmisch im Gefängnis, wo sie Horkheimer besuchte; auf Hin- und Rückfahrt von München nach Garmisch ist dann Horkheimer ausgerechnet mit Ernst Toller verwechselt worden und wurde deswegen mehrere Stunden von einer Art Heimwehr festgesetzt, und beide Male hat er, wie er selbst in einem Interview sagte, Todesangst gehabt, Furcht, »auf der Flucht« erschossen zu werden. Aufgrund dieser Erfahrungen haben Horkheimer und Pollock den Schluss gezogen, München zu verlassen und nach Frankfurt zu gehen, um dort zu studieren. Was man hier anmerken muss: Beide waren keine Anhänger der Revolution.

Im Memorandum über die »Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft e. V. und das »Berliner Psychoanalytische Institut«, welches Kursell angeregt hatte, stellten Boehm und Müller-Braunschweig ihre Vorstellung der ›Psychoanalyse‹ vor. Es dient als Diskussionsgrundlage mit nationalsozialistisch eingestellten Psychotherapeuten und Entscheidungsträgern. Demnach sei die Psychoanalyse »weder zersetzend noch undeutsch. … Sie ist, als Wissenschaft, wie jede Wissenschaft auseinanderlegend, analysierend. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit auflösend und zersetzend. Die Psychoanalyse will als Wissenschaft, wie als Therapie die unbewußten Anteile der Persönlichkeit, die den neurotisch kranken Menschen in der Betätigung eines ungebrochenen, aufbauenden, schöpferischen Wollens und Schaffens einengen und behindern, seiner bewußten Verfügung und Verantwortung wieder zuführen. Dadurch wirkt sie nicht auflösend, sondern erlösend, befreiend und aufbauend.« Und in kaum kodierter antisemitischer Manier heißt es weiter: »Es ist zuzugeben, daß sie ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes ist, und daß es darum entscheidend ist, wessen Hand dieses Instrument führt.« Die ›Psychoanalyse‹, die Müller-Braunschweig und Boehm im Sinne hatten, »bemüht sich nicht allein – auf körperlichem Gebiete – sexuell unfähige Menschen zu sexuell fähigen zu machen, sondern überhaupt auf allen Gebieten des Menschseins unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebens- und opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern am Ganzen umzuformen.

Mit Beginn des Krieges erließ Reinhard Heydrich ein Rundschreiben »Zur polizeilichen Behandlung der Prostitution«, das die Grundlage für die Wiedereinführung von Bordellen und die Kontrolle der Prostitution bis zum Ende des Krieges mit Verweis auf die Notwendigkeit der »Verhinderung von Geschlechtskrankheiten«, die zur »Beeinträchtigung der Wehrkraft« führten, bildete. Dieses Streben nach totaler Kontrolle sollte nicht nur das ›Altreich‹, sondern alle besetzten Gebiete umfassen, und wurde mit der Errichtung verschiedenster Bordellstrukturen (SS-, Wehrmachts-, Fremdarbeiter- sowie KZ‑/Häftlingsbordelle) umgesetzt: »Ein flächendeckendes System staatlich-kontrollierter Bordelle, das aus zivilen, militärischen sowie Bordellen für Zwangsarbeiter bestand und sich zugleich in das System der KZ erstreckte, überzog Europa.« So wurden im Nationalsozialismus einerseits verschiedenste Frauen aufgrund realer oder zugeschriebener Sexualität und Homosexualität als »Asoziale« oder Lesben verfolgt, gleichzeitig übernahm der NS-Staat immer mehr die Rolle des Zuhälters in staatlich angeordneten Bordellen: Im Zuge der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« des Reichsinnenministeriums wurden Prostituierte systematisch überwacht, aus der Öffentlichkeit gedrängt, und durch Polizei und Gesundheitsämter schikaniert. Gleichzeitig ermöglichte aber das Rundschreiben von Heydrich 1939 die Wiedereinführung von Bordellen in »besonderen Häusern«, deren Bereitstellung die Polizei zu organisieren hatte. Es wies zudem auf die Einhaltung »rassischer Grundsätze« hin: jüdische Prostituierte waren seitdem aus der Prostitution, sowohl in Bordellen als auch in den später entstehenden Lagerbordellen ausgeschlossen, ebenso wie jüdische Bordellbesucher. Die Errichtung der Lagerbordelle ab 1942 fügt sich in diese inkohärente Prostitutions- und Sexualpolitik ein.

Der zweite entscheidende Unterschied zwischen der Situation im ›Dritten Reich‹ und in der NDH bestand darin, dass die Ustaša es mit einer Situation zu tun hatten, die für Deutschland und weite Teile Österreichs undenkbar war: einem bewaffnetem Widerstand, mit dem rund die Hälfte der Bevölkerung sympathisierte, ihn unterstützte beziehungsweise ihm gar angehörte – einschließlich bewaffneter und für die politische Arbeit zuständiger Frauen, die sich 1942 zur Antifaschistischen Frauenfront Jugoslawiens zusammenschlossen. ›Die Partisanin‹ wurde für die Ustaša folglich zu einem mindestens ebenso bedrohlichen Feindbild wie das der als jüdisch imaginierten liberalen Frauenrechtlerin. Tatsächlich stellte die Partisanenbewegung, welche selbstredend ihrerseits alles andere als frei von patriarchalen Vorstellungen war, aber bewaffnete Kämpferinnen zuließ und als regierende Kommunistische Partei Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals in Jugoslawien das Wahlrecht gewähren sollte, für viele Frauen eine ansprechende Alternative und somit für die Ustaša eine besondere Bedrohung dar. Die Partisanin wurde als vermännlichtes Wesen, Sünderin und Kindermörderin dargestellt, wobei der letztere Begriff gegen Abtreibungen zielte. (102) ›Freie Liebe‹ in der Partisanenbewegung und Abtreibungen wurden am drastischsten diabolisiert. So zeigt eine Ustaša-Karikatur ›freie Liebe‹ in der Partisanenbewegung: eine aufgetakelte Partisanin im aufreizend kurzen, pelzbesetzten Kleid, mit rotem Stern und Hammer und Sichel auf der Mütze, einem Pflaster auf der Wange und einem Maschinengewehr in der einen Hand, greift einem Soldaten mit Handgranate am Gürtel mit der anderen Hand lüstern auf den Oberschenkel. (105) Die Partisanin habe keine Scham, würde jede Nacht den Mann wechseln, somit die Heiligkeit der Familie zerstören und die einfachen kroatischen Soldaten zum Übertritt in die Volksbefreiungsbewegung verführen, so die Ustaša-Ideologie.

Aber warum fällt es dem Souverän so leicht, sich gerade hier zurückzuziehen? … Nicht zufällig heißt der Asylantrag offiziell: »Antrag auf internationalen Schutz«. Diejenigen, die in einem bestimmten Staat, der die Konvention ratifiziert hat, diesen Antrag gestellt haben, sind damit nur Quasi-Rechtssubjekte oder potentielle Rechtssubjekte, sie sind Konventionssubjekte, könnte man auch sagen, Rechtssubjekte besonderer, weil zu­nächst befristeter Art. Darin sind sie schon einmal den Bürgern des Asyllandes nicht gleichgestellt, und kommen somit als Manövriermasse und po­litisches Druckmittel gegenüber anderen Staaten in Frage. … Insofern bleibt das Asylrecht internationales Recht, bis ins einzelne Verfahren hinein.

Thomas von der Osten-Sacken: Du hast insofern recht, als die Genfer Flüchtlingskonvention nur den Versuch darstellt, auf internationaler Ebene den Anspruch auf Schutz zu verrechtlichen und damit genau in jener Grauzone anzusiedeln ist, in der sich Völkerrecht immer bewegt. … Aber sie geht weiter als etwa die Konvention zum Kriegsrecht und ist letztlich in einer in Nationalstaaten organisierten Welt das einzige, was in politischer Praxis, jenseits moralischer Appelle, bleibt. Diejenigen, die das bestehende Asylrecht weiter aushöhlen wollen, versuchen es aber, auch da stimme ich zu, eher wie eine Art Kriegsrecht zu behandeln.

NGOs, Hilfsorganisationen, Freiwillige etc. sind eingesprungen, wo der Staat versagt hat. Was relativ schnell zu extrem absurden Situationen geführt hat, zeitweilig waren auf einer kleinen Insel wie Lesbos einhundertzwanzig NGOs registriert und achthundert Volunteers unterwegs und man hat in Mytilini mehr von diesen NGO-Westen gesehen als Griechen. Der erste Schritt, wenn relativ unkontrolliert – und da ist Moria noch ein Beispiel von vielen – Hilfsorganisationen von der Leine gelassen werden, ist nichts weiter als eine Privatisierung staatlicher Aufgaben, indem der Staat noch nicht einmal an irgendwelche nichtstaatliche Akteure irgendetwas delegiert, sondern nichtstaatliche Akteure im Prinzip in einem rechtlichen Niemandsland anfangen, ihre eigenen Strukturen aufzubauen. Es gibt dann immer zwei Arten nichtstaatlicher Akteure. Das eine sind all diese Hilfsorganisationen, die, wo immer sie, jenseits einer sehr strikten Kontrolle, anfangen zu arbeiten, generell für sehr problematische Strukturen sorgen und inzwischen jeder, der das mal erlebt hat, vor nichts so viel Angst hat wie vor der sogenannten ›NGOisierung‹ von Konflikten … Das zweite ist, dass natürlich, je weniger rechtliche Strukturen klar sind, je schwächer die eigentliche Exekutive in so einem Camp ist, desto mehr sich diese ganzen Schattenstrukturen entwickeln. Dieses Moria-Camp, wie es vor dem Brand letztes Jahr ausgeschaut hat, war de facto ein Ort, an dem es noch nicht mal eine einheitliche Jurisdiktion gegeben hat. Also es gab das Zentralcamp und dann einen Zelt-Slum drum herum; das Camp-Management, also die Vertretung von Militär und griechischer Regierung, die das offiziell geleitet haben, hat immer erklärt: wir sind für dieses Zeltgebiet nicht zuständig.

Deutlich wird dies, wenn mit Amos Goldberg einer der vom Goethe-Institut geladenen Diskutanten der lautgewordenen Kritik mit der Formulierung entgegentreten wollte, es gehe der geplanten Veranstaltung nicht darum, »Vergleiche zwischen dem Holocaust und der Nakba zu ziehen«, sondern um die Verarbeitung katastrophaler Erinnerungen an Ereignisse, »die sich in einer Situation des Konflikts, der Besatzung und der Apartheid stark voneinander unterscheiden«. Für diese anti- oder postkolonialistisch argumentierenden Einwände mögen sich die erinnerten Ereignisse an der Oberfläche zwar so stark voneinander unterscheiden wie die europäische Besiedelung Nordamerikas oder Südafrikas, die nationalsozialistische Vernichtung des europäischen Judentums oder die kriegerischen Auseinandersetzungen im Zuge der israelischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Zugleich jedoch soll das zugrundeliegende Feld, auf dem sich diese unterschiedlichen Ereignisse abspielen, doch immer dasselbe sein, das durch dieselben Vektoren aufgespannt wird – sodass es notwendigerweise keine prinzipiellen Unterschiede mehr geben kann: Die unter dem Begriff Holocaust gefasste Judenvernichtung soll ebenso »Konflikt, Besatzung und Apartheid« geschuldet sein wie die Nakba genannte Staatsgründung des jüdischen Staates samt ihrer Flucht und Vertreibung einschließenden Auswirkungen auf die arabische Bevölkerung des britischen Mandatsgebiets Palästina, die in nicht geringen Teilen das Resultat der prinzipiellen Ablehnung jüdischer Souveränität durch die arabischen Akteure, ihrer Verweigerungshaltung gegenüber jedem Kompromiss und ihrem bewaffneten Kampf gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen des Jischuw waren.

Die von Saul Friedländer in seinem Buch Kitsch und Tod ausgewiesenen Faktoren des Kitsches waren allesamt auf der documenta fifteen zu bestaunen. Eine archaische Utopie und die böse Moderne. Ein Ritus des Übergangs, der Initiation. Ein Geburtsakt der Reinigung. Uralte Kulte, legendäre Völker. Die Wurzel gegen das Wurzellose. Das Nicht-Erwachsen-Werden. Der Appell an vergangene Mythen, die eine immerwährende Gegenwart verkünden sollen. Trommeln und Blasmusik nahmen bei der Eröffnung den Singsang vieler Beiträge vorweg, der Gebeten ähnlich von der Öffentlichkeit besonders gepriesen wurde. Dem Kitsch stand als passendes Gegenstück und »Kurzschlussverbindung«, als »Juxtaposition«, die Ästhetisierung historischer Ereignisse in Bildern der Faszination von Tod und Zerstörung zur Seite. Die Bilderarrangements der Kollektive, die wie der Geist aus der Flasche immer weitere Kollektive mobilisierten, und sich schon in der bloßen Zahl als eine Masse (circa 1500 Künstler, wieviel es tatsächlich waren, weiß keiner), als eine Macht exponierten, ästhetisierten das Elend der Armen und Unterdrückten als apokalyptische Vision eines Endkampfs zwischen Böse und Gut. Die von der Gruppe Subversive Film veranstaltete Filmreihe Tokyo Reels wurde mit dem Kunstlabel einer Dokumentation im Arthouse-Kinosaal versehen, um den Mord an Juden auf dem Tel Aviver Flughafen durch japanische Antisemiten als Heldengeschichte des ›Widerstands‹ legitimieren zu können. Eine aktualisierte Version von Kitsch und Tod, Widerschein des Nazismus, so der Untertitel von Friedländers Buch, reichte bis in die Gegenwart nach Kassel, ins Jahr 2022, im dortigen Ringelreihen auf der Halfpipe und dem Aufruf ›Free Palestine‹.

Der Anti-Israel-Aktivismus, das war schon im Januar 2022 klar, würde bei der Kunstschau also zahlreich, prominent und an zentralen Stellen vertreten sein. Später fanden der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Kassel, Markus Hartmann, und die Tageszeitung Die Welt durch eine datenbankgestützte Recherche heraus, dass sogar 84 Personen mit klaren BDS-Sympathien an der documenta mitwirken. In vielen Medien wurde die Beteiligung von BDS-Unterstützern an der documenta schon zu Beginn dieses Jahres kritisch gesehen. Der Vorstand des documenta Forum Kassel, das ist der Freundeskreis der documenta, bezog sich dagegen explizit positiv auf die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die sich gegen den Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages richtet. Die documenta selbst betonte, gegen Rassismus und Antisemitismus zu sein, aber auch für die uneingeschränkte Kunstfreiheit. Ähnlich äußerte sich der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle als Vorsitzender des documenta-Aufsichtsrates, für den keine »roten Linien« überschritten waren. Diese Erklärungen liefen darauf hinaus, dass niemand offiziell unter Druck gesetzt oder gar von der documenta ausgeladen werden sollte, auch wenn er BDS unterstützt. Das aber tangierte den Bundestagsbeschluss, in dem klar festgehalten ist, dass die Äußerungen und Aktivitäten der BDS-Kampagne keine Kritik am israelischen Regierungshandeln sind, sondern schlicht Antisemitismus. Wer sich zu den Zielen von BDS bekennt, soll nach diesem Beschluss, wie bereits erwähnt, nicht mit öffentlichen Geldern gefördert werden. Die documenta aber wird aus öffentlichen Mitteln finanziert. Zwar ist der Beschluss des Bundestages kein Gesetz, sondern nur eine Handlungsempfehlung; gleichwohl beeinflusst er in konkreten Fällen die Vergabe staatlicher Zuwendungen. Nähme man ihn ernst, dann hätte Kulturstaatsministerin Claudia Roth eigentlich alle Kunstaktivisten, die sich zu BDS bekennen, ausladen lassen müssen.

Der jahrzehntelange Boykott Israels durch die Arabische Liga war einst der Versuch, mit wirtschaftlichen Mitteln »die Ziele zu verwirklichen, die mit dem militärischen Feldzug nicht erreicht werden konnten«, so der spätere ägyptische UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali im Rückblick. Nach der arabischen Niederlage im israelischen Unabhängigkeitskrieg ging es also darum, den jüdischen Staat ökonomisch zu strangulieren und auf diesem Wege dessen Existenzbasis zu zerstören. Rund drei Jahrzehnte gelang es den arabischen Staaten tatsächlich, mit ihrem Boykott wirtschaftlichen Druck auszuüben, nicht zuletzt, weil westliche Firmen aus Angst um ihre Geschäfte in der arabischen Welt mit den Boykottbüros kooperierten und Niederlassungen in Israel schlossen oder gar nicht erst eröffneten. Aber seit den 1970er Jahren begann die wirtschaftliche Blockade infolge der Verabschiedung von Anti-Boykott-Gesetzen in mehreren westlichen Staaten deutlich an Kraft zu verlieren. Der Boykott wurde zunehmend nicht oder nur mehr sehr lückenhaft befolgt, und mit dem israelisch-palästinensischen Friedensprozess in den 1990er Jahren wurde er von vielen arabischen Ländern ausgesetzt. Auch wenn er nie offiziell aufgehoben wurde, ist er heute praktisch tot.

Es fällt auf, dass von Seiten der Palästinenser zwar in Hinblick auf die Proteste im Iran nichts zu hören ist, andererseits jetzt Unruhen in Ostjerusalem eingesetzt haben. Möglicherweise hat hier auch das Mullah-Regime, das sich gerade sehr in Bedrängnis sieht, seine Finger im Spiel. Im Iran selbst dürfte diese Frage, also die Identifikation mit den Palästinensern, kaum mehr eine Rolle spielen als Gegenmittel zu den Protesten. Bei einzelnen NGOs und Menschenrechtsaktivistinnen und ‑aktivisten, die sich außerhalb des Iran für die Proteste engagieren, mag das anders sein. Man hörte auch bei den Protesten keinerlei Parolen gegen die Sanktionen, gegen die USA, gegen Trump usw. In Teheran findet jetzt ein großer Teil der Demonstrationen in der Straße statt, die nach ›Palästina‹ benannt wurde, in der Palästinastraße also, wie sie wahrscheinlich in allen iranischen Städten zu finden ist. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass bisher nichts darauf hinweist, dass sich der Protest oder ein Teil davon zugleich gegen Israel wenden und sich Solidarität mit den Palästinensern auf die Fahnen schreiben würde. Schon vor Jahren konnte man sehen, dass Studenten um die Fahnen Israels und der USA, die ihnen sozusagen zum Herumtrampeln vor die Füße gelegt wurden, einen Bogen gemacht haben.

Auf der Website des seit längerer Zeit glücklicherweise eingestellten Periodikums Magazin, auf der man seit der Coronapandemie die wirklich triftigen Anliegen einer Berliner Eckkneipe namens Laidak online vertritt, kündigte man zum Vorabend des Großen Vaterländischen Kriegs einen Vortrag unter dem Titel Die Zeitenwende: Nach Corona nun der Krieg – Von der Maske zum Stahlhelm an, der den Zusammenhang zwischen den »Corona-Regimes« und dem russischen Krieg in der Ukraine herbeisinnen will; es heißt dort unter anderem …

Der Heidegger träumt: er sitzt vor seiner Hütte auf seiner Todtnaubergbank, näht gerade einen Hirschknopf an seinen Janker, da rattert von unten im Dorf ein Sherman-Panzer den Feldweg herauf. Er übertönt das Plätschern vom Brunnen mit dem Sternenwürfel. Elfride, wie so oft Strümpfe für den nächsten Winter strickend, schreit zu ihm herüber: »Martin, der Amerikaner kommt!« Als der Panzer eine kleine Tanne umfährt, schimpft der Schwarzwalddenker: »Alles ist boden- und ziellos« …

Der Mythos des »goldenen Al-Andalus« wurde maßgeblich von assimilierten europäischen Juden im ausgehenden 19. Jahrhundert geprägt. Dies geschah zu einer Zeit, als der Orientalismus in der Kunst, Architektur und Literatur zum vorherrschenden Motiv wurde, wovon auch zahlreiche Synagogenbauten im maurischen Stil zeugen, die aus jener Zeit stammen. Man berief sich auf den Beitrag der mittelalterlichen Juden unter islamischer Herrschaft zur Herausbildung der modernen Wissenschaften, wie am prominenten Beispiel des Maimonides und seiner Geburtsstadt Córdoba als Schmelztiegel der Religionen gerne angeführt wird; dass Maimonides vertrieben wurde, bleibt dabei meist unbetont. Die Gründe für diese Romantisierung sind komplex und begründen sich nicht allein in der Sehnsucht nach der vermeintlich harmonischen Vergangenheit.

Dessen ungeachtet gründete die Dhimmitude auf der strukturellen Inferiorität und permanenten Demütigung von Nichtmuslimen und ist nicht vergleichbar mit den modernen westlichen Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit. Nathan Weinstock kommt aus diesem Grund zu dem Schluss, »dass das Los der jüdischen Minderheiten unter dem Islam sich nicht grundsätzlich vom Status der Juden unter dem Kreuz unterschieden hat« und charakterisiert die Juden in der arabischen Welt als »Pariavolk« – als ein Volk der Ausgestoßenen. Auch nutzt er die Metapher des Hundes, um die Verachtung zu beschreiben, die man den Juden unter dem Halbmond entgegenbrachte und erinnert an den Schlachtruf »Die Juden sind unsere Hunde« aus den 1920er Jahren. Ein Beauftragter der Alliance Israélite Universelle beschrieb diese »Toleranz der Verachtung«, die charakteristisch für das jüdisch-muslimische Verhältnis war, wie folgt: »Der Jude ist das Tier, das man bei jedem Anlass schlägt, aus nichtigem Grund, um seine Nerven zu beruhigen, um seinen Zorn zu besänftigen«.

Die öffentlichen Fehltritte in Bezug auf den Holocaust zu Beginn dieses Jahres stehen scheinbar in keinem Zusammenhang, sie sind aber dennoch miteinander verknüpft. Der erste, die Entscheidung einer Schulbehörde in Tennessee, Art Spiegelmans Maus aus dem Holocaustcurriculum zu streichen, zeigt, wie in einem Schulbezirk konservative Entscheidungsträger den Holocaust als eine allgemeine, universelle Lektion betrachten, deren jüdische Aspekte bestenfalls unbequem sind und schlimmstenfalls zum kulturellen Zusammenbruch führen könnten. Der zweite Fehltritt, bei dem es um Äußerungen der Entertainerin und Sozialkritikerin Whoopi Goldberg geht, betrifft ebenfalls den Holocaust als universelle Lektion, von der die jüdische Spezifik abgetrennt ist. Gerade als jüdische – das heißt weiße – Katastrophe passt der Holocaust nicht in den sensibilisierten Rassediskurs der Gegenwart. In beiden Fällen wird der Holocaust in die amerikanischen Kulturkriege hineingezogen, auf Kosten der Erinnerung an den Holocaust selbst.

Warum hatte Tutu einen solch blinden Fleck, wenn es um Israel und Juden ging? Er mag sich selbst nicht als Antisemit gesehen haben. Aber als jemand, dessen ganzes Leben von der Idee geprägt war, dass Minderheiten gegen Unterdrücker kämpfen, fiel es ihm leicht, wie es die Intersektionalität verlangt, alle Konflikte als gleich zu betrachten.

Israel ist nicht perfekt, aber es hat Tutus Schmähungen nicht verdient. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass Tutu seine eigenen Erfahrungen mit der Sache einer palästinensischen Nationalbewegung verwechselte, deren Identität untrennbar mit einem Krieg zur Auslöschung Israels verbunden ist und nicht mit einem Kampf für Gerechtigkeit. Damit hat er sich auf die Seite von Hass und Intoleranz gestellt.

Wir sollten uns an Tutus heldenhaften Kampf gegen die Apartheid erinnern. Aber das entschuldigt nicht seine Bemühungen, den Hass gegen Israel und die Juden zu rechtfertigen.

Statt nach Wahrheit zu suchen, die positiv nicht unmittelbar zutage treten kann, und deutlich zu machen, warum, erhält aufs Neue die sinnliche Gewissheit Vorrang: Es gäbe einerseits historische Tatsachen und andererseits Narrative; bei den Tatsachen fragt sich niemand, auf welcher Grundlage sie als Tatsachen überhaupt wahrgenommen werden können und als geltend betrachtet werden; bei den Narrativen wird als erwiesen betrachtet, dass die Tatsachen bloße Versatzstücke des Erzählens sind – und indem es als Erzählen bezeichnet wird und nicht als Ideologie, erspart man sich auch darüber, was überhaupt erzählt werden kann, weiter nachzudenken. In der Gewissheit, die Tatsachen auf ihrer Seite zu haben, behandeln dann die einen den Holocaust oder den jüdischen Monotheismus als Narrativ Israels, die anderen die postkoloniale Theorie und den Antirassismus als Narrativ der Antisemiten beziehungsweise Antizionisten. Letzteres macht allerdings einen Unterschied ums Ganze – nur kann eben diesen Unterschied nicht begreifen, wer verleugnet, dass »zwischen Antisemitismus und Totalität von Anbeginn der innigste Zusammenhang« bestehe, wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt. Gerade von Totalität, das heißt vom Kapitalverhältnis, will man ja im Namen der Tatsachen und der Narrative, der News und der Fake News keinen Begriff mehr haben.

Werbung. Die Metropole teilt die Zugewanderten in Expats und Migranten. Die meisten Expats, die in der Regel die Theorie mitbringen, kommen aus Großstädten der westlichen Hemisphäre, deren Anteil schwarzer Bevölkerung deutlich höher als etwa in der deutschen Hauptstadt ist – in Europa ein Resultat des Kolonialismus, in den USA eines der Sklaverei. Die verschwindend geringe jüdische Bevölkerung in Zentral- und Osteuropa, die den Mord überlebte, hat symbolische Bedeutung. Auch in der Erinnerungslandschaft ist sie ein städtisches Phänomen. Mit dem Wirtschaftswunder kam die Arbeitsmigration. Sie sollte fortsetzen, was das System der Zwangsarbeit ermöglichte: die anderweitig beschäftigten Deutschen in der Produktion zu unterstützen. Das postkoloniale Milieu belächelt die heutigen Deutschen. Sie erscheinen ihnen als zivilisatorisch zurückgeblieben, obgleich sie wissen, dass ihre eigene Weltgewandtheit auf der des Kolonialismus und des Sklavenhandels aufruht. Sie haben recht. Weltgewandtheit wird simuliert. Kaum ein Werbeclip kommt in Deutschland heute ohne die Ausstellung von Diversität aus, während die gesellschaftliche Oberfläche sich nach dem Vorbild der Werbung verwandeln soll. Vielleicht hilft es ja. Niemand braucht dabei die Juden: sie sind eine Erinnerungspflichtübung, sie fallen aber nicht ins Gewicht. Ihre Kaufkraft ist irrelevant, Identifikation mit ihnen unheimlich. Geflüchtete Schwarze bleiben in Deutschland Gegenstand der Anthropologie, sie sind keine Figur der Erinnerung. Sie erscheinen dem Blick des Alltags als Verstreute, Nomaden. Kulturell Interessierte mögen in ihnen die geheimnisvolle Kraft suchen, mit der sie vermochten Wüste und Meer zu überqueren. Wie in der Vergangenheit erscheint ihr Potential nur rohstoffgleich. Werbung macht man mit BIPoCs, mit auf diese Weise ausgezeichneten Nichtweißen, die, weil sie Mehrwert versprechen, in Subjekte der politischen Ökonomie verwandelt wurden.

Durch das Retirieren auf Innenpolitik und Anti-EU-Propaganda wird immerhin Israel weitgehend aus der Schusslinie genommen, ja sogar als Identifikationsobjekt ausersehen, wenngleich die Rhetorik eines antisemitischen Charakters nicht gänzlich entbehren muss. Ganz anders stellt sich die Situation von den erdölexportierenden Ländern aus dar, denn deren Sonderstellung auf dem fortbestehenden Weltmarkt ermöglicht eine Art Surrogat für Autarkiepolitik, auf die allein schon das Zinsverbot im Islam ausgerichtet ist, und dieses Surrogat zeigt seine verheerende Wirkung in dem davon finanzierten Djihad im ›Haus des Krieges‹. Denn das ›Haus des Islam‹ ist der geschlossene Handelsstaat unter den Bedingungen des fortbestehenden Weltmarkts, Islamic Banking die zeitgemäße Form der »Brechung der Zinsknechtschaft« und Antizionismus die Speerspitze des Antisemitismus.

Soweit aber die Deutschen – und hier namentlich weniger die rechten Nachfolgerackets des Nationalsozialismus als deren linke Gegner, ihres Zeichens Kritiker der Islamophobie – außenpolitisch agieren und diese Außenpolitik auch im Inneren durchsetzen, bereiten sie dem Djihad den Boden durch konsequentes Appeasement, wenn nicht Kollaboration– mit nicht geringer, wenn auch wechselnder Ausstrahlungskraft auf die Außenpolitik der USA. In gewisser Weise kehrt damit die deutsche Ideologie zu dem Ausgangspunkt zurück, an dem Marx und Engels sie einst durchschauten. Um darzulegen, »welche borniert-nationale Anschauungsweise dem vorgeblichen Universalismus und Kosmopolitismus der Deutschen zugrunde« liege, zitierten sie aus Heinrich Heines Wintermärchen die Zeilen: »Franzosen und Russen gehört das Land, / Das Meer gehört den Briten, / Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritten. / Hier üben wir die Hegemonie / Hier sind wir unzerstückelt«.

Eine realitätsnahe israelische Politik würde sich darauf konzentrieren, mit Israels Verbündeten zusammenzuarbeiten, die die iranische Bedrohung so sehen, wie Israel sie sieht, und nicht mit einer US-Regierung, die Israel als Bedrohung für ihr Ziel ansieht, Amerikas Politik weg von Israel und den sunnitischen Arabern und hin zum Iran und seinen terroristischen Stellvertretern auszurichten. Solange die israelische Führung Joe Bidens Unterstützung für das iranische Regime verleugnet, untergräbt sie Israels Ansehen in den Augen seiner Verbündeten und schwächt damit die israelische Fähigkeit, entweder allein oder gemeinsam mit diesen Verbündeten zu handeln, um den iranischen Weg zur Atombombe zu blockieren.

Während Russland ukrainische Städte bombardiert und seine Atomwaffen zur Schau stellt, besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Auswirkungen des Krieges zwischen Russland und dem Westen weltweit zu spüren sein werden – und es ist unwahrscheinlich, dass die Beziehungen zwischen den Staaten, die noch vor zwei Wochen vorherrschten, dadurch nicht verändert werden. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag könnte mögliche Kriegsverbrechen der russischen Führung untersuchen, während die westlichen Regierungen weiterhin beispiellose Wirtschaftssanktionen verhängen. Infolgedessen wird sich Russland nach alternativen Märkten und Einflusssphären umsehen, insbesondere im Nahen Osten und in Afrika, wo es sich schon in den letzten zehn Jahren stark engagiert hat. Während Moskau den militärischen und wirtschaftlichen Druck auf die Ukraine erhöht und dabei verbotene Waffentypen und unterschiedslose Feuerkraft gegen die Zivilbevölkerung einsetzt, befürchten viele in Israel, dass Moskaus nächster Schritt im Nahen Osten erfolgen wird – wo Moskau formell mit Israels schlimmsten Feinden verbündet ist.

Angesichts der Kämpfe in der Ukraine sieht sich Israel wie gespalten zwischen der Unterstützung der ukrainischen Souveränität und dem Wunsch, die neue kriegerische Weltmacht in Gestalt von Russland nicht zu verärgern. Soll der jüdische Staat eine verblassende Weltordnung unter der Führung der USA und der westeuropäischen Mächte unterstützen oder die sich abzeichnende Ordnung, in der eine von China und Russland angeführte Achse nun versucht, die internationalen Beziehungen zu dominieren? Muss sich Israel entscheiden?

Für Israel steht viel auf dem Spiel. »Die Weltordnung, wie wir sie kennen, verändert sich«, sagte der israelische Premierminister Naftali Bennett am 25. Februar bei einer Abschlussfeier für IDF-Offiziere. »Die Welt ist viel instabiler geworden, und auch unsere Region verändert sich jeden Tag. Es sind schwierige, tragische Zeiten. Unsere Herzen sind bei den Zivilisten in der Ostukraine, die in dieser Situation gefangen sind«, fügte er hinzu. Bennetts Erklärung war sorgfältig formuliert.

Thorsten Fuchshuber: Wo China als eines der Länder mit der größten Wirtschaftsleistung unmittelbare Abhängigkeitsverhältnisse durch seine Marktmacht schaffen möchte, um so, wie Gerhard Scheit sagt, »den Weltmarkt von innen her aufzulösen« zu versuchen, will Russland diesen quasi von außen, durch seine Militärmacht torpedieren, um dessen Universalisierungstendenz zu brechen. Die Russische Föderation verfolgt also ebenfalls eine Politik, die immer zugleich auch gegen die Gesetze des Weltmarkts gerichtet ist, und unmittelbare Abhängigkeiten schafft sie über Rohstoffzuwendungen übrigens auch. Trotzdem bleibt Russland zugleich über den Handel mit Rohstoffen sowie anderen Ex- und Importen an diesen Weltmarkt gebunden. Daher würde ich auch nicht von einer Simulation gesellschaftlicher Dynamik auf kapitaler Grundlage sprechen, sondern diese Dynamik besteht tatsächlich, auch wenn es, wie du richtig sagst, selbstverständlich deutliche Autarkiebestrebungen gibt. Es gib daher durchaus Kräfte innerhalb des russischen Systems, denen die derzeitige Sanktionspolitik von EU und USA entgegenkommt. Sergej Glasjew etwa, der Berater Putins während der Krimannexion und seit dem vergangenen Jahr Kommissar für Integration und Makroökonomie bei der Eurasischen Wirtschaftskommission, dem Exekutivorgan der Eurasischen Wirtschaftsunion, wittert bezüglich seiner Vorstellungen von ›Selbstversorgung‹ Morgenluft. Bereits 2014 hatte er hierzu zahlreiche Vorschläge gemacht, wie etwa das Einfrieren ausländischer Guthaben, die Beschränkung von Devisentransaktionen und die staatlich erzwungene Importsubstitution durch russische Produkte. Auch jüngst hat er in einem Artikel gefordert, »die nationale Souveränität in der Wirtschaft zu stärken« und freut sich beispielweise über die Kapitalrückführung nach Russland aufgrund der Sanktionen gegen zahlreiche Oligarchen. Das erinnert schon auch ein wenig an die Beobachtungen Alfred Sohn-Rethels zur Forderung nach Autarkie in der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik, auch wenn sich das nicht einfach übertragen lässt. Sohn-Rethels Unterscheidung von einerseits ökonomisch intakten Teilen der Wirtschaft, die stark genug waren, »den Konkurrenzkampf in der Welt mit wirtschaftlichen Mitteln zu bestehen« und die folglich weder für Autarkieforderungen noch »für die Methoden des Krieges und der gewaltsamen Eroberung« zu begeistern gewesen seien, und andererseits ökonomisch paralysierten Teilen der Wirtschaft, die »politische Bewegungsfreiheit« besaßen, lässt sich auf Russland heute so ›anwenden‹, dass es erstere dort quasi nicht gibt, während letztere eben in den völlig mit dem Staat und seinen Apparaten verschmolzenen russischen Konzernen bestehen. Aber zentral ist, denke ich, der von Gerhard Scheit angesprochene Aspekt der gegen den Weltmarkt gerichteten Politik – das ist es, was China und Russland meinen, wenn sie einander »Förderung der globalen Multipolarität und der Demokratisierung der internationalen Beziehungen« versprechen.

Peter Stephan Jungk: Wie geht’s Ihnen heute?

Georges-Arthur Goldschmidt: Mir sollte es normalerweise schlecht gehen, aber mir geht’s ausgezeichnet. Ich spiele immer den eingebildeten Kranken wie bei Molière. Ich hatte allerhand, aber es geht mir sehr gut. Ich hatte Covid und alles Mögliche, aber es geht mir sehr, sehr gut eigentlich.

PSJ: Wunderbar.

GAG: Wir stehen, meine Frau und ich, so gegen 10 oder 11 Uhr auf, da ist schon der Tag ziemlich angebrochen. Ich schreibe noch, aber immer weniger und vor allen Dingen: ich vertippe mich ständig, sodass das Schreiben richtig schwierig wird, und meine eigene Schrift kann ich nicht mehr lesen. Es ist unmöglich. Alle Leute sagen, es sieht schön aus, aber es ist unlesbar. Und mit dem Computer ist es noch schlimmer, weil ich mich ständig vertippe. Aber ich hab nichts mehr zu sagen, ich hab alles von mir selber ausgeforscht. Das einzige Thema meines Schreibens ist mein eigener Nabel. Ich bin kein Schriftsteller in diesem Sinne. Ich bin ein Selbstbetrachter, aber sonst, ich kann nicht wie Sie zum Beispiel über andere Menschen schreiben. Ich bin viel zu sehr in mich eingeschlossen, das kommt wahrscheinlich auch vom Exil. Die absolute Unsicherheit der Kindheit – nehme ich an.

PSJ: Gut, aber andererseits haben Sie zuletzt ein Buch publiziert, das mir persönlich sehr viel bedeutet, nämlich zum ersten Mal ein Buch, in dem Sie über Ihren Bruder schreiben. Wie kam es dazu? Das ist ja nicht nur über Sie, sondern sehr wohl auch über Ihren Bruder Erich.

GAG: Das kam, weil mein Verleger bei Wallstein, Thedel von Wallmoden, mich mal angerufen und gesagt hat: »Ja, aber es ist komisch, Sie reden nie über ihren Bruder!«. Und das ist mir gar nicht aufgefallen. Und plötzlich war das wie ein Elektroschock und ich hab verstanden, dass mein Bruder und ich in entgegengesetzten Welten lebten. Ich weiß nichts von ihm; er hat alles verschwiegen, er hatte ein fürchterliches Leben – durch mich. Ich hab ihm sein Königsreich als vierjähriger kleiner Junge zerstört und dann kam die Hitlerei – er hatte ein entsetzliches Leben von dem ich nichts weiß. Aber er wurde dann französischer Offizier und hat sich dummerweise am Putsch gegen de Gaulle beteiligt.

PSJ: In Algerien?

GAG: In Algerien. Er kam nicht ins Gefängnis, aber konnte dann nicht mehr aufsteigen und ist bis zum Lebensende nicht Oberstleutnant, sondern Major geblieben. Aber ganz am Ende seines Lebens bekam er die Ehrenlegion und das war für ihn das absolute Glück. Kann ich auch verstehen, er fühlte sich dermaßen in die französische Nation integriert, dass er das als ultime Etappe seines Lebens betrachtet hat.

Vorbei an den nahezu fertiggestellten Einfamilienhäusern auf dem Gelände der einstigen Häftlingsbaracken gelangte er, nunmehr wieder im älteren Stadtteil Frauenland, vor einen trögen Klinkerbau, wo sich nach Ausweis zweier Anschlagstafeln der Heimat- und Volkstrachten-Verein 1903 Weinstadt, augenscheinlich ein, wohl bereits den Nazis zu piefig-konservativer, altfränkischer Schutztrupp, die Adresse Richard-Wagner-Straße Nr. 60 mit dem Salon77 teilt, einer vor allem dem Tanze, aber auch der Durchführung eines gut besuchten, jährlich abgehaltenen Kunstgewerbemarkts verpflichteten, soziokulturell orientierten Künstlerinitiative. Jäh durchzuckte es ihn: Organisierte Banausie! Er hatte das wohl leise, aber anscheinend doch zu vernehmlich ausgesprochen, worauf ein höflicher junger Herr, der eben – von ihm zuvor gar nicht wahrgenommen – mit der Befestigung eines Kindersitzes an seinem Fahrrad beschäftigt war, ihn ansprach und freundlich Hilfe anbot: Wen suchen Sie denn? Wir kennen uns hier in der Nachbarschaft eigentlich alle recht gut. In seiner Verwirrung erwiderte er: Adorno … Adorno? Kommt mir schon bekannt vor, aber … Der hilfsbeflissene Herr strich sich durch den sorgfältig gepflegten Bart: Nein, da kann ich Ihnen leider gar nicht weiterhelfen, Adornos wohnen sicher nicht hier, das wüsste ich … Vielleicht ja gleich drüben im Richard-Strauss-Weg, da ist ein Senioren-Wohnheim. Dort, an der Ecke zur Sudetenstraße! Er machte sich höflich dankend auf den mit schraubenschlüsselhaltender Hand gewiesenen Weg, von dem er wusste, soweit war zumindest seine räumliche Orientierung doch noch vorhanden, dass er ihn ohnehin auf kürzestem Wege nach Hause führen würde. Dort recherchierte er dann erst einmal im Internet über den Begriff der Banausie.

Es ist nicht irgendein Viertel, das Memmi gemeinsam mit dem Schulvorsteher an jenem regnerischen Nachmittag durchschreitet, die Armut, die er zu besichtigen sich aufnötigt, nicht die allgemeine – obwohl, so dürfen wir Memmis Mitteilung an die Redaktion verstehen, das Elend nicht den Juden exklusiv ist und allzu viele Mitglieder der tunesischen Gesellschaft (Muslime, Berber, Spanier usw.) in solchen Verhältnissen der Armut lebten. Es ist die jüdische El-Hara – Verhältnisse, die über Memmis Kindheit und Bildungsjahre ihren Schatten warfen: eingezwängt in die stets ambivalente Stellung, in die die Juden in der kolonial hierarchisierten Gesellschaft gedrängt wurden, bedroht von moslemischen Pogromen, verfolgt von deutschen Besatzern, geschlagen vom doppelten Verrat des aufgeklärten Frankreichs unter dem Vichy-Regime wie den Forces françaises libres, das den Juden jeden Schutz verweigerte und ihnen später nur die Rückkehr zu kolonialer Unterordnung bot.

Die Müdigkeit und der Ekel bewirken, daß Gesichter und Nöte zu verschwimmen beginnen. Eine Tür, die aufgeht und Dunkelheit herausströmen läßt, zusammen mit einer Horde Kinder jeden Alters, die ihre Augen weit aufsperren. Da Vater und Mutter blind sind, leben die Kinder seit ihrer Geburt im Dunkeln. Ein Greis, der in einem von Ungeziefer verseuchten Verschlag unbeweglich auf einem nackten eisernen Bettgestell liegt und unsere Fragen unbeantwortet läßt. Diese Zimmer, wo aufgehängte Wäsche zu trocknen vorgibt, wo die Feuchte der Luft, der Modergeruch uns den Atem benimmt. Die Kinder haben dicke Köpfe und hervorstehende, glänzende Augen.

Man betrachte doch ein Kaktusfeld, wenn der Sommer zu Ende geht: Versengt und grau erfährt es die Wahrheit des göttlichen Fluchs, wird wieder zu Staub, vermengt sich damit und wird sich in kurzem verflüchtigen, ohne stärkere Spuren zu hinterlassen als ein bißchen Staub auf der schrundigen Erde. Diese Verurteilung zu Unbeweglichkeit, zum Ersticken, zum restlosen Ausgesogenwerden, so daß der Tod unvermeidlich wird, gehört ebenfalls zu den großen Lehren der Sonne: Sie gibt dem Leben Rhythmus und auch dem Tod, dem nichts entgeht. Selbst ihr Lieblingskind, die üppige, geschwellte, vom kostbarsten Gut, dem Wasser, gesättigte Tomate, ist vergänglich, platzt bald auf, so daß ihre Eingeweide bloßliegen, verfault, verdorrt, wird für alle Zeiten gegerbt wie eine Mumie.

Man muss aber auch historisch sehen, dass die deutsche Sozialdemokratie trotz verschiedentlicher Bemühungen, im Nachhinein ihre Geschichte zu renovieren, von Anfang an eine lassalleanische Partei gewesen ist, die auf der ganz falsch verstandenen hegelschen Staatsvergötterung aufbaut. Ferdinand Lassalle ist ja der Urvater der Sozialdemokratie und es wurde von Anfang an die marxsche Staatskritik ignoriert. Das ist es, was 1914 hervorbricht, und was die SPD natürlich niemals losgeworden ist. Es ist ein Mythos, dass die SPD jemals eine marxistische Partei gewesen sei. Das ist schon deswegen falsch, weil sie die marxsche Kritik an der Form Partei grundlegend ignoriert. Und das ist genau der Lassalleanismus, der dann nachher von den Leninisten übernommen wird, und der 1917 in Russland in der ersten sozialdemokratischen Planwirtschaftsrevolution in der Geschichte zum Durchbruch kommt. Man weiß ja, dass Lenins Begeisterung für die deutsche Post kein Zufall war; dass eben der Staatskult dort bis zum Äußersten getrieben wurde, was eben in der Geschichte nur Leute wie Anton Pannekoek, die Rätekommunisten überhaupt, Rosa Luxemburg und einige wenige andere klar gesehen haben. Von daher ist es auch verständlich, dass in demselben Augenblick, in dem eine lassalleanische, etatistisch-sozialdemokratische Macht verloren geht, der Rücksturz in die, ich sage mal, friedlich-schiedliche Staatsillusion stattfindet.

Souveränität ist im Grundgesetz des neuen deutschen Leviathans also gut versteckt. Sie lugt hinter der »Würde des Menschen« in Art. 1, also des allgemeinen Menschen überhaupt, einer Abstraktion, nur ab und zu hervor wie Rumpelstilzchen, das bis zum bitteren Ende drauf hofft, dass niemand seinen Namen kennt. Weder darf man also bei der Würde »des Menschen« an die bedürftigen und quälbaren einzelnen Menschen denken, noch beim Begriff der Würde an Immanuel Kant. Denn was der Parlamentarische Rat unter Würde verstand und auch die Methode, mittels derer das BVerfG, etwa im Urteil vom 21. Juni 1977 zu den verfassungsrechtlichen Grenzen lebenslanger Freiheitsstrafe, den Begriff mit allerlei ethischen Kalkulationen stopfte, hat mit dem kategorischen Imperativ Kants und seiner Ableitung der Würde aus der Fähigkeit der Menschen zur Freiheit und zur Autonomie wenig zu tun. Darum wird man sich nicht wundern, dass der vom Verfassungskonvent ursprünglich vorgesehene Wortlaut des Art. 1 des Grundgesetzes vom Parlamentarischen Rat abgelehnt wurde. Der Vorschlag lautete: »Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.« … Anders als etwa die französische Verfassung der V. Republik vom 4. Oktober 1958, die der Souveränität gleich zu Beginn einen eigenen Titel mit drei Artikeln widmet, kommt der Begriff der Souveränität im Grundgesetz kein einziges Mal vor. Deliberativ sollte die Bonner Republik sein und ihr Grundgesetz daher von Anfang an eine Einladung an alle, jeden Gegensatz der Interessen, jede schmerzliche Erinnerung an eine Zeit der Klassenkämpfe und den unaufhörlichen Kampf um Meinungsführerschaft nach Möglichkeit in ein bloß rechtliches Problem zu transformieren und sodann als rechtlichen Meinungsstreit oder Rechtsstreit auszutragen.

Die Politik, die heute von der Kommunistischen Partei Chinas betrieben wird, erscheint vor diesem historischen Hintergrund eigenartig gespalten: Sie wirkt als willentlicher Beschleuniger, was den imperialistischen Versuch betrifft, den Weltmarkt von ›innen‹, von den Verträgen her zu zerstören und den US-Hegemon durch Großraumpolitik beiseitezuschieben; aber als Beschleuniger wider Willen, was die Bedrohung Israels anbelangt, wie das Verhältnis zum Islam im Allgemeinen und zum Iran im Besonderen zeigt – wobei hier das Besondere die fast schon erreichten Kapazitäten sind, in dem für den Islam beanspruchten Großraum des Nahen Ostens den Staat der Überlebenden der Vernichtungslager auszulöschen.

Hätten die USA Pakistan noch im Juni 2021 klargemacht, dass ein friedlicher und geordneter Abzug aller US-Soldaten und ihrer afghanischen Verbündeten, die das Land verlassen wollen, zur Hölle führen würde, wenn sie nicht sicherstellen, dass die Taliban dies zulassen, wäre es nie zu diesem Debakel gekommen. Die Vereinigten Staaten verfügen über nahezu unbegrenzte Einflussmöglichkeiten auf Pakistan, von der Verhängung weitreichender Sanktionen bis hin zu der Androhung, Indien grünes Licht für die Rückeroberung der Teile Kaschmirs (GilgitBaltistan) zu geben, die seit 1948 unter nicht anerkannter pakistanischer Besatzung stehen. In militärischer Hinsicht ist der Hauptgrund dafür das iranische Raketenprogramm, das zwar immer noch ausschließlich mit konventionellen Sprengköpfen ausgestattet ist, Israel aber offenbar ausreichend abschrecken konnte. Und das, obwohl Israel über das einzige voll funktionsfähige mehrschichtige Raketenabwehrsystem der Welt verfügt (Arrow, David’s Sling und Iron Dome). Dies ist jedoch nicht der einzige Grund, denn militärisch ist Israel in der Lage, beide iranischen Stellvertreter zu besiegen. Um die Hamas zu zerstören, müsste Israel wieder den Status einer Besatzungsmacht für den Gazastreifen einnehmen oder im Voraus sicherstellen, dass eine multinationale Truppe zur Verfügung steht, die in der Lage ist, die Verantwortung für den Gazastreifen zu übernehmen. Eine solche Truppe wird es in nächster Zeit wahrscheinlich nicht geben. Eine einseitige israelische Besetzung des Gazastreifens ist zwar möglich, würde aber wirtschaftlich, diplomatisch und in der öffentlichen Meinung einen unerschwinglichen Preis fordern.

Und doch scheint die Psychoanalyse in der ›Islamischen Republik Iran‹ sowie das internationale Interesse an ihr, vor allem innerhalb der lacanianisch orientierten Psychoanalyse, zu erstarken, wie mehrere Publikationen aus den letzten Jahren zeigen. Einen Anstoß hierfür dürfte das 2012 erschienene Buch Doing Psychoanalysis in Tehran der im Iran geborenen, in Kanada aufgewachsenen und in den USA ausgebildeten Psychoanalytikerin Gohar Homayounpour gegeben haben, in dem sie ihre Erfahrungen der beruflichen Rückkehr in ihr Geburtsland und aus der in Teheran eröffneten Privatpraxis schildert. Das Titelbild zeigt ein elegantes Praxisinterieur im Bauhausstil mit Fensterblick auf einen Teheraner Vorort, der Einband ein Bild der auf ihrer Analysecouch sitzenden Autorin mit einem locker um den Kopf geschlungenen Shawl. Titel und Optik scheinen bereits anzudeuten, was die im Klappentext des Buches zitierten Testimonials versprechen: Dass hier der »Iran auf die Couch gelegt« werde (Rubén Gallo). Rezensionen in einschlägigen Fachzeitschriften äußern sich durchgängig positiv über Homayounpours Ausführungen. Eine expansive Erfolgsgeschichte: So fand zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Buches, unter der Schirmherrschaft von Homayounpours »Freudian Group of Tehran«, der internationale psychoanalytische Kongress »Geographies of Psychoanalysis. Encounters between Cultures« in Teheran statt. Hat sich also die historische Bindung der Psychoanalyse an die ›westliche‹ Autonomie der Einzelnen, an ›westliche‹ Staatsform und Bürgertum als bislang naiv verkannte Scheinkorrelation entpuppt? Und kann die Expansion der Psychoanalyse in den Mittleren Osten als Siegeszug ihres aufklärerischen Impetus, gar als kritischer Funke im Dunkel der theokratischen Despotie in Ländern wie dem Iran verstanden werden?

War Victor Adler damals sichtbar bemüht, die Choleraepidemie von 1892 und den Versuch ihrer Eindämmung innerhalb des Verhältnisses von Staat und Kapital zu deuten, findet man bei den Kritikern der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie heute davon in der Regel keine Spur. Stattdessen wird unter Verweis auf Michel Foucault, Carl Schmitt und Giorgio Agamben über den Ausnahmezustand geschrieben, als habe es nie eine Kritik der politischen Ökonomie gegeben. So kommt es dann auch, dass die sozialen Auswirkungen der staatlichen Pandemiebekämpfung in solchen Texten nicht selten nur Randnotizen bilden, obwohl gerade in dieser Hinsicht vieles skandalös war und auch weiterhin ist. Die Aufarbeitung all dessen scheint für die Staatskritiker vom Schlage Agambens kaum von Interesse zu sein. Das liegt indes nicht allein daran, dass dergleichen detailreich und daher mühsam ist, was im Übrigen auch für die Frage gilt, wie umfassend die oft behauptete Präzedenzlosigkeit der Einschränkung oder gar Aufhebung der bürgerlichen Grundrechte im Einzelnen und je nach Land tatsächlich war. Das Desinteresse für die mit der Seuche »in voller Deutlichkeit« hervortretenden sozialen Zustände der Gesellschaft, »die sie längst kennt, aber vor denen sie gewaltsam die Augen zu schliessen gewohnt ist« (Victor Adler), ist durchaus systematisch und konsequent.

Stolz behauptet Xi, dass das autoritäre Vorgehen Chinas bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie – die nicht zuletzt aufgrund der anfänglichen Vertuschungsstrategie der KPCh zu einer solchen wurde – die Überlegenheit des chinesischen Regierungssystems international unter Beweis gestellt habe. Noch will ihm die Weltöffentlichkeit das nicht so recht glauben, doch die »Resistenzkraft des Rechts« (Horkheimer), wie sie sich im Westen trotz Rechtspopulismus und postmoderner Identitätspolitik nach wie vor erhält, ist prinzipiell jederzeit und spätestens bei der nächsten großen Weltwirtschaftskrise sistierbar. So können die Antiimperialisten im Westen, die sich heutzutage zumeist Antirassisten nennen, den endgültigen Niedergang des US-Hegemons kaum erwarten, an dem sie innenpolitisch in Form von radikalisierten Black Lives Matter-Protesten fleißig mitarbeiten. Meinungsumfragen in Deutschland, die insbesondere unter den jüngeren Befragten mittlerweile knapp 50 Prozent Zustimmungswerte für eine Abkehr vom transatlantischen Bündnis und für eine stärkere Orientierung in Richtung China ergeben, sind angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Unfähigkeit, Residuen von Freiheit überhaupt noch als solche zu erkennen, geschweige denn zu verteidigen, ebenso ernst zu nehmen.

Für Israel bedeutet der chinesisch-iranische Pakt einen strategischen Wendepunkt. Das Abkommen hat aus israelischer Sicht zwei unmittelbare Auswirkungen. Die erste ist operationell: Irans neue Allianz mit China wird ihm neue Optionen für die Entwicklung von Atomwaffen bieten. China ist schließlich kein Unbekannter in der nuklearen Proliferation; es spielte eine zentrale Rolle im pakistanischen Atomwaffenprogramm. Und was Nordkorea betrifft, so wurde dessen Atomwaffenprogramm durch China zumindest erleichtert, indem es wirksame internationale Maßnahmen verhinderte, um Nordkoreas Wettlauf um die Bombe zu stoppen. Die Möglichkeit, dass China den Iran bald aktiv darin unterstützt, Atomwaffen zu erhalten, macht die fortdauernden und sich ausweitenden ungeklärten Explosionen in iranischen Nuklearkraftanlagen und anderen strategischen Einrichtungen zu einer Angelegenheit von höchster Dringlichkeit. Einige Berichte der iranischen Opposition über das iranisch-chinesische Abkommen behaupten, der Iran habe der dauerhaften Stationierung chinesischer Streitkräfte auf seinem Territorium zugestimmt. Wenn diese Berichte stimmen, bedeutet dies, dass die chinesischen Kräfte zu einem Stolperdraht werden können: denn jeder mögliche Angriff auf die strategischen Einrichtungen des Iran könnten dann einen viel umfassenderen Krieg auslösen, in den China direkt verwickelt wäre und zwar kämpfend im Interesse des iranischen Regimes.

Nach dem ersten Angriff auf die Synagoge und das Gemeindezentrum gab Rosen der Wiener Zeitung ein Interview, in dem er seine Einschätzung zum Umfeld, aus dem der Täter gekommen sein mag, deutlich machte: »Die Parolen waren pro-palästinensisch. Es stand ›free palestine‹, falsch geschrieben, aber erkennbar … Das ist nicht rechtsradikal. Wir haben es in Graz verstärkt mit einem linken und anti-israelischen Antisemitismus zu tun. Das können wir klar feststellen. Es war nicht völkisch.« Obgleich er nach dem Angriff auf seine Person in einem Statement auf Facebook erklärte, dass es ihm »gleichgültig ist, von welcher Seite Antisemitismus kommt: von links, von rechts, von oben oder von unten«, machten Linke, die sich gerne auch als israelsolidarisch bezeichnen, im Web Stimmung gegen Rosen und forderten sogar ein, dass er sich öffentlich dafür zu entschuldigen habe, der Öffentlichkeit suggeriert zu haben, ein Linker sei für die Verunstaltung der Synagoge verantwortlich gewesen. Obwohl Rosen so etwas nie behauptet, sondern nur richtigerweise feststellt hatte, dass es in Graz ein Problem mit linkem Antisemitismus gibt, war insbesondere der Aufruhr im Kreis der linken Szenegröße Thomas Schmidinger enorm. Im Eiltempo forderte man hier von Elie Rosen immer neue Entschuldigungen, während man enttäuscht erklärte, dass Rosen bloß ein »türkis eingefärbter religiöser Funktionär« sei (türkis ist die Farbe der Neuen Volkspartei von Bundeskanzler Kurz) – und nicht ein ewig dankbarer Schutzjude der israelsolidarischen Linken, wie man es sich wohl gewünscht hatte. Dass Rosen bei seiner Einschätzung der Gefahren für die jüdische Gemeinde, der er vorsteht, auf die Befindlichkeiten der Linken keine Rücksicht nahm, sondern diese Gefahren offen benannte, das wollen ihm diejenigen nicht verzeihen, denen – Israelsolidarität hin oder her – im Zweifelsfall der Ruf der Linken doch wichtiger ist als die Kritik antisemitischer Gewalt und des Umfelds, dem sie entspringt, in dem sie sich zuträgt und zum Anlass für antisemitische Agitation genommen wird, wie von der Steirischen Friedensplattform dann auch prompt vorgeführt.

1949 zog Memmi die tunesische Unabhängigkeitsbewegung zurück in sein Heimatland, vom Universalisten wurde er graduell zum tunesischen Nationalisten und zum Mitbegründer des Magazins Jeune Afrique, dessen Kulturrubrik er mehrere Jahre redigierte. Doch seine Liebe für sein Heimatland wurde nicht erwidert. Nach der Unabhängigkeit 1956 wurde sehr bald der Islam offizielle Staatsreligion, das Erziehungssystem arabisiert und man ließ die Juden wissen, dass sie nicht erwünscht waren. Obwohl »wir da waren vor dem Christentum, und lange vor dem Islam« protestierte Memmi, wurden sie nicht als echte Tunesier betrachtet. Im neuen Staat machte eine Serie von antijüdischen Verordnungen den armen Juden die Existenz fast unmöglich. Memmis Hoffnungen auf eine laizistische, multikulturelle Republik gleicher Bürger wurden zerstört. Das hat ihn tief verwundet: »Der Grund, dachten wir, ist fest, doch er wurde uns unter den Füßen weggezogen.« Er brachte es so auf den Punkt: »[Tunesiens Präsident] Burgiba war vielleicht niemals judenfeindlich, aber seine Polizei kam immer zu spät, wenn die Geschäfte der Juden geplündert wurden.« Memmi und andere jüdische Intellektuelle mussten erkennen, dass sie sich geirrt hatten und die einfachen, zumeist religiösen Juden, die wenig Vertrauen in ihre muslimischen Nachbarn aufbrachten, Recht behalten sollten. Der Fehler der Intellektuellen, argumentierte er, war ihr Beharren darauf, dass sie nur Tunesier seien und ihr Vertrauen, dass ihre muslimischen Mitbürger sie als solche anerkennen werden.

Und wenn wir nun versuchen, alles was im Verhältnis von Individuum als Körper, Leib, Bedürfnis einerseits und juristischer Person, als im individuellen Menschen präsenten ›allgemeinen Menschen‹ zu bedenken, dann kommen wir auf die grundlegende und basale Bestimmungen dessen, was Rassismus und Antisemitismus ist und wie der, in dem konkreten, einzelnen Individuum steckende, abstrakt-allgemeine Mensch (das kapitaltaugliche Individuum) – die Gattung, die sowieso schon gespalten ist in Herrscher und Ausgebeutete – sich auf eine verschobene Weise noch einmal spaltet in Untermenschen und Übermenschen: in rassistisch zu Bekämpfende und antisemitisch zu Ermordende, um so eine Identität zu erkämpfen, die in der juristischen Form des Subjekts versprochen und erzwungen ist, obwohl sie in dieser Form in keiner Weise produziert, oder garantiert werden kann. Es ist klar: die juristische Person im Subjekt ist die Unterstellung einer Identität in einem Körper, der selber naturverfallen, launisch, bösartig und schläfrig ist, aber es gibt Leute, die kaufen sich heute einen Porsche, um anzugeben zu wollen, und morgen wollen sie dafür nicht mehr zahlen, doch das geht nicht, denn es wird verlangt, dass die Raten über fünf Jahre bezahlt werden müssen, über fünf Jahre muss sich identisch geblieben werden, weil: Vertrag ist Vertrag und Pacta sunt servanda, und über den Pacta thront der Staat, der gewaltförmige Souverän als die Garantiemacht aller Verträge. Es wird also Identität unterstellt, erzwungen, gefordert, durch die juristische Form des Vertrages, die die Form, so wie an deren Oberfläche des Marktes, das Kaufen und Verkaufen, Aneignen und Enteignen sich vollzieht; als die Form, die der Kapitalprozess auf der Oberfläche annimmt. Das Privateigentum als dinglicher Besitz verspricht eine Identität, die die Kapitalakkumulation als ewiger Selbstbezug unmöglich garantieren kann.

Schönheit in Deutschland ist, moralische Überlegenheit zu demonstrieren gegenüber den Opfern und deren Nachkommen. Der Fall war so: Das Zentrum für politische Schönheit hat eine Säule gegenüber des Bundestagsgebäudes in Berlin aufgestellt, um gegen die CDU und deren vermeintliche Unterstützung der AfD zu protestieren. Die Annahme dahinter war, dass so, wie die Konservativen der Weimarer Republik die Steigbügelhalter der Nazis waren, heute die CDU der Steigbügelhalter eines neuen Faschismus sei. So weit, so falsch. Um Aufmerksamkeit für ihre Aktion zu erzeugen, buddelten die Aktivisten vom Zentrum für politische Schönheit in den Resten deutscher Vernichtungslager in Polen, beziehungsweise in nahegelegenen Massengräbern, menschliche Überreste aus, um damit ihre Säule zu befüllen. Im Judentum ist es ein Tabu, die Totenruhe zu stören. Das wussten die Aktivisten im Vorfeld auch. Sie waren nicht einfach ignorant, sie wollten die Provokation. Und tatsächlich gab es großes Entsetzen über die Enthüllung der Säule, vor allem von Juden in Deutschland und in Israel. Das Entsetzen war so groß, dass die Aktivisten den Inhalt der Säule schließlich entfernten. Sie wussten nur nicht wohin. Das hatten sie sich nicht überlegt. Am Ende nahm sich die orthodoxe Rabbinerkonferenz der menschlichen Überreste an, um sie wieder zu bestatten. Das Zentrum für Politische Schönheit hat damit die AfD eindeutig übertrumpft. Die AfD hat, im Gegensatz zum Zentrum für politische Schönheit, die Asche der Toten (noch) nicht an ihren Händen.

Die Verwandlung der Shoah in den Gründungsmythos Holocaust führt so zu ihrer Entwirklichung zu einem Symbol allgemein-menschlichen Unrechts, das mit jedem Unrecht assoziiert werden kann. Wenn aber jeder seine persönliche Geschichte, auch wenn diese nichts mit dem konkreten Ereignis zu tun hat, auf die Ermordung der europäischen Juden projizieren können soll, dann ist jedes Beharren auf den historischen Tatsachen und jedes Zurückweisen von unangemessenen Vergleichen eine Störung des öffentlichen Friedens. Auch die mit der Mythologisierung des Holocaust einhergehende Universalisierung führt zu seiner Derealisierung. Die Verwandlung der Juden zu Platzhaltern für all jene, denen Gewalt und Unrecht angetan wurde und wird, schneidet das historische Ereignis der Shoah von ihren konkreten Ursachen ab. Sie wird dem geschichtlichen Kontinuum enthoben und für die gegenwärtigen Bedürfnisse funktionalisiert. Folgerichtig verallgemeinert Assmann auch den Antisemitismus zu einer »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« (Wilhelm Heitmeyer). Der spezifische Hass auf die Juden als Juden gilt ihr nur noch als ein variables Signalmuster: »Unter neuen historischen Bedingungen kann ein Signalmuster wieder aufleben, das sich nun von Juden auf andere ethnische und soziale Minderheiten verlagert.« Wer hiernach etwa auf den Antisemitismus von Einwanderern oder Muslimen verweist, stellt für Assmann eine Bedrohung für den Erinnerungskonsens der multikulturellen Gesellschaft dar.

Die Frage, die Mbembe schon in seinem Essay Israel, die Juden und wir von 1992 stellte – wie aus den ›Opfern von gestern‹ die ›Verfolger von heute‹ geworden sein können, die den »krankhaften Willen zum Nichts« des Holocaust verinnerlicht und so den »Platz der Mörder« eingenommen hätten –, findet hier eine Antwort. Insofern das »Transzendente« der von Israel instituierten ›Opferreligion‹ – anders als im palästinensischen Märtyrertum – niemals im »eigenen Tode gegründet ist, muss es der Opfertod von jemand anderem sein, durch welches das Heilige sich etabliert.« In der Behauptung, die Israelis würden die Palästinenser ihrem vergöttlichten Allgemeinwesen zum Opfer bringen, unterstellt Mbembe dem jüdischen Staat nicht nur die Wiedereinführung des Menschenopfers, welches das Judentum historisch abgeschafft hatte, sondern liefert auch eine Neuauflage der klassischen Ritualmordlegenden. Wie schon in Necropolitics nimmt Mbembe auch hier wieder die Unterscheidung zwischen Südafrika und Israel vor: Während es ersterem mit der Einrichtung einer Versöhnungskommission nach der Überwindung der Apartheid gelungen sei, der Gefahr der Errichtung eines solchen Opferfetischs zu entgehen, habe letzteres – von der Erfahrung der Judenvernichtung getrieben, die es zu seinem nationalen und damit partikularen Narrativ gemacht habe – solch eine Opferreligion, die zugleich auch eine Opferökonomie darstelle, aufgerichtet: »Jene Staaten«, so beschließt Mbembe den Gedanken, »die sich hauptsächlich als Opfersubjekte definieren, erweisen sich allzu oft als von Hass erfüllte Subjekte, das heißt als Subjekte, die niemals aufhören können, den Tod zu mimen, indem sie andere opfern und ihnen all jene Grausamkeiten zufügen, welche sie einst selbst als Sühneopfer zu erleiden hatten.«

Genau an dieser Stelle setzt – und das macht die Sache jetzt außerordentlich gefährlich – nicht etwa die Analyse ein: wie erkläre ich dieses Grauen, woher rührt es, wie komme ich an das heran, was es erzeugt? Sondern umgekehrt, hier, genau an dieser Stelle, setzt die Faszination ein: dieses Grauen bekommt eine Sogwirkung wie nur je irgendeine Bewegung, die mich als Subjekt in sich aufgehen läßt und mir damit plötzlich die Faszination zeigt, subjektlos zu werden, indem sie mir die Subjektlast abnimmt. Dieses Grauen arbeitet mit Versatzstücken der uralten Geschlechtermythologie, was ebenfalls alle einschlägigen Filme und Horrorgeschichten lehren, und dieses Grauen geht über die Stellen, an denen es direkt zubereitet wird, hinaus in eine allgemeine, die Gesellschaft unserer –westlichen – Welt öffentlich überdeckende Katastrophenfaszination. Das zeigt sich in der Verwandlung des Lebens in Ereignisketten, in der Massenpresse, die eine Katastrophenberichterstattung ist, aber nicht Berichterstattung, sondern eigentlich Evokation bedeutet, bis hin zu einer dieses alles als halb mythologisch, halb ontologisch legitimierenden Ereignisphilosophie.

Da sehe ich die große Gefahr. Nicht in der Wiederaufwärmung, sondern darin, daß das nicht eigentlich Wiederaufwärmbare – weil es eine andere Qualität der Bedrohung ist, der man sich in dieser Mythen-Wiederaneignung nicht stellt – eben nicht diesen widerspruchsvoll-mythologischen Charakter behält, sondern als faszinierendes, als lustbereitendes, als sozusagen großes mythologisches Speisesakrament genossen wird. Das ist der Punkt, an dem ich finde, daß es für eine Aufklärung heute wichtig ist, sich über Mythenfaszination zu unterhalten.

Doch auch wenn Strauß es gerne hätte, lässt sich heutzutage ebenso wenig mit einem metaphysisch grundierten Gestus schreiben, ohne in plumpen Ästhetizismus und damit letztlich in Kitsch zu verfallen wie zu Zeiten seines literarischen Vorbilds Jünger. Während etwa in dessen Frühwerk die sprachlichen Naturalisierungen der als eine ebensolche Naturgewalt erlebten Kriegsgeschehen des Ersten Weltkriegs als ästhetisierender Reflex auf »die Sprachlosigkeit des Frontsoldaten angesichts der Inkommensurabilität des Krieges«, auf die subjektive Überwältigung durch die als naturhaft wahrgenommene schiere Übermacht eines in dieser Form noch nie Dagewesenen zu kritisieren sind, besitzen Strauß’ sprachliche Konstruktionen, mit denen er Alltagsbanalitäten wie Fleisch essen oder Rasieren zu existenziellen Erfahrungen zu stilisieren versucht, unweigerlich einen faden (wenn auch im Vergleich zu Jünger ungleich harmloseren) Beigeschmack von Kitsch. Die Entzauberung der Welt, vor der Jünger warnte, ist bereits so unwiederbringlich und vollumfänglich geschehen, dass jeder Versuch ihrer Wiederverzauberung durch Mystifizierung des Profanen in einer von Magie beseelten Sprache notwendigerweise genauso zum Scheitern verurteilt ist, wie des Protagonisten Suche nach sinnlicher Gewissheit. Die hieraus entspringende Angst, die Strauß’ Erzähler umtreibt, ist von der Jüngers daher grundlegend verschieden, wenngleich auch am Ende das selbe Resultat steht: Unwahrheit und Kitsch in Form und Sprache.

Ähnlich wie Rosa Luxemburg setzte Eisner im Gegensatz zu vielen Revolutionären auf eine Verbindung des Rätegedankens mit einer parlamentarischen Demokratie. Trotz des moderaten Kurses sah er sich mit Beginn seiner Regierung einer kontinuierlichen antisemitischen Hetze von Konterrevolutionären ausgesetzt. Er wurde als galizischer Jude denunziert, der eigentlich Salomon Kosmanowsky heiße und unwürdig für den Posten des Ministerpräsidenten sei. Im Bayrischen Kurier, dem Presseorgan der Bayrischen Volkspartei kolportierte man, in den Büros der neuen Gewalt wimmele es von Jüdinnen und Juden. Bereits am 8. November 1918 notierte er im Tagebuch: »München wie Bayern, regiert von jüdischen Literaten. Wie lange wird es sich das gefallen lassen?« Besonderen Hass zog Eisner bei Rechten, die die Dolchstoßlegende propagierten, auf sich; wegen seiner Anerkennung der deutschen Schuld am Weltkrieg. Der bescheiden im kleinbürgerlichen Vorort Großhadern lebende USPD-Politiker war für viele »ein preußischer Rothschild und ein bayrischer Trotzki in einer Person«. Adolf Hitler, der zu dieser Zeit in München lebte, resümierte ein paar Jahre später in Mein Kampf: »Jedenfalls begann im Winter 1918/19 so etwas wie Antisemitismus langsam Wurzel zu fassen.«

Dagegen hat Freud mit dem Triebbegriff immer an der Natur als einem Stück Unverfügbarkeit im Menschen festgehalten, woraus einerseits seine pessimistisch-bescheidene Hoffnung auf das Vermögen von Erziehung, Vernunft und Zivilisation und andererseits die Reflexion auf jene Kraft, die sich im Innern des Individuums gegen die Zumutungen der äusseren Zurichtung wehrt, folgten. Der Widerstand des Es bedeutet daher in der Psychoanalyse zweierlei: Einerseits gegen eine dem Unbewussten unliebsamen Angriff auf mit viel Aufwand verdrängte Stoffe, andererseits die bedürftige Natur, die sich zur Wehr setzt, dort, wo die Bedürftigkeit zerschlagen werden soll. Anders gesagt: Das ES wehrt sich in beiden Fällen gegen die janusköpfige Vernunft, die aufklärt und zerschlägt. Das freudsche ES ist das Objekt, an dem sich die Dialektik der Aufklärung über sich selber aufklären kann. … Die Unfähigkeit, Abweichung und Widersprüchlichkeit in sozialen Beziehungen zu denken, ist in psychologischen Deutungssystemen regelmässig dort zu besichtigen, wo die Triebtheorie abgelehnt wird. Und angesichts von Abweichung droht die idealisiert-harmonische Anthropologie regelmässig ins Schwarze zu kippen. So zu beobachten schon früh beim ehemaligen Freudschüler Alfred Adler, der mit seiner Individualpsychologie, die ja eine beliebte Gemeinschaftspsychologie ist und gerade im pädagogischen Milieu zum Teil bis heute einen guten Ruf geniesst. Adler, der Freud ob seines abwertenden Menschenbildes kritisiert, schreibt: «Neurotiker, Psychotiker, Verbrecher, Alkoholiker, schwer erziehbare Kinder, Selbstmörder, Perverse und Prostituierte sind Versager, weil es ihnen an Gemeinschaftsgefühl fehlt.» Dagegen geniessen die Neurotiker bei Freud ja geradezu einen exzellenten Ruf: «Die Neurose ist eine Krankheit – eine medizinische Angelegenheit, – doch ist sie auch eine Angelegenheit der Zivilisation – eine moralische Angelegenheit – die eigenartige Quelle der Energie der modernen Menschen. Schon Breuer wies auf die Lebendigkeit, die Neugierde und die Intelligenz der Hysteriker hin. Die Neurose ist der Preis dafür. Sie ist somit eine Erfahrung, aus der wir etwas lernen können. Die Neurose ist für Freud zugleich Fehler und Bedingung der Zivilisation.», so Alain Ehrenberg über Freuds Verhältnis zur Neurose.

Die als Destruktionstrieb gegen das eigene Ich gerichtete Selbsterhaltung ist eine solche Gefahr, dass eben jene Wünsche und Teile des Ichs, die sich ihrem Hass aussetzen, abgespalten, projiziert und im Gegner bekämpft und vernichtet werden müssen. Da aber der Wunsch immer im Individuum selbst liegt, auch dort wo er projiziert ist, ist seine eigene Vernichtung schon mit einkalkuliert. Im Selbstmordattentäter findet der Islam, der die totale Herrschaft schon im Namen trägt, seinen extremsten Ausdruck, sein Zweck ist die restlose Liquidation von Subjekt und Objekt. Die Islamische Republik Iran, die auf staatlicher Ebene demselben Prinzip folgt und Israel mit der atomaren Vernichtung droht, will gleichermaßen deren endgültige Auslöschung – und wenn sie selbst daran zugrunde geht. Es bleibt also offen, ob Freud nicht doch recht behält mit seiner pessimistischen Bestimmung, dass alles Leben nur den Tod zum Ziel habe.

Heteronormativität

»Wer gewohnt ist, mit den Ohren zu denken, der muß am Klang des Wortes Kulturkritik sich ärgern nicht darum bloß, weil es, wie das Automobil, aus Latein und Griechisch zusammengestückt ist.« Doch ist die Kulturkritik, an deren Klang Adorno sich ärgerte, noch lange nicht das Abwegigste, was je aus Latein und Griechisch zusammengestückt wurde. Hören Sie mal her: »Das diskursiv konstruierte Geschlecht wird an die Heteronormativität angekoppelt«, und das macht gewiß noch weniger Freude als irgend Sinn. Doch seien Sie versichert: »In den queeren interdisziplinären Ansätzen wurde die diskurstheoretische Richtung anschließend an die Heteronormativitätskritik fruchtbar weitergeführt.« Fruchtbarkeit ist ja gottlob nicht an den sexuellen Verkehr von Frau und Mann angekoppelt, sondern kann in →Ansätzen auch vegetativ, jedenfalls →diskursiv →konstruiert und immer weitergeführt werden.

Der verschobene Plotpoint der Schirachschen Dramaturgie besteht aber darin, dass am Ende der fiktiven Diskussionen im Publikum real darüber abgestimmt wird, wer recht hätte beziehungsweise der Sieger wäre  – in diesem Fall also darüber, ob der ärztlich assistierte Suizid, wie ihn sich Herr Gärtner wünscht, ermöglicht werden sollte. … Dieser ›Gimmick‹, mit dem Schirach das Publikum anlockt, tut offenbar im Kulturbetrieb seine Wirkung, wie auch der Rezensent der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erstaunt feststellt: Durch das Stück Terror wurde der Autor in Deutschland zum meistgespielten Dramatiker, und Gott »brachte es im Corona-Jahr 2020 in nicht einmal zwei Monaten auf 99 Aufführungen an acht Theatern«.  Die Gründe dafür sind in einer schlichten, gegen die Moderne gerichteten Dramaturgie zu suchen, die sich gerade darin als raffiniert erweist, dass sie auch den ideologischen Bedürfnissen des heutigen Theaterpublikums in Deutschland sehr entgegenkommt. Während traditionell der Schluss einer Tragödie als deren neuralgische Stelle erscheint, der Punkt, an dem der Autor nicht selten Farbe zu bekennen sich herausgefordert sieht, um die Frage zu beantworten, wie er es denn nun mit dem Staat halte, nimmt sich Schirach genau hier, am Ende seiner Stücke, als Souverän des Textes scheinbar zurück und verkündet in Brecht’scher Manier: Verehrtes Publikum, los, such’ dir selbst den Schluss – den er ihm aber längst eingeflüstert hat.  Die Form ist auch dabei der niedergeschlagene Inhalt, denn der entpuppt sich als Verdrängung des Souveräns. Nur ist es eben keine ästhetische, wie sie Hegels Dialektik beschwört, sondern eine kulturindustrielle, der allein die Einsichten aus der Dialektik der Aufklärung gerecht werden können.

Weil das so ist, wird und kann der Staat das im Patentrecht normierte Recht am geistigen Eigentum nur zum Schutz der nationalen Gesundheit und Sicherheit und nur in der Weise lockern, dass dabei die »Wertgarantie des Eigentums« am gewerblichen Schutzrecht nicht verletzt wird. Aufgrund der Beschränkung seiner Souveränität auf das Staatsgebiet und wegen der Konkurrenz der Staaten untereinander geht ihn außerhalb der Staatsgrenzen noch nicht einmal die Volksgesundheit etwas an. Warum das gar nicht anders sein kann, zeigt die von Marx begründete Kritik der politischen Ökonomie, die als Kritik der politischen Ökonomie die Kritik des Staates als Form einschließt. Staatskritik in diesem Verständnis unterscheidet sich als Formkritik von der am jeweiligen politischen Inhalt orientierten bloßen Beanstandung des zwischen Liberalismus und Keynesianismus oszillierenden und in sich antinomischen Staatshandelns auch dann ums Ganze, wenn der Keynesianismus »bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« (IfSG) wieder einmal Konjunktur hat.

Biden ist gewillt, Obamas desaströses Iran-Atomabkommen wiederzubeleben. Und trotz angeblicher Konsultationen mit Jerusalem über Versuche, Verhandlungen mit Teheran zu beginnen, zeigt sich die Administration entschlossen, legitime Bedenken ihrer engsten Freunde und der einzigen Demokratie in der Region zu ignorieren. Bidens Team reagiert auf eine starrsinnige Weise gleichgültig gegenüber Ratschlägen, die auf den Aberwitz hinweisen, zu einem Pakt zurückzukehren, der am Ende des Jahrzehnts ausläuft und dem islamistischen Regime die Freiheit lässt, sein Streben nach Atomwaffen wieder aufzunehmen, während er nichts enthält, was das illegale Raketenprogramm und die Unterstützung des Terrorismus verhinderte.

Die Gesellschaft wird in Teile zerlegt und diese sind mit den Farbstiften der Intersektionalität identitätspolitisch zu markieren, mittlerweile farblich nuancierter durch die »multidirektionale Erinnerung« (Rothberg). Die roten Sektionschefs können sich dann bei Vergabe von Subventionen und Projektgeldern danach richten. Soweit verläuft alles in sozialdemokratischen Bahnen – und führt weit weg von radikaler Kritik, der es im gleichen Maß um die Einheit gehen muss wie um die Teile selber. Für solche Teile, die sich zur deutschen »Mehrheitsgesellschaft« addieren lassen, sobald umgekehrt die jüdische Bevölkerung und andere Opfergruppen zu den Minderheiten gezählt werden, mag an sich die Bezeichnung ›Menschen mit Nazihintergrund‹ durchaus treffend sein (ungefähr so wie Götz Alys Volksstaat-Buch), nährt allerdings auf der anderen Seite auch einen gewissen nationalen Sündenstolz. Vor allem aber wird dabei nahegelegt, dass mit der Arisierung – in Analogie zur Kolonialisierung – das ganze Wesen des Nationalsozialismus auf den Begriff gebracht wäre. Genau so unterläuft aber die postcolonial theory – die auch für die Juden eine eigene Sektion vorsehen mag, allerdings nur als Minderheit in der Diaspora – nun sogar am Gegenstand des Nazierbes, was antideutsche Kritik einmal als Postnazismus bestimmt hat. Denn wird – wie in dieser Kritik – die Arisierung als eine von mehreren Phasen im Prozess der Vernichtung der Juden begriffen, der keinerlei kolonisierenden Zweck weil überhaupt keinen Zweck hatte, dann heißt das für die Einheit, die aus diesem Vernichtungsprozess hervorging, etwas ganz Bestimmtes, das postcolonial theory zu leugnen geradezu erfunden worden ist: Durchs Kapitalverhältnis konstituiert besitzt die Einheit nicht anders als vor der Shoah ein entsprechendes Potential, die Vernichtung erneut in Gang zu setzen – nur dass dieses Potential unter den neuen, vom Sieg der Alliierten über Nazideutschland geschaffenen Bedingungen nicht unbedingt dessen Nachfolgestaaten vorbehalten bleibt. Sein erweitertes ›Einzugsgebiet‹ nimmt jetzt vielmehr im Verhältnis zum jüdischen Staat Gestalt an, am konkretesten und gefährlichsten im derzeitigen Regime des Iran.

Wie kann es sein, dass dieses so oft als Fälschung enttarnte Machwerk nicht nur bis heute als Grundbuch des Antisemitismus, wie auch, natürlicherweise, der Konterrevolution gegen Israel wirkt, sondern dass es im Nazifaschismus zum Grundgesetz erhoben, das heißt der Judenhass zur Staatsräson, zum Inhalt und zum Wesen der politischen Souveränität wurde? Die Frage ist also die nach dem überaus intrikaten Verhältnis von Lüge und Ideologie; das heißt die Frage nach dem Grund dessen, dass die so harmlos freundlichen Aufklärungsversuche der liberalen Antisemitismusbeforschung systematisch nicht nur ins Leere gehen müssen, dass sie vielmehr den Antisemitismus, den sie als Lüge entlarven wollen, doch als Meinung hofieren und ihm somit als Ideologie stets neues Futter geben. Wolfgang Benz – ich erspare mir weitere Bemerkungen über diese traurige Gestalt – ist ja ein Paradeexemplar eben dieser liberalen Antisemitismusbeforschung. Und wenn er nun eine Broschüre veröffentlicht, Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung, dann heißt es eben hier, dass die Protokolle das Orientierungsbedürfnis in einer zunehmend unübersichtlicheren und immer stets komplexer werdenden Gesellschaft befriedigen, dass hier also eine »wahnhafte Konstruktion« gegeben wird, ein »Mythos«, ein »Konstrukt« und dann kommt noch das Wort, es sei ein »Diskurs«. – Das Wort »Diskurs« muss man ja eher postmodern französisch vor sich hin flöten, damit es auch richtig süffig wird. Also es werden Gründe genannt, dass hier eine Art Reduktion gesellschaftlicher Komplexität stattfinde, es wird nicht – mit guter Absicht nicht – auf dieses Rätsel der im Kapital inkarnierten gesellschaftlichen Synthesis rekurriert. Und so ist diese Literatur im Großen und Ganzen einfach nur Müll und das Einzige, was von dieser Literatur kein Müll ist, ist das Buch von Alexander Stein Adolf Hitler, Schüler der »Weisen von Zion«.

Seit einiger Zeit schmückt sich die andalusische Stadt Córdoba nicht nur mit Denkmälern ihrer ›großen Söhne‹ Seneca, Averroes und Maimonides, sondern auch mit einem Monument für Roger Garaudy. 1987 hatte man ihm bzw. seiner Stiftung, der Fondación Roger Garaudy, den ganzen Torre de la Calahorra – einen imposanten Wehrturm aus dem 12. Jahrhundert, an der alten, ursprünglich römischen Brücke gelegen – für sein Museo Vivo de Al-Andalus zur Verfügung gestellt. … Garaudy war 1998 wegen Leugnung des Holocausts, rassistischer Verleumdung und Anstachelung zum Rassenhass zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten und Zahlung von 160 000 Francs verurteilt worden, wobei man sich auf das Buch Les Mythes fondateurs de la politique israélienne bezogen hatte.  Nicht zuletzt aufgrund dieser Verurteilung avancierte er noch im selben Jahr zu einem Star in der arabischen Welt, geehrt an Universitäten und bejubelt bei Großveranstaltungen unter anderem in Ägypten und Jordanien. Es zeigt jedoch, welche politische Macht heute die kontinuierlichste und wirksamste Stütze der Holocaustleugnung ist, dass Garaudy damals schon von jenem obersten geistlichen Führer des Regimes in Teheran empfangen worden ist, der zwanzig Jahre später nicht vergisst, seiner anlässlich des Jahrestags jenes Urteils in mehreren Tweets (z. B. unter dem Hashtag #FreedomOfSpeech) zu gedenken und dabei Garaudys »Mut« und »Unermüdlichkeit« zu preisen.

Tatsächlich erscheint die neuentdeckte Liebe zu Israel, die diese sogenannten Souveränisten oder Rechtspopulisten zur Schau tragen, nur wie eine innenpolitische Parodie auf die geopolitische Konstellation, in die der Judenhass sich verschoben hat: Israel gilt ihnen als eine Art Vorbild für Souveränität, aber zu dem Zweck, etwas Bestimmtes auszublenden: dass Souveränität – wie gerade Leo Elser deutlich machen kann – die andere Seite des Weltmarkts ist und auch nur sein kann. Der Zerfall dieser Einheit liegt wie der antisemitische Vernichtungswahn in der Natur der Sache, also des Kapitals, denn diese Einheit treibt die Krise aus sich selbst immer neu hervor. Den Staat der Juden – dazu geschaffen, dass der Wahn sein Ziel nicht mehr erreicht – zum Musterstaat zu erklären, ist gleichsam das Tüpfelchen auf dem i bei dem ideologischen Manöver, die Gesetzmäßigkeit der Krise zu leugnen, um Souveränität als konkrete Alternative zum Weltmarkt und ›Globalisten‹ als etwas wie den Gegensouverän zu phantasieren. Ohne Weltmarkt ist Souveränität nur ein anderer Begriff für ungebrochene Racketherrschaft. Es kennzeichnet darum die Liebe zu Israel als Projektion eines idealen Souveräns, die gerade die Weltmarktbeziehungen des realen jüdischen Souveräns ignorieren muss, dass sie innenpolitisch eingesetzt werden kann (wo sie sich vor allem gegen die Linke richtet), während sie außenpolitisch zu nichts verpflichtet, was sich an ihrer Übereinstimmung mit dem Appeasement der EU gegenüber der Islamischen Racket-Republik Iran zeigt. Und so tritt – wie bei den White Supremacists in den USA – der Antisemitismus regelmäßig an bestimmten Enttäuschungen über die Außenpolitik der Trump-Administration hervor.

Ein Holocaust-Museum ist dann doch eine zu ›jüdische‹ Angelegenheit, um heutzutage im Zeitalter der ›Universalisierung des Holocaust‹ als Negativikone jeden geschichtsrevisionistischen Unsinn verzapfen zu können. So konnte die Föderation jüdischer Gemeinden in Ungarn (MAZSIHISZ) zusammen mit internationalen Protesten bisher erfolgreich die Eröffnung eines Museums nach dem Fidesz-Schmitt’schen Modell verhindern. Der riesige Davidstern prangt auf dem – unzähligen Fidesz-Vorstößen zum Trotz – seit Jahren leerstehenden Gebäude. Der neueste Turn zeigt aber nun: Je autoritärer das Regime, umso schwieriger die Entscheidung für oder wider den neuen Geist. So hat sich die kleine orthodoxe Chabad-Gemeinde EMIH unter der Leitung des durchaus als Orbán-treu geltenden Rabbiner Shlomo Köves dazu entschlossen, das jüdische Feigenblatt für das Museum abzugeben und die Mitverantwortung dafür zu übernehmen. MAZSIHISZ wie EMIH pflegen beide gute Beziehungen zu Israel und wissen um die Bedeutung des Unterschieds zwischen den sozialistischen antizionistischen Machthabern in Ungarn und Orbán Bescheid, der in Israel einen Verbündeten sucht. Doch während die größere Föderation bisher erfolgreich in Israel um Unterstützung für ihren Kampf gegen den Geschichtsrevisionismus der Fidesz wirbt, macht die kleinere EMIH-Gemeinde beim Fidesz-Projekt mit.

Wohlgemerkt: Es lässt sich sehr vieles über die Mechanismen und die Funktionsweise des Antisemitismus sagen, auch eine historische Genealogie lässt sich aufzeigen, nicht zuletzt auch lassen sich verschiedene Erscheinungsformen in typisierter Form benennen. Eine Definition aber verlangt Eindeutigkeit, wo doch gerade deren Gegenteil – nämlich das »Gerücht über die Juden« (Adorno) – die Anziehungskraft und Wirkungsmacht des Antisemitismus ausmacht. Insofern ist es gar kein Zufall, dass die »Arbeitsdefinition« so vage und unspezifisch ist. Die vielen Beispiele für Antisemitismus, die sie an den Haupttext anschließend aufführt, machen ihr Scheitern nur noch offensichtlicher. Wäre die Definition gelungen, dann bräuchte es keine Beispiele, weil jeder entsprechende Fälle ohne Weiteres aus der allgemeinen Bestimmung ableiten könnte. Dass aber gerade dort, wo in der Arbeitsdefinition der Antisemitismus als »bestimmte Wahrnehmung von Juden« bezeichnet wird, jede nähere Bestimmung ausbleibt, liegt nicht an den mangelnden wissenschaftlichen Fähigkeiten derer, die den Satz formuliert haben, sondern am unverfügbaren, sich jeder begrifflichen Rubrizierung entziehenden Wesen des Phänomens selbst.

Wie kann man also einen Staat gründen, sagt Herzl, der einerseits sich aufschwingt, die Interessen von Leuten wahrzunehmen, die gar nicht sagen können, ob sie die von ihnen wahrgenommen haben wollen, und es gleichzeitig auf eine Art und Weise tun, die wesentlich nicht autoritär, nicht diktatorisch, nicht an den objektiven Interessen der Leute vorbei agiert. Das ist das Problem, das sich Herzl in seinem Buch Der Judenstaat stellt und da diskutiert er durchaus auf der Höhe der Staatsphilosophie um 1900 die verschiedenen Möglichkeiten, die es geben könnte. Er sagt, einerseits haben wir als Demokraten die Theorie des Vertrags. Staaten werden durch Verträge gestiftet, indem die Individuen in einem Vertrag beschließen, dass es besser ist, einen Staat zu haben, als keinen Staat zu haben. Und das sei die eine Theorie. Die andere Theorie sei, dass Staaten eben autoritär gestiftet werden – objektive Wertlehre – gestiftet von großen Männern, von Diktatoren, Monarchen, Cäsaren, Napoleonsgestalten und ähnlichen, das kann es ja auch nicht sein, also sagt er, nehmen wir doch mal die wunderbare Rechtsfigur des Gestors, den die alten Römer geschaffen haben, wonach der Gestor jemand ist, der die Geschäfte für jemanden wahrnimmt, der im Augenblick daran verhindert ist, sich aber dann, wenn er nicht mehr verhindert ist, vor diesem dafür rechtfertigen muss. Und das sagt er, ist die Jewish Agency. Die Jewish Agency verkörpert in sich als eine Art Souverän diese beiden einander ausschließenden Bestimmungen von demokratischer Ermittlung des Staatswillens und autoritärer Setzung des Staatsaktes.

Entweder das Kapital verwertet sich und die Klassenverhältnisse werden ›modernisiert‹ in den fortlaufenden Krisen dieser Verwertung, um in deren Bewältigung dem Weltmarkt Rechnung zu tragen, wobei eben auch der einzelne Staat, als wäre er autonom, Hand anlegt – oder die Verwertung selbst ist so illusionär geworden wie die politisch-ökonomische Bestimmung eines Klassenverhältnisses sich ad absurdum führt, weil die Krisenbewältigung dazu übergegangen ist, den Weltmarkt selbst zu zerschlagen und an dessen Stelle Aneignung von Reichtum jenseits von Verträgen tritt. In letzterem Fall schlägt dann aber auch die große Stunde der Volks- oder Glaubensgemeinschaft … Zur Zeit der ersten Gegenmaßnahmen zu prognostizieren, in welcher der beiden Weisen staatlicher ›Krisenbewältigung‹ ein Ereignis wie eine Pandemie als Brandbeschleuniger wirken wird, erscheint umso abwegiger, je rascher und weitreichender es die Bedingungen der Zirkulationssphäre affiziert. Eben dessen sich bewusst hätte eine Kritik der politischen Ökonomie, die dem kategorischen Imperativ nach Auschwitz zu folgen bereit wäre, so deutlich als irgend möglich zu unterscheiden zwischen einem temporären (oder periodischen) Primat der Politik und einem totalen; zwischen einem Primat, der als vorübergehende Krisenmaßnahme im Sinne des Weltmarkts wirkend noch irgendwie verstanden werden kann, und einem, der längst auf etwas anderes zielt: auf eine jeweils von ›einem Volk‹ oder ›einem Glauben‹ getragene »Großraumordnung« der Autarkie, die – wie das Carl Schmitt propagiert hat – an die Stelle des »universalistisch-imperialistischen Weltrechts« des Weltmarkts treten soll.

Um die aktuelle – wie auch alle bisherige – US-Politik anzuprangern, zitiert Mellenthin rückblickend aus den Ausführungen des US-amerikanischen Außenministers Pompeo bei der Heritage Foundation vom Mai 2018: »Nach dem Deal: Eine neue Iran-Strategie« und verschweigt auch nicht eine entscheidende Passage aus dem letzten Punkt des Forderungskatalogs dieser Strategie: Hier fordert Pompeo nämlich, dass Iran »sein bedrohliches Verhalten gegenüber seinen Nachbarn beenden« müsse und konkretisiert an vorderster Stelle, dass dies »mit Bestimmtheit seine Vernichtungsdrohungen gegen Israel« einschließe. Unmittelbar an diesen letzten Punkt anknüpfend heißt es im Junge Welt-Artikel: »Mit der auch nur partiellen Erfüllung all dieser Forderungen müsste Iran sich der spezifischen, extrem parteiischen Sichtweise der US-Regierung auf die Region des Nahen und Mittleren Ostens unterwerfen.« Mellenthin dürfte eine Ahnung davon haben, was dieses Regime im Innersten zusammenhält, denn er fügt noch hinzu: »Ein solches Programm wäre allein mit den Mitteln einer strengen Wirtschaftsblockade nicht durchzusetzen. Es könnte allenfalls einer militärisch geschlagenen Nation diktiert werden.« (Junge Welt, 2.8.2019) Der innere Zusammenhalt, auch wenn er die Vernichtung Israels betrifft, wäre gegenüber der Unterwerfung unter den US-Hegemon in jedem Fall zu verteidigen.

Die Lehre der Volksrepublik besteht nun darin, dass die Partei selbst zur treibenden Kraft werden muss, die Zirkulationszeit gen Null zu reduzieren, und alles immer in Hinblick darauf kontrolliert, ob es zugleich dazu dient, diese Verkürzung im Ganzen zu gewährleisten. Der Warentausch soll hier immer zugleich der Weg der staatlichen Kontrolle werden, innerhalb und außerhalb des Staats: Außerhalb lässt sich das daran studieren, wie die Kreditverträge aussehen, die man seit längerem schon entlang der »neuen Seidenstraße« anbietet und mit der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) propagiert; innerhalb zeigt es sich an der Entwicklung des sogenannten Bonitätssystems, das wohl nicht zufällig unter der Ägide der Zentralbank und in engster Kooperation mit Digitalunternehmen wie der Alibaba Group ausgearbeitet wird. Das Geld ›verschwindet‹ zwar ebenso wie in den westlichen Gesellschaften in immer größerem Tempo in der Zirkulation und auch die chinesische Zentralbank musste in letzter Zeit den Leitzins senken und die Geldpolitik lockern, aber der Staat, der es garantiert, gewinnt im selben Maß neue, unmittelbare Macht über fremde Territorien und eigene Untertanen.

Solange das Zusammenspiel von Weltmarkt und Finanzmärkten die Erfüllung der »Sehnsucht nach Autarkie« und des mit ihr verbundenen Vernichtungswahns noch nicht greifbar erscheinen lässt, bleibt dem Rechtsradikalismus also außenpolitisch offenkundig auch unter veränderten Rahmenbedingungen weiterhin wenig Spielraum, um sich markant von der deutschen Regierungspolitik zu unterscheiden. So verlegt man sich auch auf diesem Terrain auf den begleitenden Kulturkampf. Wo sich das Racket der Deutschen nicht zum alles beherrschenden Racket erheben kann, soll vorweg die Welt der Herrschaft der Rackets unterworfen werden. Nicht nur bei der AfD mit ihrem außenpolitischen Grundprinzip der Nichteinmischung findet sich Zustimmung für das regierungsoffiziell immer wieder gern auch als außenpolitische Zurückhaltung und ‚Besonnenheit‘ verkaufte Provinzialisierungsprojekt zur kultursensiblen Schaffung möglichst vieler vom US-Hegemon befreiten Zonen. … Die heutige außenpolitische Praxis Deutschlands und die von Adorno damals analysierte »angedrehte Provinzialisierung« der Neuen Rechten sind aus mancherlei Perspektive also gar nicht so weit voneinander entfernt, wie man es sich unter Verweis auf die wehrhafte Demokratie und ihre Institutionen einreden will. Aktuell ist Adorno eben auch dort, wo man es gar nicht gerne sieht.

Obwohl also die sächsische Polizei den Mord nachträglich doch nicht anders einstufen konnte denn als das, was er offensichtlich war, sah die Schwurgerichtskammer am Landgericht davon bei der Verurteilung und dem Strafmaß ab. Die vorsitzende Richterin Simone Herberger verurteilte die drei Täter wegen Totschlag, Hiller erhielt als Haupttäter eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren. Hanisch und Hentschel wurden zu jeweils elf Jahren Haft verurteilt. Zwar sprach selbst die vorsitzende Richterin in ihrer Urteilsbegründung davon, in welch menschenverachtender Weise das Opfer getötet wurde und dass die Gruppe bei ihrer Tat hemmungslos vorgegangen sei. Die Heimtücke der Tat, die die Staatsanwaltschaft zumindest dem Hauptangeklagten vorwarf, spielte beim Strafmaß jedoch keine Rolle. Gleichfalls berücksichtigte das Gericht die manifeste Homophobie als niederen Beweggrund für den Mord überhaupt nicht, sodass juristisch Totschlag daraus wurde.

Dem ergangenen Urteil pflichtete gar die Staatsanwaltschaft bei, obwohl diese für den Rädelsführer Hiller eine Verurteilung wegen Mordes gefordert hatte: »Zwar sei rechtsextremes Gedankengut bei den Männern vorhanden, sagte Staatsanwalt Butzkies nach der Urteilsverkündung. Die Tat sei aber davon zu unterscheiden: Nicht jeder, der rechts ist, werde im Zuge einer Straftat von dieser Einstellung getrieben.«

Die Position, die diese selbsternannten Antirassisten im Streit um das Kopftuch einnehmen, ist aus diesem Grund besonders zynisch: Wird das blaming the victim zu Recht kritisiert, wenn es um Vergewaltigungen und sexuelle Belästigung durch den ›weißen Mann‹ geht, so wird im Falle der Verhüllung bei Musliminnen dasselbe Prinzip kritiklos als Ausdruck einer beschützenswerten Kultur entschuldigt und schlimmstenfalls zum subversiven Protestakt verklärt. Der paternalistisch-wohlwollende Gestus verrät bereits den antirassistischen Rassismus, der implizit den Frauen, die aus muslimischen Kulturen kommen, ihr Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt durch die Gesellschaft abspricht. Derartigen Pseudofeministinnen fällt es dabei nicht einmal auf, dass sie die Verantwortung für den eigenen Opferstatus denjenigen Frauen zuweisen, die sich weigern, ein Exemplar im Kulturzoo des Westens zu bleiben. Anstatt – wie sie es bei jeder ›westlichen‹ Person tun würden – einzufordern, dass der Mann sich zusammenzureißen oder mit Strafe zu rechnen habe, wenn er sich dazu nicht in der Lage sieht, wird hier das ›Selbst-schuld‹-Konzept bereitwillig übernommen, um jene Frauen zu schützen, die es vertreten. Verleugnet wird deren Selbstunterdrückung in einem Akt der Identifikation mit dem Aggressor ebenso wie die Tatsache, dass sie ihrerseits Gewalt gegen jene Frauen ausüben, die sich diesem patriarchalen Prinzip nicht fügen wollen und die sie deswegen als ›legitime‹ Opfer ihrer Kultur zum Fraß vorwerfen.

Ich habe einmal eine Rede damit begonnen, dass ich meinen jüdischen Zuhörern gestand, dass ich sie einst gehasst hatte. Das war 2006. Ich war eine junge Frau, die aus Somalia stammte und gerade ins holländische Parlament gewählt worden war. Das American Jewish Committee (AJC) verlieh mir seinen Moral Courage Award. Für mich war dies eine große Ehre, und ich wäre mir unehrlich vorgekommen, wenn ich meinen früheren Antisemitismus nicht eingestanden hätte. Also erzählte ich ihnen, wie ich dazu erzogen wurde, die Juden für alles verantwortlich zu machen.

Wie Matthias Becker in seiner Analyse anti-israelischer Projektionen unter der Leserschaft der deutschen Zeit und des britischen Guardian zeigt, verbinden sich in dem linken Milieu des Königreichs, aus dem sich auch die BDS-Aktivisten rekrutieren, eine distanziert-kritische Haltung zu wesentlichen Aspekten britischer Vergangenheit und das Bedürfnis, sich von der Last dieser Vergangenheit zu befreien, mit einer ausgeprägt antiisraelischen Haltung. Der jüdische Staat erscheint dergestalt als aktualisierte Fortsetzung der verachteten Aspekte britischer Kolonialgeschichte. »Durch die dämonisierende Behauptung, Israel betreibe eine solche Form der Herrschaftsausübung im 21. Jahrhundert [wie ehemals das britische Empire, Anm. F. M.], werden Kolonialverbrechen in der britischen Vergangenheit relativiert und die britische Wir-Gruppe entlastet.« Das Ergebnis dieser ideologischen Gemengelage ist eine besondere Ausprägung von Entlastungsantisemitismus, die eine ähnliche Funktion erfüllt wie Gleichsetzungen Israels mit dem Nationalsozialismus in Deutschland oder Österreich.

Der Untertitel der Neuauflage des Buchs Neuer Antisemitismus?, in der die Aufsätze von Daniel Goldhagen und Jeffrey Herf keine Aufnahme mehr gefunden haben, müsste angesichts des Nachtrags, den Judith Butler beigesteuert hat, jedenfalls lauten: ›Akademische Fortsetzung einer globalen Debatte über den neuen Antisemitismus nebst Aufrufen zu dessen direkter Förderung‹. Im Vorwort schreiben die Mitherausgeber Doron Rabinovici und Nathan Sznaider über den neuen Beitrag von Judith Butler, der ihren alten für die erste Auflage an Feindschaft gegenüber Israel bei weitem übertrifft und sich mit ausgemachten Antisemiten gemein macht: »Judith Butler ruft dazu auf, sich durch BDS mit der palästinensischen Nationalbewegung zu solidarisieren, um den antirassistischen Kampf voranzutreiben und meint, so auch jenen Antisemitismus zu bekämpfen, der jüngst in Pittsburgh wütete. Dabei bemerkt sie in ihrem Beitrag durchaus, dass ihr Appell in den USA anders klingen mag als in deutschen Ohren – und tatsächlich wirkt der antiisraelische Boykott in Gaza ganz anders als in Berkeley, da wiederum ganz anders als im Paris der islamistischen Attentate gegen Juden und dort nochmals nicht so wie in Wien oder in Berlin, wo bei vielen noch andere Assoziationen, ob berechtigt oder nicht, geweckt werden.« Welche Assoziationen mögen hier gemeint sein? Vielleicht: »Kindermörder Israel«?

Hudsons Begriff des Finanzimperialismus ist exakt so angelegt, dass mit ihm die Geschichte der deutschen Katastrophenpolitik vollständig camoufliert werden kann: Gerade sie erscheint als unmittelbares Resultat der US-Politik und der von ihr gedeckten »Parasiten« – und es entbehrt nicht der Logik, dass der Autor Deutschland heute umso nachdrücklicher anempfiehlt, aus dem System des US-Finanzimperialismus auszubrechen und das Bündnis mit dem Iran zu suchen. Kein Wunder also, dass Michael Hudson als amerikanischer Stargast zur diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin eingeladen wurde.

Ein funktionierender National- und Sozialstaat, die vielbeschworene Normalität, bringe weniger Antisemiten hervor als ein zerfallender, der seine Grenzen nicht schütze. Eben dieses Motiv aber bringt seinerseits – wenn es den Jargon der politischen Ökonomie spricht, statt sich ihrer Kritik unterziehen – ganz selbsttätig das Feindbild hervor: ›Globalisten‹, die den funktionierenden National- und Sozialstaat unterminierten, denen also zugeschrieben wird, was in Wirklichkeit den vom Kapitalverhältnis gesetzten Zusammenhang von Nationalstaat und Weltmarkt ausmacht. Stattdessen wäre zumindest alles ›realpolitische‹ Gewicht – wenn man schon anders nicht mehr denken kann – auf die akkurate Denunziation zu legen, dass die inoffizielle Staatsräson von Merkel & Co., aber ebenso von Strache & Co., sowie nicht wenige der Stiftungsideen von George Soros auf die Unterminierung Israels hinauslaufen. Die politisch ökonomischen Voraussetzungen der Souveränität des jüdischen Staats und der Hegemonie der USA zu reflektieren, ist aber ebenso unnötig, will man den Nahen Osten bloß als moralische Anstalt betrachtet wissen, in der die EU-Länder eines Besseren belehrt werden sollen. Dem neuesten Eurozentrismus der Bahamas ist es offenbar gleichgültig, was vor Ort geschieht … So wie die Identifikation mit Trump eben nur erfolgt, um aufzutrumpfen, aber nicht, um sich – wie in einer »Gegenidentifikation« (Manfred Dahlmann) – die Bedingungen der US-Hegemonie vor Augen zu führen.

16 Mitglieder der kubanischen Ärztemission in Venezuela berichteten in der New York Times über ein System absichtlicher politischer Manipulation, bei dem ihre Dienste eingesetzt wurden, um für die regierende Sozialistische Partei Stimmen zu erhalten, oft durch Zwang. Viele Taktiken seien angewandt worden, von »einfachen Erinnerungen«, für die Regierung zu stimmen, bis zur Androhung, (vermeintlichen) Oppositionellen mit lebensbedrohlichen Beschwerden die medizinische Behandlung zu verweigern. Die kubanischen Ärzte sagten, ihnen wurde befohlen, in ärmeren Gegenden von Tür zu Tür zu gehen, um Medikamente anzubieten und die Bewohner zu warnen, dass sie vom medizinischen Dienst ausgeschlossen würden, wenn sie nicht für Maduro oder seine Clique stimmen würden. »Mit Chavez war es hart gewesen, aber mit Maduro war es ab 2013 viel schlimmer«, sagte ein anderer kubanischer Arzt: »Es wurde zu einer Form der Erpressung. Sie werden keine Medikamente haben. Sie haben keine kostenlose Gesundheitsfürsorge. Wenn Sie eine schwangere Frau sind, werden Sie keine vorgeburtliche Betreuung erhalten.« Vier der kubanischen medizinischen Angestellten berichteten, die Regierung habe »Wahlkommandozentralen« innerhalb oder neben Kliniken eingerichtet, wobei die Ärzte dazu aufgefordert wurden, die Anwohner unter Druck zu setzen.

Der erfolgreiche Kampf mit Schreibmaschine und Papier, nicht wenig davon landet im Papierkorb, brachte den ersten ausgewachsenen Artikel sowie unversehens ein schönes – für den Arbeitslosen schönes Geld. Da hattest Du wohl den Beruf, dem Du bestimmt warst, endlich doch für Dich entdeckt, mit 51 anno ’79. Schon Anfang des folgenden Jahres erschien das große, sorgsam moderierte Round-Table-Gespräch von Budapest mit den Oppositionellen Hegedüs, Földvari und Zsille im FORVM, worauf Du dessen damaligem Blattmacher Michael Siegert den Zugang zu Deinen dissidenten Kreisen in Ungarn selbstlos eröffnet hast. Eifersüchtig gehütet hätten andere so ein Monopol auf wertvolle Kontakte.

Gegen Heisler, der Orbán zum Vorwurf macht, die Rehabilitierung Horthys voranzutreiben, hatte kurz vor seiner Israel-Reise die ungarische Wochenzeitschrift Figyelö eine antisemitisch gefärbte Attacke geritten: Sie überschüttete den Vertreter der größten jüdischen Gemeinde Ungarns mit unbegründeten Korruptionsvorwürfen und bildete ihn auf der Titelseite ab, wo um sein Konterfei Geldscheine wirbeln. Eigentümerin von Figyelö war übrigens bis vor kurzem Mária Schmidt, die sich auch als Verlegerin betätigt. Wie zahlreiche andere Besitzer ungarischer Print- und elektronischer Medien brachte auch sie als Zeichen der Staatstreue ihr Blatt in die jüngst im Sinne der Regierung gegründete »Mitteleuropäische Stiftung für Medien und Presse« ein (FAZ vom 4. Dezember 2018). Heisler sprach ferner dem Rabbiner Slomó Köves, der mit einer Arbeit über die ungarisch-jüdische Geschichte im neunzehnten Jahrhundert promoviert wurde, die nötige Kompetenz für die Mitgestaltung der geplanten Schau im »Haus der Schicksale« ab.

Umfangreicher setzte sich Rosa Luxemburg im Herbst 1910 mit Fragen des Antisemitismus auseinander. Anlass war eine Pressekampagne in Warschau, in der versucht wurde, die Frage in den öffentlichen Raum zu stellen, wer eigentlich polnische Arbeiter führen dürfe. Gezielt wurde auf Rosa Luxemburgs sozialdemokratische Partei in Polen, die 1893 in Zürich unter anderem von ihr und Leo Jogiches gegründet wurde. In der Revolution 1905/06 hatte diese Partei eine herausragende Rolle gespielt, war auch in der Mitgliederstärke zu einer Massenpartei mit fast 40§000 Mitgliedern angewachsen. Als im Laufe des Jahres 1910 eine erneute Streikwelle in den Industriezentren im Königreich Polen anzuschwellen drohte, wurde plötzlich die antisemitische Karte gespielt: Juden hätten in der Revolution 1905/06 polnische Arbeiter auf die Schlachtbank geführt, hätten diese sinnlos geopfert. Gemeint waren Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, der in den Revolutionstagen wegen seines konspirativen Talents und den strategischen Fähigkeiten zur wohl wichtigsten Führungsfigur auf Seiten der Arbeiterbewegung aufgestiegen war. Nun wurde ihm, der ursprünglich aus Wilna stammte, vorgehalten, gar nichts mit Polen zu tun zu haben, sondern ein litauischer Jude zu sein, was insgeheim bedeutete, stets andere als die polnischen Interessen zu vertreten. Und Rosa Luxemburg wurde schwarz auf weiß erklärt, dass das Gift, das sie in ihren Schriften den polnischen Arbeitern verabreiche in seiner bedrohlichen Wirkung allemal schlimmer sei als jener Schnaps, den ihre Vorfahren dem polnischen Volk ausgeschenkt hätten. Angespielt wurde auf die Tatsache, dass im alten Polen auf den Adelsgütern die Schankwirtschaften, in denen der auf dem Gut produzierte Wodka unters Bauernvolk gebracht werden musste, meistens von Juden gepachtet wurden.

Eine gravierende Konsequenz der Intersektionalitätstheorie ist, dass man sich mit dem Vorwurf des Antisemitismus gar nicht argumentativ auseinanderzusetzen braucht. Stattdessen scheint es ausreichend, drei jüdische Mitglieder in den Steuerungsausschuss einzuladen, die der eigenen politischen Linie entsprechen, um den Vorwurf für nichtig zu erklären. Als Jüdinnen segnen sie das antisemitische Programm ab und dienen letztlich als eine Art Schutzschild, mit dem unliebsame Nachfragen abgewehrt werden. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, der erst kürzlich wieder zu Tage trat, als Bob Bland das »jüdische Establishment« für den rechtsterroristischen Anschlag in Neuseeland verantwortlich machte, wird dabei gänzlich ausgeblendet.

Auf der Rednerbühne in Washington fanden sich zahlreiche Promis und eine Riege überwiegend nichtweißer Ehrenvorsitzender ein: Harry Belafonte, La Donna Harris, Angela Davis, Dolores Huerta. Gloria Steinem war die einzige weiße Ehrenvorsitzende. Die jüdische Mitbegründerin des Women’s March Vanessa Wruble hat erklärt, sie sei durch den Antisemitismus der anderen Anführerinnen, der niemandem aufgefallen und von niemandem kritisiert worden sei, hinausgedrängt worden. Wie sie der New York Times mitteilte, habe eine der Wortführerinnen der Demonstration erklärt, man könne »jüdischen Frauen keine zentrale Rolle einräumen, da wir dadurch Gruppen wie Black Lives Matter verprellen könnten«. (Wruble beteiligte sich anschließend an der Gründung der gemeinnützigen Organisation March On, die an verschiedenen Orten in Nordamerika gleichzeitig mit dem Women’s March Demonstrationen veranstaltet hat.)

Am 13. August 1920 hat Adolf Hitler uns eine bis heute gültige Frage gestellt, als er im Münchner Hofbräuhaus seine erste überlieferte Rede über den Antisemitismus gehalten hat. Er fragte das Publikum: »Wie kannst du als Sozialist nicht Antisemit sein?« Das ist bis heute die Frage geblieben; und ich hoffe, dass die weiteren Ausführungen, die von der Geschichte des Antizionismus in Deutschland handeln sollen, diese Frage doch in einem nicht-hitlerischen Sinne helfen werden zu klären. Denn irgendwann zwischen der Wannseekonferenz und der Gründung Israels hat der Hass auf Israel jedwede Geschichte verloren. Danach gibt es keine Antisemiten mehr: weil alle es sind und jeder qua bürgerliches Subjekt schon sowieso. Der Antisemitismus wird nun zum logischen wie zum historischen Apriori, quasi zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins der Deutschen. Als außer Johann Georg Elser kein proletarisches Subjekt zur Verteidigung der Juden die Waffen erhob, als noch die Idee der Kommunistischen Internationale, die Weltrevolution für die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft ausgestrichen und durch Stalins »internationalen Patriotismus« ersetzt wurde, hatte sich die Kapitalgesellschaft mit sich selbst zur zwar negativen, aber doch fugenlosen Identität vermittelt. Das heißt, sie hatte sich historisch ausgemittelt, und sie hatte darin jedwede Idee eines Fortschritts der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit weit von sich gewiesen. Der Sinn der Geschichte selbst wurde liquidiert. Danach ist jede ›List der Vernunft‹, deren emanzipative Logik aus der bewusstlosen Wechselwirkung der ihrer selbst unbewussten Subjekte folgen sollte, nur Projektion und macht sich, so Adorno, »der Kardinalsünde schuldig: Sinn dort zu infiltrieren, der nicht existent ist«, und noch die unendlich tibetanisch-marxistische Gebetsmühle vom ›Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital‹ beweist, dass Adornos Frage, »ob es denn Geschichtsphilosophie ohne latenten Idealismus« geben könne, strikt verneint werden muss.

Die Türkei wälzte das säkulare Afrin zu einem Pseudo-Emirat um, in dem einzig die Entführungsindustrie und die Produktion von Snuff-Filmen floriert und islamistische Warlords als Pseudo-Emire um die Beute rivalisieren. Die ezidischen Gemeinden in Afrin sind verwaist. Auf der Straße herrscht für Frauen die Zwangsverschleierung, wo zuvor die Befreiung der Frauen als einer der zentralen Grundpfeiler des föderalen Gemeinwesens ausgerufen wurde. Während die Türkei den Nordwesten Syriens unter ihr Diktat zwingt, werden syrische Kurden aus Afrin vor türkische Gerichte gezerrt und der »Zerstörung der Einheit des türkischen Staates« beschuldigt. Doch anders als die »Causa Özil«, die zur Sinnkrise deutscher Integrationspolitik wurde, provozierten die Bilder deutscher Panzergefährten mit türkischer Besatzung, die mit Wolfsgruß und Seite an Seite mit islamistischen Mordbrennern in Afrin einrollten, keine deutschen Befindlichkeiten.

Klaus Bittermann: Hat man einen Blick aufs Gesamtwerk, kann man vier Abschnitte erkennen. Den Pohrt aus den 1970ern, als er die Theorie des Gebrauchswerts schrieb und an der Uni in Lüneburg arbeitete mit den Seminarthemen über Jugendsoziologie, Émile Durkheim, über die »Aktualität des Faschismus«, Marx-Kontroversen. Parallel fing er an, an der Hochschule kleine Satiren und Pamphlete zu verfassen, das war auch die Zeit, als er die ersten Schubladentexte schrieb, die dann 1980 in seinem zweiten Buch Ausverkauf erschienen. 1980 hörte er mit seinem Job in Lüneburg auf, obwohl er gute Chancen auf einen Lehrstuhl hatte. Es begann seine Zeit als Kultur- und Ideologiekritiker, als er kurzfristige Berühmtheit erlangte. Das ging bis 1989, bis zum Einzug der Republikaner in den Berliner Senat. Im Vorwort zu Ein Hauch von Nerz begründete er, warum es in einer solchen Zeit nicht mehr ausreicht, den Betrieb mit brillanten Kritiken zu bereichern. Kurz danach öffnete die DDR ihre Grenzen und die Wiedervereinigung nahm ihren Lauf. In der dritten Phase erstellte er als Einmannuntersuchungsgruppe eine ganze Studie mit einem riesigen statistischen Aufwand und Fragebögen, die er an Verwandte und Bekannte schickte und die mir nicht sonderlich repräsentativ erschienen. Aber wie Pohrt selbst einmal irgendwo erwähnt hat, kennt man die Ergebnisse der Untersuchung, die man anstellt, in der Regel schon vorher, und es gehört ja auch zum modernen Mythos, wenn man so tut, als wüsste man nicht, worauf die Studie hinausläuft. Danach wurde er quasi der politische Chefkommentator von Konkret, und aus diesen Arbeiten entstanden Das Jahr danach und Harte Zeiten. Damit war Schluss, als Konkret 1993 einen umstrittenen Vortrag von Christoph Türcke auf dem Konkret-Kongress abdruckte, um »eine Versachlichung der andauernden Debatte zu ermöglichen«. Die Frage, die sich Türcke gestellt hatte: »Gibt es ein biologisches Substrat, das es gestattet, Menschenrassen in nichtdiskriminierender Absicht zu unterscheiden?«, war der Anlass für Pohrt, seine Mitarbeit bei Konkret zunächst einzustellen. Dann gab es eine fast zehnjährige Pause, in der er nur noch sporadisch veröffentlichte, bevor dann 2003 vom >Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus< eine Podiumsdiskussion mit Broder in Berlin organisiert wurde. Ein Desaster, wie Pohrt das selbst einschätzte. Es dauerte dann weitere fünf Jahre, bis er sich mit Kapitalismus Forever und Das allerletzte Gefecht zum letzten Mal zu Wort meldete.

Das Mindeste, was sich nun gegen den Begriff »Lebensschutz« einwenden ließe, ist, daß die programmatische Erklärung, das Leben schützen zu wollen, stets und unter allen Umständen eine dreiste Lüge ist: man kann das Leben von Menschen nicht schützen, ohne beispielsweise dasjenige von Pockenviren zu vernichten. Auch ist das Leben in seiner abstrakten Allgemeinheit und Gesamtheit keineswegs bedroht und würde in Gestalt von Einzellern, Insekten oder Ratten und Tiefseefischen sogar beliebig viele Atomkriege unbeschadet überstehen. So schwingt in jeder mystisch gefärbten Achtung vor dem Leben überhaupt und ganz allgemein die nur zu gut begründete Weigerung mit, offen zu erklären, um wessen Leben es sich dreht. Der »Lebensschutz« hält sich gewissermaßen sämtliche Optionen offen und behält es einem späteren Zeitpunkt vor, die ganz plausibel aus ihm abzuleitende Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben willkürlich und in eigener Machtvollkommenheit zu treffen. Der von jedem konkreten Vorstellungsgehalt gereinigte Lebensbegriff ist tatsächlich der leere Sack, der nur darauf wartet, von jenen »mit Inhalt gefüllt« zu werden, wie es in der akademischen Amtssprache heißt, welche die definitorische, und das heißt: politische und praktische Macht dazu haben. Lebensschutz impliziert das Recht des Lebensschützers, willkürlich nach eigenem Gutdünken und eigenem Interesse darüber zu befinden, wen er töten darf.

Es gilt, den Unterschied zu betonen, der zwischen einer auf einen Verein freier Menschen abzielenden Staats- und Demokratiekritik und faschistischer Verachtung für Parlament, Gewaltenteilung und gesellschaftlicher Vermittlung besteht. Agnoli hat die im Verfassungsstaat in aller Regel garantierten Freiheitsrechte nach dem Zweiten Weltkrieg stets hochgehalten und nicht zuletzt gegen die stalinistischen Teile der Linken in der Bundesrepublik verteidigt. Er stellt sich mit seinem Beklagen des Souveränitätsverlustes ›des Volkes‹ nicht in die Tradition von Carl Schmitt, die in der autoritär konzipierten ›direktdemokratischen‹ Rhetorik in und im Umfeld der AfD und ähnlicher Parteien heute auf die politische Bühne zurückkehrt, sondern in jene des radikaldemokratischen jungen Marx. Möglich wird das jedoch nur durch die weitgehende Ignoranz Agnolis gegenüber den geschichtsphilosophischen und revolutionstheoretischen Implikationen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs, die in einem auffälligen Widerspruch zu seinen Ausführungen über das Fortwesen faschistischer Krisenlösungsmodelle steht.

Staatsfeind auf dem Lehrstuhl hat man ihn genannt. Johannes Agnoli hat nicht widersprochen und der Staat hat ihn dennoch nicht aus seinem Amt entfernt. Anders verhält es sich mit den ehemaligen Berufsrevolutionären von 1968. Auch sie wurden nicht entlassen, aber eben Staatsfeinde wollten sie sehr schnell nicht mehr sein. Typisch für Johannes Agnoli, wie er, als diese Revolutionäre so herzergreifend darüber jammerten, dass der Staat sie nicht Lehrer und Briefträger werden lassen wollte, ihnen mit auf den Weg gab, dass es ein reichlich merkwürdiges Verhalten ist, den Staat darum anzubetteln, dafür bezahlt zu werden, dass man ihn besser bekämpfen kann.

In alle Zukunft werden wir Johannes Agnoli nun vermissen müssen, seinen Charme, seine revolutionäre Geduld und machiavellische Ironie, die Weise, wie er das organisierte Nein sagte. Wie sein früh verstorbener Genosse Peter Brückner ist er ein Partisanenprofessor gewesen im Lande der Mitläufer, einer, den man jetzt zur Revanche aus den Verzeichnissen des Herrschaftswissens streichen wird, ein Betriebsunfall und einer, der, wie die Frankfurter Allgemeine einmal gutachtete, »am Bedarf vorbei« geschrieben, gedacht, gelehrt und gelebt hat: einer, der am besten nie gewesen wäre. Was Herrschaft als überflüssig befindet, das macht den Begriff der Subversion eben aus: Johannes Agnoli hat den Antagonismus gedacht und die Revolution, nicht, um daraus eine subversive Theorie zu verfertigen, sondern zum Zweck der kategorischen Kritik. Tante Grazie.

Johannes Agnoli: Mein Zugang zu Marx war, um darauf zurückzukommen, kein intellektueller. Hinter diesem Zugang stand schon eine gewisse Lebenserfahrung. Ich war damals immer wieder über meine Studienkollegen verblüfft. Erstens waren sie alle jünger als ich, zweitens hatte ich Krieg, Gefangenschaft und die Erfahrung der Fabrikarbeit hinter mir. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie keine Lebenserfahrung hatten. Ihr Leben war ohne Umwege verlaufen: Abitur, dann das Studium. Meine Kommilitonen, das waren ganz sympathische, hochgescheite Leute, aber für mich hatten sie einfach keine Lebenserfahrung. Ich war nur durch Zufall an die Universität gekommen.
Ich arbeitete in dieser Fabrik, im Trockenraum für die Bretter, als auf einmal meine Hauswirtin hineinstürzte und mir sagte, eine Postkarte sei von der Uni gekommen, ich wäre zum Studium zugelassen worden. Das war wirklich reiner Zufall, weil ich mich schon vergebens beworben hatte, nachdem endlich meine Papiere aus Italien gekommen waren.
Nun gut, so kam ich zu Spranger und wollte als Erstsemester gleich sein Hauptseminar besuchen. Ich legitimierte das mit meiner Erfahrung in der Kriegsgefangenschaft, wo ich im Auftrag des britischen Militärs Unterricht in Geschichte und Philosophie gehalten hatte. Er examinierte mich daraufhin, und weil ich alles wusste, wurde ich zum Hauptseminar zugelassen.

Der explizite Bezug auf die Psychoanalyse legt es nahe, sich den kontradiktorischen Begriff der Identifikation als zentrales Moment bei der Lösung des Ödipuskomplexes durch eine die Kastrationsgefahr abwehrende Identifikation des Knaben mit dem bedrohlichen Vater zu vergegenwärtigen. Materialistische Kritik bewahrt dieses gewissermaßen anthropologische Moment einer ersten Identifikation mit dem ersten Aggressor auf, zeigt aber ihren ideologischen Überschuss in der Identifikation mit allem, was der Vater jenseits von Schutz und Sorge repräsentiert und exekutiert, also mit der Abstammungslinie, dann mit Staat, Volk und Nation und schließlich mit dem zum Opfer bereiten und gewillten Soldaten. Diese überschießende Identifikation will Gegenidentifikation durch Reflexion auf den produktiven Grund stillstellen.
Was aber bleibt dann im gegenidentifikatorischen Selbstvollzug der »gesamten Person« des Kritikers übrig, das Gegenidentifikation genannt werden könnte? Ist die Aufforderung zur Gegenidentifikation dann mehr als die durch Provokation intensivierte zur Reflexion und zum Nachvollzug des politischen Urteils? Oder entspricht in der Gegenidentifikation doch auch etwas jenem vorideologischen Moment der Identifikation, das in der Psychoanalyse thematisch wurde?

Die Identifikation mit der AfD oder der FPÖ, deren Aufstieg mit der Flüchtlingskrise der letzten Jahre erfolgte, kann solchermaßen keine Gegenidentifikation in der beschriebenen Bedeutung sein, insofern sich die rechtspopulistische Propaganda nicht nur gegen den Weltmarkt richtet, sondern zugleich gegen die hegemoniale Macht der USA; im besten Fall ist diese ihr gleichgültig wie jede außenpolitische Frage. (Darum ist es so unbeschreiblich dumm und grob fahrlässig, die AfD als die einzige konsequent israelsolidarische Partei zu bezeichnen; Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn eine solche Partei im Bundestag säße.) Der Grund, der in dieser Identifikation sichtbar wird, ist keiner, sondern Apotheose der nationalen Organisation von Arbeit oder anders gesagt: Wahn der Autarkie oder mit Fichte gesprochen: der geschlossene Handelsstaat. In diesem Sinn fordert Björn Höcke eine »raumorientierte« Wirtschaftspolitik beziehungsweise »wirtschaftssouveräne Staaten«, und möchte nur allzu gerne mit dem »Investitionsverbot raumfremden Kapitals« und dem »Migrationsverbot raumfremder Bevölkerungen« an Carl Schmitts »Interventionsverbot raumfremder Mächte« von 1939 anknüpfen. Vorbereitet wird diese Möchtegern-Katastrophenwirtschaftspolitik durch eine Art Verklärung des Rechtsstaats , die darauf beruht, ihn isoliert zu betrachten, wie um zu verdrängen, dass es diese vielen schönen Rechtsstaaten nicht mehr geben würde und weiter geben kann, ohne eine gleichfalls rechtsstaatlich verfasste, hegemoniale und das heißt eben: bis an die Zähne bewaffnete Macht. Deren Hegemonie resultiert aus ihrer beherrschenden Stellung auf dem Weltmarkt, gegen die der Wahn der Großräume sich zu erheben sucht. (Dieser Zusammenhang deutet sich im Übrigen schon bei Fichte selber an…: Er bezeichnet seine Schrift im Untertitel eben nicht umsonst als »Anhang der Rechtslehre«.)

Thomas von der Osten-Sacken: So offen jedenfalls wie derzeit auch die Bundesregierung mit dem Iran kollaboriert, ohne zumindest verbal ein wenig die Menschenrechte zu thematisieren oder zumindest noch zu erwähnen, dass sie die Vernichtungsdrohungen gegen Israel nicht erfreulich findet, hat sie das früher nicht getan, da setzte man offiziell auf Wandel durch Dialog. Selbst davon ist heute nicht mehr die Rede.
Und natürlich nehmen die Menschen das im Nahen Osten wahr, nicht nur in Kurdistan. Bis heute unterschätzt man hierzulande völlig was die »Liberation-Policy« eines George W. Bush für Schockwellen in der Region ausgelöst hat. Ohne den Sturz Saddams wäre es vermutlich so weder zu den Massenprotesten im Iran, noch zum so genannten arabischen Frühling gekommen. Zuvor galt bei allen US-Administrationen das Paradigma der »Stabilität«, auf das sich ja Heiko Maas verrückterweise jetzt auch ständig beruft: Jeder Herrscher, der in seinem Land, egal wie, für Ruhe und Ordnung sorgte und ein einigermaßen pragmatisches Verhältnis zu den USA und Europa unterhielt, konnte eigentlich alles tun, was er wollte. Dann kam dieses Intermezzo und plötzlich wurde von Demokratie, regime change, Rechtsstaat, Föderalismus und Freiheit geredet und die USA schienen es auch noch ernst zu meinen. Natürlich, auch wenn es oft ganz anders zum Ausdruck kam, glaubten viele Menschen nach 2003 daran. Sie glaubten, dass sie auch in ihren Ländern unterstützt würden. Egal ob in Libyen, Syrien, Kurdistan oder dem Jemen. Und es hat Jahre gedauert, bis sie verstanden, dass die Vorzeichen amerikanischer Außenpolitik sich grundlegend verändert hatten. Heute fühlen sie sich deshalb verraten. Natürlich sind viele auch dem Glauben aufgesessen, dass die Amerikaner so omnipotent seien, wie es die panarabische und auch islamistische Negativpropaganda ihnen über Jahrzehnte eingetrichtert hatte. Aber die Entwicklungen gaben ihnen ja Recht, die Unterstützung kam nicht. Und Europa? Nun, in diesem Zusammenhang erscheint es nicht als Einheit. Frankreich und England wird getrennt etwa von Deutschland wahrgenommen. Ansonsten spielen europäische Staaten, immerhin noch vor siebzig Jahren Mandatsmächte, im allgemeinen Bewusstsein kaum eine Rolle außer als mögliches Fluchtziel.

Unter dem Titel »White Supremacists Defend Assad, Warn Trump: Don’t Let Israel Force You Into War With Syria« hat Allison Kaplan Sommer in der Haaretz vom 9. April 2018 gesammelt, was man in den Kreisen von Richard Spencer so alles twitterte rund um den israelischen Luftangriff auf die T-4 air base in Syrien, bei dem auch sieben Iraner, darunter ein Oberst der Revolutionsgardisten, getötet wurden. Die Journalistin staunt selbst ein wenig darüber, wie schnell diejenigen, die einmal »Hail Trump« brüllten, dazu übergehen können, Trump als Teil des Unheils jüdischer Weltverschwörung abzubuchen.

»Wie ist es geschehen«, so formulierte es Jean Améry 1969, »daß marxistisch-dialektisches Denken sich dazu hergibt, den Genozid von morgen vorzubereiten?« Damals setzte sich Améry mit den vehementen anti-israelischen Reaktionen der politischen Linken auf den Sechstagekrieg auseinander; was er an der Neuen Linken beschreibt und kritisiert, deckt sich selbst nach einem halben Jahrhundert bis in die Diktion hinein mit vielen Auslassungen Zuckermanns. In jener Tradition des »marxistisch-dialektischen Denkens« stehend, das sich dazu hergab, den Genozid vorzubereiten, hat der Kommunistische StudentInnenverband und die Kommunistische Jugend Österreichs im April 2018 den Historiker zu einer antizionistischen Vortragsreise unter dem Motto »Moshe Zuckermann on Tour: Linke Perspektiven in Israel« eingeladen. Die Veranstalter wissen, ihr Referent wird sie nicht enttäuschen, und bebildern die Termine in ihrer Internetpräsenz mit einem Kampfjet, der tief über die israelische Sperrmauer hinwegschießt. Ihr Kronzeuge soll »die in Israel vorherrschende politische und gesellschaftliche Ideologie beleuchten«. Weiter heißt es in der Ankündigung: »Die einen verbinden Israel mit Apartheidherrschaft, Besatzung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes, die anderen sehen in Israel einen Hort des Fortschritts im Nahen Osten. Welche Perspektiven gibt es in Israel für linke marxistische Kräfte, einem Land in fortwährendem Kriegszustand mit anhaltender Dominanz rechter Parteien an der Regierung? Welchen Hindernissen sehen sich sozialistische Bestrebungen in diesem Land ausgesetzt?« So lässt sich in universalistischer Manier mit Zuckermanns Beihilfe »das zum Täterland verkommene Israel« delegitimieren.

In den vergangenen beiden Jahren scheint nun in Bosnien eine museale Aufarbeitung des Krieges in Form umfassender ständiger Ausstellungen möglich geworden zu sein – doch die gewählten Zugänge könnten unterschiedlicher nicht sein. Das 2016 privat initiierte Museum of Crimes against Humanity and Genocide in Sarajevo setzt dabei – auf Bosnisch, Englisch und Türkisch – die oben beschriebene Tradition fort. Bereits das allererste Exponat stellt klar, ›wir‹ seien die neuen Juden, denn auch ›wir‹ mussten, in diesem Fall in Prijedor (im Nordosten Bosniens) 1992, Armbinden tragen.

Was als kritische Metapher gemeint ist, wird manchmal leibhaftige Realität. Schon seit längerem kann bildhaft von einer symbiotischen Ehe gesprochen werden, die Linksintellektuelle und Rechtspopulisten in Deutschland und Österreich führen, so sehr brauchen sie einander, um Aufmerksamkeit zu erregen, Publikum und Anhänger zu gewinnen.

In seiner Sehnsucht nach einer autoritären Remystifizierung der Gesellschaft, einer Beseitigung der Moderne zugunsten einer am Göttlichen orientierten Hierarchie und nicht zuletzt in seinem Wahn eines heiligen Krieger- und Männlichkeitskultes – Krieger und Asket galten ihm als die Grundtypen reiner Männlichkeit – muss Evola und seinen Schülern der Islam, der in seiner djihadistischen Form Krieg und Askese verbindet, mindestens als leuchtendes Beispiel, wenn nicht gar als nachzuahmendes Vorbild erscheinen. Mit der Scharia, dem Kalifat und dem Djihad kann er der Sinnstiftung gegen die Moderne Nachdruck verleihen. Evola war bereits für die radikale Rechte nach 1945 ein wichtiger Bezugspunkt. Der Anfang dieser Entwicklung liegt in Italien, enge Kontakte bestanden zur neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano, der Vorsitzende des MSI verwies auf Evola als »unseren Marcuse, nur besser«. 1956 gründete Pino Rauti unter direktem Einfluss Evolas die Terrororganisation Ordine Nuovo (›Neue Ordnung‹), deren politische Soldaten in ihrem heiligen Krieg bis ins Jahr 1980 über 100 Menschen töteten. Ab den 1960er Jahren begann die Nouvelle Droite um Alain de Benoist, Guillaume Faye und Dominique Venner in Frankreich neben den Autoren der sogenannten Konservativen Revolution ihre Theorien auch auf den Schriften Evolas aufzubauen.

1941 waren er und seine Eltern bei der Großmutter in den Karpaten auf Sommerurlaub. Da kamen Leute der SS, holten die vier aus dem Haus, erschossen die beiden Frauen, transportierten den Buben und seinen Vater ab, trennten sie und brachten sie in unterschiedliche Deportationslager. Erst in den späten 1950er Jahren fanden sie einander in Israel wieder. Dem neunjährigen Erwin war die Flucht gelungen; drei Jahre trieb er sich durch Wälder und überlebte. Mit der Roten Armee kam er schließlich nach Italien und von dort nach Eretz Israel in ein Jugendlager. Das hieß: zumindest neuer Vorname – Aharon, vor allem aber vormittags Hebräisch lernen und nachmittags Feldarbeit. In seinem Buch Geschichte eines Lebens erinnert sich Appelfeld an dieses Erlernen der für ihn völlig fremden Sprache: »Ich möchte vorausschicken: Die formale Sprache habe ich schnell und ziemlich leicht erworben, am Ende des ersten Jahres lasen wir schon Zeitung, doch dieser Spracherwerb war mit keiner Freude verbunden. … Und natürlich gab es noch ein anderes Dilemma: Die Sprache meiner Mutter war die Sprache ihrer Mörder. Wie konnte man weiter eine Sprache sprechen, die mit dem Blut der Juden getränkt war? Dieses furchtbare Dilemma konnte aber dem Gefühl nichts anhaben, dass mein Deutsch nicht die Sprache der Deutschen war, sondern die meiner Mutter, und ich war mir sicher, wenn ich Mutter wiederfände, würde ich mit ihr in der Sprache weiterreden, in der wir immer miteinander gesprochen hatten.«

Enzo Traverso zufolge habe das Judentum mit der Etablierung Israels eine konservative Wende durchgemacht. Denn Israel selbst habe »die ›Judenfrage‹ wieder erfunden«, während die Juden nach dem Zweiten Weltkrieg in den liberalen Demokratien zu einer anerkannten und beschützten Minderheit wurden. Was nützt es den Juden in Europa heute, »anerkannt« zu sein, wenn sie dennoch Opfer von Gewalttaten werden und das in letzter Zeit immer häufiger. Zuletzt wurde am 23. März 2018 in Paris Mireille Knoll brutal ermordet, weil sie Jüdin war. Am 28. März 2018 wurde in St. Petersburg Mikhail Verevskoy totgeprügelt, weil er Jude war. Traverso gibt zwar zu, dass es auch heute noch Judenfeindlichkeit gebe, behauptet aber, dass sich diese aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt speise. In dieser, der Opfer-Täter-Umkehr verpflichteten, Rationalisierung zeigt sich der ganze Abgrund des Post-Zionismus. Man will nicht wahrhaben oder verleugnet gar explizit, was bereits Pinsker hellsichtig bemerkt hatte: Der Antisemitismus ist ein Wahn, der sich weder vernünftig begründen noch durch Argumente wirksam bekämpfen lässt. Das gilt – auch wenn sich der Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert fortentwickelt hat – bis heute. Für den Antisemiten und seine Projektion ist es egal, wie sich sein Opfer tatsächlich verhält. Er findet sein Ziel weiterhin.

Freunde, wir haben in Palästina keine Alternative. Der Mufti und seine Männer haben uns den Krieg erklärt. Wir müssen um unser Leben kämpfen, um unsere Sicherheit und für das, was wir in Palästina erreicht haben, und vielleicht mehr als alles andere müssen wir für die jüdische Ehre und jüdische Unabhängigkeit kämpfen. Ohne Übertreibung kann ich euch sagen, dass die jüdische Gemeinschaft in Palästina dies gut macht. Viele von euch haben Palästina besucht; ihr alle habt von unseren jungen Leuten gelesen und habt eine Vorstellung davon, wie unsere Jugend ist. Ich kenne diese Generation seit 27 Jahren. Ich dachte, ich würde sie kennen. Jetzt erkenne ich, dass nicht einmal ich sie kannte. Die jungen Knaben und Mädchen, viele von ihnen Teenager, tragen die Last dessen, was in unserem Land geschieht, mit einem Geist, den Worte nicht beschreiben können. Ihr seht diese Jugendlichen in offenen Autos – nicht in gepanzerten Fahrzeugen – in Konvois, die von Tel Aviv nach Jerusalem fahren, im Wissen, dass jedes Mal, wenn sie von Tel Aviv oder Jerusalem losfahren, wahrscheinlich Araber hinter den Orangenhainen oder den Hügeln sind, die darauf warten, den Konvoi aus dem Hinterhalt zu überfallen. Diese Jungen und Mädchen haben die Aufgabe, Juden in Sicherheit über diese Straßen zu begleiten mit einer Selbstverständlichkeit akzeptiert, als wenn sie zu ihrer täglichen Arbeit oder einem Seminar an der Universität gehen würden. Wir müssen die Juden überall auf der Welt auffordern, uns als die Frontlinie zu betrachten. Alles, was wir von den Juden überall auf der Welt, und vor allem von denen in den Vereinigten Staaten, verlangen, ist, uns die Möglichkeit zu geben, unseren Kampf fortzusetzen.

Am 29. November 1947 feierte der Yishuv – die Juden in Palästina – die Resolution der UN-Generalversammlung zur Teilung des britischen Mandatsgebiets Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Doch David Ben-Gurion, der Vorsitzende der Jewish Agency, wusste, dass kein Land der Welt den Teilungsplan gegen die Waffengewalt der Araber durchsetzen würde. Er wusste ebenfalls, dass der Yishuv es bald nicht nur mit den Überfällen bewaffneter arabischer Banden zu tun haben würde – die Ende 1947 alltäglich waren –, sondern mit Armeen, die über Panzer, Flugzeuge und Artillerie verfügten. Ende November rief er Ehud Avriel in sein Büro, der für Waffenkäufe in Europa zuständig war, und sagte zu ihm: »Wir müssen unsere Taktik ändern.« Es sei nicht ausreichend, weiter wahllos irgendwelche Waffen ins Land zu schmuggeln. Wie überliefert ist, soll Ben-Gurion einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Hemdtasche gezogen haben, auf dem stand, was er wünschte: 10 000 Gewehre, 2,5 Millionen Patronen, 500 Maschinenpistolen, 100 Maschinengewehre. Das zu beschaffen war nicht leicht; die Vereinigten Staaten hatten ein Waffenembargo gegen die ganze Region verhängt, das vor allem die traf, die noch keine Waffen hatten: die Juden. In der Tschechoslowakei ließen sich – mit Stalins Einverständnis – Waffen besorgen, doch wie sollten sie bezahlt werden? Das Geld konnte nur von Juden aus der Diaspora – aus Amerika – kommen.

Das deutsche Prol[etariat] war auf dem Wege, die Weltherrschaft des deutschen Imp[erialismus] zu errichten. … Noch ist nichts geschehen. Noch verdanken wir Wilson u. den englischen Tanks die Anfänge der »Neugestaltung«. Noch hat das d[eutsche] Prol[etariat] nichts getan, um seine Blutschuld abzuwaschen und seine Menschwerdung zu beweisen. (Handschriftliche Fragmente zur Geschichte der Internationalen, der deutschen Sozialdemokratie, zu Krieg, Revolution und Nachkriegsperspektiven. Gesammelte Werke. Hrsg. v. Annelies Laschitza u. Eckhard Müller. Berlin: Karl Dietz Verlag 2017)

Eine ähnliche ›moral insanity‹ kennzeichnete das Verhältnis der meisten Trotzkisten zum Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Leo Trotski gab bereits 1940 den Ton vor, als er erklärte: »›Aber ist bei den jetzigen Bedingungen die Arbeiterklasse nicht verpflichtet, den Demokratien in ihrem Kampf gegen den deutschen Faschismus zu helfen?‹ So wird von breiten kleinbürgerlichen Kreisen gefragt, für die das Proletariat immer nur ein Hilfswerkzeug der einen oder anderen Fraktion der Bourgeoisie bleibt. Wir lehnen diese Politik mit Empörung ab. Natürlich besteht ein Unterschied zwischen den politischen Regimes in der bürgerlichen Gesellschaft, genauso wie es einen Unterschied im Komfort zwischen den verschiedenen Wagen eines Zuges gibt. Aber wenn der ganze Zug dabei ist, in einen Abgrund zu stürzen, verschwindet der Unterschied zwischen der niedergehenden Demokratie und dem mörderischen Faschismus angesichts des Zusammenbruchs des gesamten kapitalistischen Systems.« Trotzki sah letztlich keinen Unterschied zwischen Großbritannien, das von den USA unterstützt wurde, und Nazideutschland.

Trotzki argumentiert, die antisemitische Hetze wäre in der Revolutionszeit wirkungslos geblieben, weil sie sich nicht gegen einen führenden Bolschewiki und realen russischen Juden, nämlich gegen ihn selbst, gerichtet hätte. Deswegen sieht er um das Jahr 1917 keine ernste Gefahr durch den Antisemitismus. Diese Gefahr sei erst mit dem Niedergang der Revolution wiederaufgekommen, das heißt mit dem Aufstieg Stalins. Trotzki verfasste seine Memoiren, als er bereits im Exil, in der Verbannung, leben musste; zu der Zeit war er für die Stalin-Fraktion einer der gefürchteten Gegner, wenn nicht sogar ihr Hauptfeind. Entsprechend spricht Trotzki die eigene Partei und die eigene Armee bis zu Stalins Parteivorsitz von Judenfeindschaft frei und sieht das Problem erst ab 1925, mit dem Thermidor, zurückkommen.

Politisches Engagement, das sich per definitionem darauf beschränkt, für Sanktionen gegen das Mullahregime zu werben, müsste an Trumps Außenpolitik eigentlich etwas vom eigenen Dilemma wiedererkennen: Populistisch ist Trump vor allem darin, dass er sich weigert, notwendige militärische Interventionen ins Auge zu fassen.

Für das neue Deutschland begründet Münkler nun programmatisch diesen Nicht-Umgang mit dem radikalen Islam fast in einer Art Antinomie. Zwar sei, so Münkler 2005, das »politisch-kulturelle Einwirken« zusammen mit der militärischen Komponente entscheidend für den Kampf gegen den Terrorismus. Für eine »›Austrocknung‹ des intellektuellen, politischen und kulturellen Umfelds der Terrorgruppen« könnten die betroffenen Gesellschaften jedoch kaum ausreichend Zeit entbehren. Das meint Münkler wörtlich, denn er sorgt sich zur Abwehr wirtschaftlichen Schadens vor allem um das kontinuierliche Arbeits- und Konsumverhalten. … Sozialwissenschaftler wie Münkler glauben zwar zu wissen, dass es eine »Weltanschauung« namens Islamismus gibt, möchten sie aber ganz bewusst ausblenden und vertrauen schlicht darauf, dass der deutsche Rechtsstaat ihre Folgen im Griff hat. Dessen Vertreter haben jedoch ebensowenig einen Begriff davon. So erklärte der bayerische Verfassungsschutzpräsident Burkhard Körner im Juni 2017 im Gestus der political correctness, der »ideologische« Islamismus habe »nichts, rein gar nichts« mit »99 % des Islams« zu tun, dieser sei im Unterschied zu jenem ganz einfach nur religiös. In Ditib-Moscheen und ähnliche religiöse Stätten des radikalen Islams wolle seine Behörde zugleich freilich gar nicht erst hineinhorchen.

Ein Kennzeichen des modernen Antisemitismus ist, dass er frühere Formen des Judenhasses in sich aufnimmt und transformiert. Dabei genügt – anders als der WDR-»Faktencheck« nahelegt – bereits die antisemitische Anspielung. Abbas spielt in seiner Rede auf eine in der christlichen Welt weit verbreitete Verschwörungstheorie an, um die ›internationale Gemeinschaft‹ für die Sache der Palästinenser zu gewinnen, wobei aber nicht vergessen werden sollte, dass ähnliche Ideen auch in der Geschichte des arabisch-muslimischen Raums nachweisbar sind. Gilt dort der moderne Antisemitismus gemeinhin als ein rein christlich-europäischer ›Import‹, so weist Robert S. Wistrich darauf hin, dass sich bereits in arabischen Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts Anschuldigungen finden lassen, Juden hätten das Essen der Muslime vergiftet, zum Beispiel in den Werken von Abd al-Rahim al-Dimashi, über den Wistrich schreibt: »The Jews might seem outwardly submissive, he suggested, but their religion required them to hate Muslims and, where possible, to poison their food or cause them harmful illnesses.« Die frühe islamische Literatur enthielt Wistrich zufolge überdies eine »standard story«, in welcher der schmerzvolle, langsame Tod Mohammeds durch die Vergiftung der Jüdin Zeynab herbeigeführt wurde.

Natürlich bringt Georges Bensoussan auch Beispiele von Ausnahmen, von Freundschaften zwischen Muslimen und Juden, doch widerlegt er mit vielen Fakten das Märchen von einer arabisch-jüdischen Symbiose, das bis heute ein Axiom der kulturellen Linken und der Islamisten ist. Er erinnert daran, dass der Hamburger Historiker Matthias Küntzel einen Vortrag an der britischen Universität Leeds halten sollte – Die Erbschaft Hitlers: der muslimische Antisemitismus im Nahen Osten. Aufgrund von Protesten muslimischer Studenten musste der Titel geändert werden in Die Nazi-Erbschaft: der Export des Antisemitismus in den Nahen Osten. Doch bis heute werden die von Arabern begangenen Pogrome in den kolonialen Territorien des Maghreb während der Herrschaft des Vichy-Regimes verschwiegen. Die meisten Fälle von Gewaltanwendung gegen Juden gingen von Muslimen aus, die keine Verbindungen zur extremen Rechten oder der Kolonialmacht hatten.

Die Erklärung, die just in einer Zeit verabschiedet wurde, in der palästinensische Terroristen praktisch täglich blutige Selbstmordattentate in Israel verübten – und nur wenige Tage vor den Anschlägen vom 11. September –, war von derart ausgeprägtem Hass auf den jüdischen Staat charakterisiert, dass sich selbst Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International, die selbst oft anti-israelische Berichte veröffentlichen, zumindest im Nachhinein von ihr distanzierten. In sie hatten all die hetzerischen Behauptungen und Forderungen Eingang gefunden, die beim Teheraner Vorbereitungstreffen ersonnen worden waren – inklusive der Forderung nach einem umfassenden Boykott Israels. Sie war die wahre Geburtsstunde der zeitgenössischen BDS-Bewegung. Der Weg führte somit mehr oder minder direkt von Teheran nach Durban – und von dort zu dem Aufruf, auf den sich die BDS-Bewegung beruft.

Doch die Beißreflexe rühren an allem, was dem »queeren Ressentiment« heilig ist, der Definitionsmacht, dem Ressentiment gegen »normativ schöne Männer«, »dem Hass auf vermeintlich privilegierte Schwule«, Pink-Washing, Islamophobie, ja gar an »queeren Jihadisten«. Oder wussten Sie etwa nicht, dass nach 9/11 in den USA die Queer-Community als Konsumentengruppe entdeckt und in die Gesellschaft integriert wurde, um sich dem War on Terror gegen das Feindbild des homophoben muslimischen Terroristen anzuschließen? Der amerikanischen Theoretikerin Jasmin Puar zufolge würden Muslime als krank, sexuell pervers und todbringend dargestellt, also mit den gleichen Adjektiven belegt wie vorher die als Queers ausgeschlossenen LGBTs. Andererseits, absurder ist das auch nicht als die antisemitische Vorstellung, das sonst üblicherweise als von Ultrareligiösen gesteuert imaginierte Israel sei besonders perfide, weil es Homosexuelle rechtlich schützt und ihnen für den Nahen Osten ansonsten unvorstellbare Freiheiten gewährt, um die Palästinenserinnen und Palästinenser besser unterdrücken zu können. Bei der Schilderung, wie der Anschlag von Orlando gegen Homosexuelle zu einem zumindest intersektionellen, wenn nicht gar rassistischen Anschlag umgedichtet wird, stockt einem schließlich der Atem: Dafür genügte die Tatsache, dass dort ob der Latin Night vor allem Mexikaner anwesend waren.

Der Zionismus, so viel soll klar werden, spaltet die Gattung ebenso wie der ›lesbische Separatismus‹ oder der radikale Feminismus – was auch immer man sich darunter vorzustellen hat. Im weiteren Verlauf ergänzt Atzmon seine Ansichten über den Zionismus, den er zwar zu Entstehungsbeginn befürwortet hätte, aber jetzt zu bekämpfen sich herausgefordert sieht, da er sich als Partikularismus erwies und nicht – wie von ihm erhofft, aber vom Zionismus für sich nie beansprucht – als Entfaltung einer universalen Idee. Das zeige sich im Umgang mit den ›Palästinensern‹. Darüber hinaus seien die Zionisten für globale Konflikte in Syrien, Libyen, Iran und im Irak verantwortlich zu machen, ganz einfach aus dem Grund, weil Israel keine Liebe zu seinen Nachbarn kenne.

Die Wortmeldungen der Infostelle Antisemitismus, der Holocaust-Vergleich sei obszön und linksradikal, die Empörung, wie sie von der Vertreterin der jüdischen Gemeinde in Kassel geäußert wurde, »es ist aus unserer Sicht höchst unverantwortlich und ein Ausdruck mangelnder Empathie gegenüber diesen Menschen, die Begriffe Auschwitz und Zyklon B im Rahmen einer künstlerischen und politischen Veranstaltung zu instrumentalisieren«, sind zwar richtig, aber dringen nicht zum Kern der Sache vor. Und so erwies sich auch die Verabredung, auf das ›Gedicht‹ Franco Berardis zu verzichten, als heiße Luft. Die frohlockende Meldung, die Veranstalter hätten ob des Protestes der Zivilgesellschaft eingelenkt, erwies sich als vorschnell: der Künstler zog zwar seine Bilder zurück, Berardi hingegen bekam Gelegenheit, umso mehr die Aufmerksamkeit auf sein ›Gedicht‹ zu lenken.

So bietet sich diese Spätseria wie von selbst zur Parodie der Souveränität an. Die Theatermacher der neuesten Salzburger Barockproduktion dürften etwas davon gespürt haben, dass die Übertragung der Handlung auf die gegenwärtige Lage in Europa in die reine und bloß alberne Travestie abgleiten muss: La clemenza di Tito oder: Wir schaffen das! Doch nicht nur um eine etwas tragischere Atmosphäre zu erzeugen, montierten sie andere Kompositionen Mozarts in die Oper ein, sie wollten gerade damit auch eine Art Aura für den Gegensouverän schaffen, den die Inszenierung in Wirklichkeit hofiert: eine Passage aus der c-Moll-Messe bei der Bitte um Erbarmen für die Flüchtlinge; Adagio und Fuge c-moll zur Vorbereitung der Terroristen auf das Attentat; das Miserere aus der c-Moll-Messe als Klage muslimischer Männer und Frauen nach dem Terroranschlag (einige Wochen nach der Titus-Premiere in Salzburg marschierten rund 200 Muslime unter dem Motto »Wir sind Muslime, keine Terroristen« über die Ramblas in Barcelona, wo wenige Tage zuvor der Terroranschlag mit 13 Toten und über 120 Verletzten stattgefunden hatte). Zuletzt lässt der Regisseur den großmütigen Herrscher an den Folgen des Attentats sterben, während bei Mozart gerade sein Überleben das gute Ende garantiert. Genauer gesagt: Der Souverän dieses Regietheatereinfalls begeht Selbstmord, indem er sich die Schläuche der intensivmedizinischen Behandlung, die ihn seit dem Anschlag ans Krankenbett fesselt, vom Leib reißt.

Das Kunstwerk ist der blinde Fleck der empirischen Ästhetik. Empirische Ästhetik könnte eine Auseinandersetzung mit Kunst, gespeist aus der Erfahrung an Kunstwerken, sein; im Verständnis des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik ist sie bloß Ausweis von wissenschaftlicher Kunstferne und von Verarmung der Erfahrung. So verwundert es nicht, dass das Institut Kunst unter dem Aspekt der Warenästhetik betrachtet; letztlich kann es in Analogie zur Erforschung der Kunstrezeption auch die Aufmerksamkeitsspanne und Wertschätzung, die ein potenzieller Konsument für ein beliebiges Supermarktprodukt aufbringt, erforschen.

Felix Weil sagte einmal über sich: Ich bin eher ein Macher, weniger ein Denker. Die Gründung des Instituts geschah in einem Moment, in dem er und seine revolutionär eingestellten Freunde felsenfest davon überzeugt waren, dass die sozialistische Revolution unmittelbar bevorstünde. Diesem revolutionären Prozess sollte das Institut das theoretische Rüstzeug liefern. Als sich der Gründer eingestehen musste, dass sie sich geirrt hatten und er daraufhin am Institut die Weichen neu – weg von der Ökonomie – in Richtung interdisziplinärer Theorie stellte, zeichnete sich zwar die weitere politische Entwicklung noch nicht ab. Abzusehen war jedoch, dass sich das Institut mit der programmatischen Verlagerung zu einer zwar progressiven, aber rein akademischen Forschungseinrichtung entwickeln würde. Das war nie die Intention des Gründers.

Daher ist die absolute Monarchie in Spanien eher auf eine Stufe mit asiatischen Herrschaftsformen zu stellen, als mit anderen absoluten Monarchien in Europa zu vergleichen, mit denen sie nur geringe Ähnlichkeit aufweist. Spanien blieb, wie die Türkei, ein Konglomerat schlechtverwalteter Provinzen mit einem nominellen Herrscher an der Spitze. In den verschiedenen Provinzen nahm der Despotismus verschiedene Formen an, entsprechend der verschiedenen Art, in der königliche Statthalter und Gouverneure die allgemeinen Gesetze willkürlich auslegten. So despotisch aber die Regierung war, so verhinderte sie doch die einzelnen Provinzen nicht, mit verschiedenartigen Gesetzen und Gebräuchen, verschiedenartigen Münzen, militärischen Fahnen von verschiedenen Farben und verschiedenartigen Steuersystemen zu operieren. Der orientalische Despotismus wendet sich gegen die munizipale Selbstregierung nur dann, wenn sie seinen unmittelbaren Interessen zuwiderläuft, ist aber nur zu geneigt, die Fortexistenz dieser Einrichtungen zu gestatten, solange diese ihm die Pflicht abnehmen, selbst etwas zu tun, und ihm die Mühen einer geordneten Verwaltung ersparen.

Oft zu hörende Behauptungen, man könne doch aus geleisteten Steuerabgaben ein politisches Mitspracherecht ableiten, verkennen ebenso den durch die Steuer garantierten Selbsterhaltungszweck des Staates wie jene Katalanen, die aus denselben Gründen ihren Unabhängigkeitsstatus begründen möchten. Überhaupt, und das sei hier nur angemerkt, beruht das erste Scheitern der derzeitigen katalanischen Unabhängigkeitsbewegung darauf, dass sie die Zentralgewalt der Madrider Regierung verdrängt und nach dem denkbar schlechtesten Bündnispartner verlangt, den sie hätte wählen können: der Europäischen Union (EU). Dadurch, dass der ehemalige Vorsitzende des katalanischen Regionalparlaments, Carles Puigdemont, nach Brüssel floh, unterstrich er die auch unter Linken weit verbreitete Auffassung, die EU könne, als überstaatliches Bündnis und mit angeblich gleichen Entscheidungsbefugnissen wie ein nationalstaatlicher Souverän ausgestattet, den ewigen Frieden wahren. Die Euskadi Ta Askatasuna (ETA), die über 50 Jahre lang die baskische Unabhängigkeit durch Terror erzwingen wollte, war sich der dafür notwendigen Gewalt bewusst, obgleich sich hier wiederum die Gewalt wahnhaft verselbständigt hatte. Insofern zeugen die heutigen katalanischen Separatisten nicht einmal mehr von der Notwendigkeit einer falschen Ideologie, verdrängen ebenso wie die Konsequenten Souveränisten jene Gewalt, die sie tatsächlich erst souverän werden ließe. Umso mehr – auch das gehört zu ihrer Verblendung durch die EU-Ideologie – bereiten sie islamistischen Terroristen den Boden. Während die Katalanen ihre Unabhängigkeit qua Volksvotum erwirken wollen, setzen die Konsequenten Souveränisten ihre Gegenstaatlichkeit durch bloße Willkür und praktizieren durch quasi-staatliche Wirtschaftsdirektion ein Programm der Autarkie.

Werner Krauß entlastet. Der Schauspieler Werner Krauß wurde von der Spruchkammer in Stuttgart in die Gruppe der Entlasteten eingereiht. Die vier Rollen in dem Film »Jud Süß« habe er übernommen, erklärte Werner Krauß während des Spruchkammerverfahrens, um eine etwaige antisemitische Verzerrung durch vier verschiedene Schauspieler zu verhindern. Charakterlose Glanzleistung.

Um nicht an der eigenen Herkunft irre zu werden und den Verstand zu verlieren, gibt es für Niklas Frank keine andere Möglichkeit, als sich schonungslos mit den Verbrechen des Vaters und auch der Mutter zu konfrontieren und verzweifelt gegen eine Gesellschaft zu rebellieren, die, kaum war das Morden vorbei, zur Tagesordnung schritt: »Böse Bilder trage ich im Hirn: Daß man nach dem Krieg Millionen Galgen an den Autobahnen aufgestellt hätte, US Henker Woods wäre langsam in Deinem beschlagnahmten Maybach an Galgen um Galgen vorbeigefahren und hätte den Falltürriegel gezogen – was für ein gesundes Knacken wäre durch Deutschland hinweggehallt, verursacht von den Genicken all der Richter, Staatsanwälte, Fabrikanten, Block- und Zellenwarte, Denunzianten – keiner von euch hatte das Recht weiterzuleben.«

Der zweite Schub von Misshandlungen beginnt. Marco Schönfeld wirft ihm nun etwas Spezifisches vor: mit seinen blondierten Haaren wolle Marinus ›vertuschen‹, dass er Jude sei. Die weiteren Fausthiebe sollen ein Geständnis erzwingen. Monika Spiering und ihr Lebensgefährte sind die ganze Zeit anwesend. Die Quälereien auf ihrer Veranda unterbinden sie nicht und Spiering meint schließlich lapidar zum Geprügelten: »Nu sag schon, dass du Jude bist, dann hören die auf.« Irgendwann sind der Schmerz und die Verzweiflung zu groß, und Marinus sagt: »Ja, ich bin Jude«. »Dann ging es richtig los«, wie Marcel Schönfeld mit all der nüchternen Rohheit in seiner zweiten Vernehmung zu Protokoll gab.

Inzwischen sind sogar Texte von Adorno und Arendt zum Thema Auschwitz in einem eigenen Band erschienen, und zwar 2014 im Verlag Goharshid in Teheran. Auf dem Umschlag des Buchs sieht man die entsprechende ›Ikone‹: Rampe und Eingangstor des Vernichtungslagers Birkenau. Es gehört zur Logik des Regimes, dass hier auf den ersten Seiten nicht der Kommentar fehlen darf, die Aussagen über die Vernichtung der Juden seien eine große Lüge, die von Zionisten propagiert werde, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Eine eigenartige spiegelbildliche Verkehrung: Man geht im Iran mit Adornos und Arendts Texten ähnlich um wie das Münchner Institut für Zeitgeschichte mit Hitlers Mein Kampf und macht sozusagen eine kommentierte Ausgabe.

Lanzmann als Regisseur bedient daher auch kein Genre, das des Dokumentarfilms beispielsweise. Er selbst drückt sich mit jedem Film neu aus, einzig die Beziehungen zu bereits entstandenen Werken lassen sich skizzieren. In jedem Fall transzendiert das Kunstwerk den Künstler, der steht mehr oder minder im Schatten seines Werks – gerade deutlich wird das im Fall des Selbstporträts, da er sein Selbst zum Gegenstand macht. Wenn ein filmeproduzierender Künstler – und Lanzmann gehört zu den wenigen, die das Format des Films durch den Film bereits reflektieren – dann über seine Filme Auskunft geben soll, rücken ebendiese notwendigerweise in den Hintergrund, seine Person erstrahlt im Rampenlicht. Und genau hier ist die Problematik zu verorten, soweit die bloße Ikonisierung der Künstlerperson stattfindet, die eine kritische Distanz stillzustellen droht.

Im Dezember 1962 schrieb Adorno an Scholem: »Ich beschäftige in diesen Tagen mich sehr intensiv mit Ihren ›Unhistorischen Thesen‹ zur Kabbala. Es bedarf keiner großen Ratekünste, damit Sie verstehen, daß mir diese Sache besonders wichtig ist. Es gibt, von allem anderen abgesehen, wohl auch nichts von Ihnen, worin eine so tiefe theoretische Beziehung zu Benjamin, zumal den geschichtsphilosophischen Thesen, sich äußert. Andererseits ist es ein unmenschlich schwerer Text, und obwohl ich doch wirklich an allerhand gewöhnt bin, maße ich mir nicht an zu behaupten, daß ich es ganz verstanden hätte… Adorno forderte Scholem im Laufe der 1960er Jahre wiederholt dazu auf, die philosophischen Implikationen seines Studiums der jüdischen Mystik auf eine explizitere, weniger esoterische Weise programmatisch zu formulieren, doch wich Scholem diesem Ansinnen stets aus, so auch bei dieser Gelegenheit. »Ich habe mich mit der Zustimmung, die unhistorischen Sätze über die Kabbala zum Druck zu geben, entschieden versündigt,« schrieb er, »ging freilich, entsprechend dem in einem dieser Sätze Gesagten, davon aus, daß sowieso kein Mensch davon Kenntnis nehmen würde und daß die sicherste Weise es versteckt zu halten, wäre, sie an einem gedruckten Ort wie einer solchen Festschrift unterzubringen. Jetzt wollen Sie einen Kommentar. Ja was denken Sie sich denn? So etwas gab es nur in den alten Zeiten, wo die Autoren die Kommentare gleich selber schrieben, und wenn sie klug waren, enthielten die meistens das Gegenteil von dem, was im Text stand. Ich werde mich hüten, mich da in die Brennesseln zu setzen. Von meinen Sätzen gilt: rette sich wer kann. Der Engel, der über die geistige Empfängnis gesetzt ist, heißt bekanntlich Laila, das heißt Nacht.«

Da sich Benjamins Werk nicht eindeutig für die Aufklärung in Anschlag bringen lässt, sondern sich der fetischistischen Phantasmagorie des Kapitals so sehr anheim gibt, dass tatsächlich fraglich ist, wie aus der Tiefe dieser Versenkung heraus noch Kritik zu äußern ist, geht Polemik gegen den Poststrukturalismus, welche methodisch ähnlich verfährt und sich aus dem Gemischtwarenladen ›Benjamin‹ die gefälligsten Passagen heraussucht, fehl. Die Frage, wie ein solches Denken, das tatsächlich am Kreuzweg von Magie und Materialismus steht, gesellschaftskritisch bleibt und seinen Anspruch auf Wahrheit nicht verliert, lässt sich nicht beliebig – der politischen Position der Autoren gemäß – entscheiden, sondern muss auch das Moment in Benjamins Philosophie reflektieren, welches der Faszination vor der Faktizität erliegt und in ihrem Gegenstand untergeht.

»Fuck Trump! Der Typ ist irre geworden!«, titelt Elsässer in seinem Magazin für Souveränität. Mit den Luftschlägen gegen syrische Ziele habe Trump gemacht, »was sich nicht mal Obama getraut hat! Damit hat er seine eigenen außenpolitischen Grundsätze verraten! Damit provoziert er eine direkte Konfrontation mit Russland! Damit vollzieht er den Schulterschluss mit Neocons und Israel-Lobby, mit Erdogan und Merkel und all den anderen Aggressoren!« Elsässers Wort in Gottes Ohr: Jetzt sei auch klar, »dass die Personalentscheidungen der letzten Wochen – das Rauskegeln vom Putin-Versteher Flynn und des Antiglobalisten Bannon aus dem inneren Kreis – kein Zufall war. Trump hat sich gegen diese Richtung und für den Schulterschluss mit den Neocons in seiner Familie (Kushner) und in der Partei (McCain) entschieden.« Die Hoffnungen »auf ein Kondominium Putin-Trump« seien »von den Yankees zerschossen worden. Alle Hoffnungen der souveränen Nationen liegen jetzt wieder allein beim russischen Präsidenten.«

Die sich formierende Umweltbewegung in Deutschland, mit der auch GEO großgeworden ist, war immer schon mehr braun als grün und hat sich die Aufmerksamkeit für ihre Themen stets mit dem Katastrophenbewusstsein der Deutschen erkauft. Ob Waldsterben, Ozonloch oder Klimawandel, immer steht die Katastrophe kurz bevor. Das Krisenbewusstsein der Deutschen manifestiert sich nicht nur in einer Verzichtsideologie: Wenn wir alle brav bio-fair-trade-regional Produkte kaufen, mit dem Rad zur Arbeit fahren, Energiesparlampen verwenden und Urlaub in der Region machen, wenn wir auf Fleisch verzichten und auf den Luxus von Wäschetrocknern, Haarföhns, Wegwerfwindeln und Fernflügen, dann ist das ein Beitrag zur Erlösung aus dem Jammertal der Klimakatastrophen, den die Deutschen zugleich als die Sache um ihrer selbst willen verstehen können, die zu betreiben sie immer schon auserwählt waren. Diese Ideologie zeigt sich auch in der Klimawandelkommunikation von GEO. Die wissenschaftlichen Grundlagen werden nur anfangs behandelt und kaum in Frage gestellt, stattdessen geht es um erneuerbare Energien, um Handel mit CO₂-Zertifikaten, um klugen Konsum, um Ernährung.

Zum jüdischen Kontrahenten Luthers und aller Judenhasser der Reformationszeit wurde Josel von Rosheim (1476–1554), eigentlich Joselmann Ben Gershom Loans. Er lebte als Rabbi, Händler und Geldverleiher in der Stadt Rosheim im Elsass und war zunächst Sprecher, Vorsteher und Leiter der jüdischen Gemeinden im Elsass. Allmählich übernahm er die Rolle eines anerkannten überregionalen Interessenvertreters der Juden. 1520 verlieh ihm Kaiser Karl V. das Privileg, als oberster Vertreter für die rechtlichen und religiösen Angelegenheiten der jüdischen Gemeinden im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und in Polen zu fungieren. In den Folgejahren setzte er sich energisch für jüdische Interessen ein. So erwirkte er einen Schutzbrief des Kaisers für alle Juden des Reiches. Während des Bauernkrieges überzeugte er die elsässischen Bauern, die beschlossen hatten, die Stadt Rosheim zu stürmen, in einer längeren Disputation mit ihren Anführern, Stadt und Juden zu verschonen. Nach der türkischen Belagerung Wiens von 1529 kursierte ein Plan, alle Juden aus dem Reich zu vertreiben. Josel von Rosheim konnte dies mit diplomatischem Geschick verhindern.

Die Verkennung des Gewaltmonopols zeigt sich bereits darin, dass der Reichbürger den Souverän nur als Firma wahrhaben möchte, um sich ihm gegenüber selber als der eigentliche Souverän zu imaginieren. Wie viele andere reimt auch Wolfgang P. sich zusammen, dass das Präfix Personal in Personalausweis belegen würde, dass der Besitzer jenes Ausweises Personal der BRD, die daher kein Staat, sondern ein Unternehmen darstelle – oftmals reduziert auf eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (›BRD GmbH‹). Diese Staatlichkeit sei einer Fiktion geschuldet und sobald die Bürger solcher vorgeblichen Staatsbürgerschaft nur entsagen, sei auch die BRD hinfällig. Unter Rekurs auf diese Argumentationsfigur, die für die konsequenten Souveränisten maßgeblich ist, erklärte er, handschriftlich dokumentiert und im Internet verbreitet, durch eine ›Lebendmeldung‹, seinen Staatsaustritt. Wolfgang P., der den Staat als Firma apostrophiert, kündigt damit, wie er es meint, sein Dienstverhältnis auf.

Am 7. März 2017 wurde der französische Historiker Georges Bensoussan in Paris vom Gericht freigesprochen. Dem Direktor des Pariser Mémorial de la Shoah und Autor wichtiger Bücher wurde »Provokation zum Rassenhass« vorgeworfen, weil er in einer vom Philosophen Alain Finkielkraut moderierten Sendung am 10. Oktober 2015 folgende Sätze sagte: »Die Integration ist steckengeblieben. Heute haben wir es mit einem anderen Volk zu tun, das sich innerhalb der französischen Nation gebildet hat, das eine Anzahl von demokratischen Werten, die uns vorwärtsgebracht haben, zurückdrängt. … Diesen virulenten Antisemitismus … kann man nicht stillschweigend gewähren lassen. Es gibt einen algerischen Soziologen, Smain Laacher, der mit großem Mut in einem Film von France 3 gezeigt wurde, und der sagte, ›es ist eine Schande, dieses Tabu aufrechtzuerhalten, zu wissen, dass in den arabischen Familien in Frankreich – und die ganze Welt weiß es, aber keiner will es sagen – man den Antisemitismus mit der Muttermilch einsaugt.‹«

Auch hat sich der ›Alltag‹ der Gefangenen durch ihren wiedererlangten Status als Rechtssubjekt nicht automatisch verbessert. Nachdem bereits 2002 Camp X-Ray aus Platzmangel geschlossen wurde, verschärfte sich, durch die Eröffnung des Komplexes von Camp Delta, der aus sechs Lagern besteht, die Lage der Gefangenen. Denn litten in Camp X-Ray noch alle gleichermaßen unter den schlechten Bedingungen, wurde nun ein System installiert, in welchem mit Privilegien Häftlinge gegeneinander ausgespielt werden konnten, was freilich auch tendenziell der Praxis in vielen Gefängnissen innerhalb der Rechtsstaaten entspricht. Die Geschichte von Guantanamo zeigt so gesehen, dass die Grenzen zwischen Ort und Nicht-Ort des Rechts, rule of law und Herrschaft des Rackets durchaus fließend sind. In der Debatte, die nun seit mehr als zehn Jahren über Guantanamo geführt wird, werden die USA aller möglicher Menschenrechtsverletzungen bezichtigt; die Vorwürfe entstammen zum einem dem tatsächlichen Schrecken über das Vorgehen in Guantanamo, zum anderen der eigenen Ohnmacht und der ideologischen Wirkmächtigkeit der Menschenrechte und ihren auf der Grundlage der bestehenden Verhältnisse nicht einlösbaren Versprechen von einem guten Leben für alle, woraus sich wiederum die Uneinsichtigkeit speist, dass die Menschenrechte für ihre universelle Gültigkeit einen über den Staaten regierenden Souverän bräuchten, den es nicht geben kann: Das Gewaltmonopol, auf dem Souveränität beruht, ist nur möglich durch das potentiell feindliche Verhältnis der Staaten zueinander. Seine Unmöglichkeit wird gerade von jenen Vereinten Nationen unter Beweis gestellt, die als dieser Souverän imaginiert werden.

Wenn die Waren wegen der Zölle das Doppelte kosten oder gar nicht erst importiert werden, dann richtet sich dieser Volkswille, obwohl er doch auf die Autarkiepolitik ansonsten so dermaßen fixiert ist, dass seine Träger für sie zu sterben bereit sind, gegen die Autarkie. Der Weltmarkt, den keiner ja je wirklich gewollt hat und für dessen Entstehung es nie eine politische Bewegung gegeben hat, sondern der sich hinter dem Rücken der Einzelstaaten durchsetzte, entstand in diesem Zwiespalt der Bürger, den sich im Weltmarkt ausbildenden Reichtum sich aneignen zu wollen, dabei aber auf den Staat setzen zu müssen, der aber nun einmal der größte Feind des Weltmarktes ist; ihn tendenziell zerstört. Man kann es auch so sagen: Das Volk ist ein Souverän, der sich immer wieder selbst an seinen größten Feind verrät und zu ihm überläuft.

Nur eine einheitliche europäische Regierung sei in der Lage, in den sich steigernden Macht- und Wirtschaftskämpfen auf der Welt der Rasse der Europäer ihre Lebensgrundlagen zu sichern: sie bilde keinen Bundesstaat oder Staatenbund mehr, sondern Europa selbst werde ein Staat. Mit dieser fixen Idee ist Oswald Mosely bis heute in Erinnerung geblieben: »Europe a Nation is the only solution«. Offenbar wollte er die Unterwerfung der verschiedenen faschistischen Bewegungen und Staaten Europas durch den zum Vernichtungskrieg treibenden Unstaat des nationalsozialistischen Deutschlands einfach nicht zur Kenntnis nehmen und stellte sich wie in einem Tagtraum vor, dass nunmehr aus jenen Bewegungen mitsamt dem mittlerweile besiegten Deutschland sogar ein gemeinsamer Staat hervorgehen könnte, der das Versäumte, die Verbrüderung aller europäischen Faschisten sozusagen auf Augenhöhe, nachhole und daraus einen einzigen Staat mit verschiedenen Völkern forme.

Wer das »Leben unserer Kinder und Enkelkinder ernst nehme«, müsse die Grenzen bewachen. Es verhält sich mit dem ganzen ausführlichen Gespräch der Weltwoche so, als gäbe es Außenpolitik gar nicht mehr. Das herbeibeschworene Leben unserer Kinder und Enkelkinder ist nur der emotionale Ausdruck davon, dass ab nun von den Optionen einer hegemonialen Außenpolitik im Sinne des Westens vollständig geschwiegen werden soll.

Das Problem besteht dann, wenn die USA als Hegemon wegbrechen, damit meine ich auch das, wofür sie stehen, den westlichen Liberalismus nämlich, dann ist auch das Modell, an dem sich Europa orientieren kann, flöten gegangen. Und Trump steht nun eben nicht für diesen Liberalismus. Europa aber braucht eine Orientierungshilfe, denn wenn Europa sich an sich selbst orientiert, geht es zugrunde.

Florian Markl: Also schon allein der Versuch, ein bisschen Rationalität in die Diskussion zu bringen, wird sofort als Trump-Apologetik dargestellt. Die Diskussion über Trump ist noch um einiges verrückter als Trump selbst. Und in Europa ist sie gepaart mit unglaublicher Heuchelei. In den USA gibt es immerhin Gegenstimmen, die versuchen, zumindest auf halbwegs rationaler Ebene darüber zu diskutieren.

Simon Gansinger: Ein Medium wie das Wall Street Journal ist ohne Vergleich in Europa. Diese Zeitung hat vor der Wahl kein endorsement für Trump rausgeschickt, sie hat sich aber auch zurückgehalten, was Clinton betrifft. Bret Stephens zum Beispiel, der beileibe kein Freund von Trump und seiner Politik ist, bemüht sich im Wall Street Journal darum, die gegenwärtigen Debatten und policies einigermaßen nüchtern zu analysieren und zu trennen, was daran tatsächlich absolut jenseitig und was daran diskutabel ist. Es geht darum, bei aller Abneigung gegenüber Trump eben nicht in diese blinde Wut zu verfallen, die durchaus üblich ist in Europa und auch in amerikanischen Medien wie der New York Times oder dem New Yorker, der am Tag nach der Wahl vom Ende der Demokratie geschrieben hat.

Marlene Gallner: Auch in anderen Zeitungen der USA: In der Washington Post zum Beispiel findet sich auch dieses platte Anti-Trump-Ressentiment, auch hier wird vom »muslim ban« gesprochen...

In solchen Konflikten ernährt irgendwann der Krieg den Krieg wie es im Dreißigjährigen Krieg hieß. Das heißt, Syrien ist hochgradig fragmentiert. Es existiert niemand, der quasi von oben die Order geben kann: »Jetzt ist Frieden. Ab morgen schweigen die Waffen.« … Man hat zugeschaut, wie staatliche Souveränität vollkommen ausgehöhlt wurde. Syrien ist heute zwar de facto noch irgendwo auf der Landkarte als Staat schraffiert, aber das reale Syrien ist ein Gebiet, in dem nur noch parastaatliche Souveränität ausgeübt wird. Und zwar nicht nur in den großen Teilen, also denen vom Regime, von den Rebellen, vom Islamischen Staat kontrollierten Gebieten. Inzwischen gibt es die syrische Armee als funktionsfähige Organisation ja auch nicht mehr.

Die Zeitschrift Tumult ist so etwas wie Compact für Intellektuelle, und hier fungiert Frank Böckelmann als Jürgen Elsässer: Er kritisiert im Editorial vom Sommer 2016 die »fadenscheinigen Sinnschablonen«: »Toleranz, Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Gleichberechtigung«. »Mit solchen Leerformeln, bloßen Teilnahmeregeln (Teilnahme woran?), soll die Solidargemeinschaft zusammengehalten werden.« Wodurch die Formeln zu Leerformeln werden, interessiert nicht. Wichtig ist nur eins: die Analogie zum Finanzkapital, früher sagte man ›raffendes Kapital‹: »Was sind sie anderes als soziale Entsprechungen des Finanzkapitals, überallhin konvertierbare Währungen?« Dem wird das ›schaffende‹ gegenübergesetzt, das nun einmal ein gestähltes Volk ausmacht, während sich mit dem »Gebrauch« der Finanzkapital-Leerformeln automatisch die »Hoffnung auf ein verhätscheltes Dasein« verbinde. »Dem Glauben an diese Kinderwelt zuliebe sollen die Reste des Unegalen abgeschafft werden – Nationen, Sprachen, Zugehörigkeit, Weiblichkeit/Männlichkeit, Mythen und Riten, kurzum, alle Lebens- und Sterbensgründe.« Das Wichtigste, in dem sich alles zusammenfasst, was so altbacken alteuropäisch daherkommt, es kommt zuletzt: die Sterbensgründe, also die Tötungs- und Todesbereitschaft.

Aus dem Jahrbuch Extremismus & Demokratie: In der Folge rückt ein Teil des antideutschen Spektrums von dem praxisorientierten Strang ab, der ab 2001 vermehrt in der Szene Einzug findet, und besinnt sich wieder auf die theoretische Arbeit. Nicht nur Bahamas gibt die ›Ideologiekritik‹ als neue Selbstzuschreibung aus. Nach einem Richtungsstreit über die Berliner und Wiener Ideologiekritik nimmt die neu gegründete Zeitschrift sans phrase –Zeitschrift für Ideologiekritik fortan eine Avantgardefunktion für die Theoriearbeit innerhalb des antideutschen Spektrums ein. So hat sich sans phrase weder ein theoretisches noch politisches Programm auferlegt, sondern einzig der Ideologiekritik verschrieben, um damit ›dem kollektiv wirksamen Wahn zu widersprechen in dem Wissen, dass er dem Innersten der Gesellschaft entspringt, dort wo das Subjekt die Krise ›bewältigt‹, die das Kapitalverhältnis seinem Wesen nach ist. … Am Hass, der Israel entgegenschlägt, weiß diese Zeitschrift darum sans phrase die heute gefährlichste Konsequenz solchen Wahns zu erkennen und zu denunzieren.‹

Nicht Religionskritik, vielmehr die islamische Religion wird zu etwas Emanzipatorischem stilisiert und ihre Anhängerinnen und Anhänger werden als neue revolutionäre Subjekte imaginiert, da sie sich in der religiösen Form gegen die Unterdrückung des ›Volks‹ auflehnen. Demnach sind es heutzutage vor allem Musliminnen und Muslime, mit denen politisch zusammengearbeitet werden soll, die ezidische oder kurdische Zugehörigkeit, Frauen oder LGBT-Personen erscheinen daneben als quantité negligeable. »Um Rassismus konsequent entgegenzutreten, ist es notwendig, sich mit allen angegriffenen Musliminnen und Muslimen zu solidarisieren, nicht nur mit den ›eh Lieben‹«. Finden sich also Sexismus, Homo-, Inter- und Transphobie etwa bei türkischen oder Islamfaschistinnen und ‑faschisten, kann und darf dem aufgrund des eigenen Anspruchs, der sich als Antirassismus ausgibt, nichts entgegengesetzt werden, da Musliminnen und Muslime nicht vor dem Hintergrund ihrer Handlungen und Worte, sondern ihrer Religionszugehörigkeit betrachtet und bewertet werden.

Auf die Ähnlichkeiten von Bullshit und ›echter‹ Scheiße legt Frankfurt selbst großen Wert. So sei Bullshit, ebenso wie die Ausscheidungen des Verdauungssystems, nicht nur an sich dreckig, sondern ebenso unsauber und gedankenlos hergestellt: »Exkremente sind niemals in besonderer Weise gestaltet und gearbeitet. Sie werden nur ausgeschieden und entsorgt. Sie mögen eine mehr oder weniger in sich geschlossene Form haben, aber ganz sicher sind sie nicht ›mit größter Sorgfalt gearbeitet‹.« Dabei wird der »Bullshitter« als sehr potent imaginiert, schließlich ist nicht von Fliegenkot die Rede, sondern von Bullshit, den Exkrementen eines Tieres, das zu den stärksten, potentesten und angriffslustigsten Symbolen der Kulturgeschichte gehört. Von der vermeintlichen Potenz des Gegners bleibt im Bullshit nur noch ein großer Haufen, das tote Derivat unwissenschaftlicher Gedanken.

Zur Illustration seiner Thesen bemüht Gruen auch die inadäquatesten Vergleiche, so fungieren in seinem Artikel Identität und Unmenschlichkeit Kindersoldaten in Mosambik und deren brutal erzwungene Identifikation mit und Anpassung an den Aggressor als Versinnbildlichung der Entstehung von »Gefühlskälte« und Feindbildern in der westlichen Gesellschaft. Endgültig absurd wird es, wenn sich Gruen im selben Artikel zu den rechtsradikalen Übergriffen im sächsischen Hoyerswerda 1991 (im Gruenschen Sprachduktus lediglich als »Gewaltausschreitungen« beschrieben) der Meinung eines von ihm angeführten Pfarrers anschließt, es handele sich um »Folgen der Liebesverluste der Kinder dieser Stadt«.

Diplomatie gegenüber internationalen Medien also, antiisraelischer Klartext gegenüber arabischen – nichts Ungewöhnliches für arabische Funktionäre und Politiker; auch Jassir Arafat beispielsweise sprach bekanntlich stets mit zwei Zungen, Mahmoud Abbas hält es genauso. Der Sport ist in Bezug auf den Umgang mit dem jüdischen Staat ein getreues Spiegelbild der Politik, und deshalb lehnen jene Staaten, die Israel nicht anerkennen, auch jeglichen Wettstreit, ja, überhaupt jegliche Begegnung mit Israelis im Rahmen von Wettkämpfen rundweg ab. Und wenn doch mal ein arabischer Sportler gegen einen israelischen antritt, verweigert er ihm im Zweifelsfall die sonst üblichen Gesten des Fairplay. So wie der ägyptische Judoka Islam El-Shehaby, der in Rio gegen den Israeli Or Sasson zu kämpfen hatte und diesem nach seiner Niederlage demonstrativ den obligatorischen Handschlag verweigerte. Das Publikum, immerhin, pfiff und buhte ihn dafür nach Kräften aus.

Jenes ›gestörte Verhältnis‹, als welches man den Nationalsozialismus betrachtet, soll, so die Intention des Herausgebers, seine Fortsetzung bis in alle Zukunft finden: linke Ontologie, die keine Spur von Utopie, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft sich zu imaginieren versuchte, mehr in sich aufzunehmen bereit ist. Oder anders ausgedrückt: Indem das ›gestörte Verhältnis‹, an dem beide Parteien so eine Mitschuld tragen würden, ontologisiert wird, ist der wahnhafte Antizionismus, der das ›gestörte Verhältnis‹ fortsetzt, nicht weiter verwunderlich: Der permanente Versuch, den Staat der Juden von der Landkarte zu tilgen, findet somit eine Plausibilität, mehr noch: eine Rechtfertigung.

Auch vor historischen Vergleichen schreckten die linken Attentäter nicht zurück. Mit derselben Intensität, mit der sie die durch Entebbe aufgebrochene Erinnerung an die Shoah abzuwehren versuchten, wurden die Israelis zu neuen Nazis gemacht. So hieß es in der oben zitierten Erklärung weiter: »Ähnlich wie im Dritten Reich auch schon versucht wurde, die Deutschen mit Propagandafilmen auf Judenmord und Kommunistenhetze einzustimmen, sollen die Entebbe-Filme – wie andere Kriegsfilme dieser Machart auch – dazu dienen, die Palästinenser als Unmenschen darzustellen und damit zu verhindern, daß die Hintergründe des Kampfes der Palästinenser klargemacht werden können.« Die Wortwahl ist eindeutig. In klassischer Täter-Opfer-Umkehr werden die Israelis im weiteren Verlauf der Erklärung explizit zur »Herrenrasse« und die Palästinenser zu »Untermenschen«. Damit kann die gewünschte Opferidentifikation aufrecht erhalten werden, während beiläufig die Deutschen während des Nationalsozialismus als verführt exkulpiert und die Filme als Propaganda denunziert werden. Mit der eigenen NS-Vergangenheit brauchten sich die deutschen Kämpfer also nicht länger konfrontieren. Die Opfer von gestern wurden zu den Tätern von heute und die Mörder der PFLP zu den eigentlichen Opfern umgedeutet, mit denen bedingungslose Solidarität geübt werden müsse.

Auch Michael Brenner streicht die Differenzen zwischen Jabotinsky und seinen heutigen Erben heraus. In seiner bei C.H. Beck erschienenen, ausgesprochen instruktiven Studie zu den diversen Konzeptionen jüdischer Staatlichkeit in den früh-zionistischen Strömungen und zum Spannungsverhältnis zwischen der Sehnsucht nach Normalität und der notwendigen Sonderstellung Israels zeigt er, dass Jabotinsky zwar unbedingt dafür war, die jüdische Einwanderung nach Palästina auch gegen den Willen der arabischen Bevölkerung durchzuführen und die Gründung des Staates Israel mit aller Gewalt durchzusetzen, gleichzeitig aber mehrfach die Notwendigkeit betonte, der arabischen Minderheit in dem zu gründenden jüdischen Staat gleiche Rechte zu geben. Brenner verdeutlicht, dass Jabotinskys Konzeption des zukünftigen Staates letztlich trotz aller Unversöhnlichkeit gegenüber den arabischen Feinden des zionistischen Projekts keineswegs auf einen »rein jüdischen Nationalstaat« hinauslief.

Die Auslöschung Israels wird so zu einem ethischen Imperativ im Namen der universellen Menschenrechte und der Demokratie, der gegen den von Adorno formulierten kategorischen gewendet ist. Badiou zufolge ist es »unvernünftig«, sich als Konsequenz aus Auschwitz irgendetwas aufzwingen zu lassen, geschweige denn, einen kategorischen Imperativ, der nichts anderes meinen kann als die Solidarität mit Israel und die Verteidigung jener gesellschaftlichen Institutionen, die der Wiederholung des Judenmordes im Wege stehen: »Ich will nur sagen, dass man dieses Werden [Israels] nur rationell denken kann, wenn man aufhört, seine Existenz zu rechtfertigen, die sich – egal was man davon denkt – auf dem Rücken der Palästinenser gründet, durch das kontinuierliche Erwähnen der düsteren Episoden der europäischen Geschichte.« Badiou beruft sich hier ganz zurecht auf die Rationalität, denn schließlich geht es ihm darum, das der Rationalität entzogene, Hinzutretende abzutun, jene von Adorno benannte »somatische, sinnferne Schicht des Lebendigen«, »Schauplatz des Leidens« in den Lagern.

Die jüngsten Auseinandersetzungen in Kurdistan haben also recht wenig mit Projektionen oder Wahn zu tun, sie sind recht real. Und sie helfen leider einmal mehr, den Konflikt massiv zu polarisieren. Und daran haben Akteure im Nahen Osten generell ein Interesse: Weg mit den Grautönen: Entweder du bist mit mir oder dem Feind. Und Feinde gehören vernichtet. Gab es bis letztes Jahr die vage Hoffnung auf eine größere Pluralität, eben auf eine Entwicklung, für die etwa teilweise die HDP steht, steht man sich heute wieder unversöhnlich gegenüber. Kurzfristig profitieren sowohl Erdogan als auch die PKK von dieser Entwicklung, die Bevölkerung zahlt den Preis. Was langfristig sein wird, kann niemand sagen.

Die Revidierung des einstmaligen Appeasements dank Churchills und Roosevelts Engagement, die – blickt man auf die damalige Entwicklung der Produktion in den USA – neue ökonomische Tatsachen schaffen konnte, ist gewissermaßen in Horkheimers Rekurs auf den philosophischen Idealismus, in die unabdingbare Spekulation auf die Versöhnung des Allgemeinen und Einzelnen, eingegangen. Doch der Rekurs, der es Horkheimer erlaubte, von der Resistenzkraft des Rechts überhaupt zu sprechen, erfolgte und konnte nur erfolgen vor dem Hintergrund der finstersten Prophezeiungen der Kritischen Theorie über die weltweite Durchsetzung der Rackets gegenüber allen rechtsstaatlichen Mechanismen – auch denen der USA. Und diese Prophezeiungen sind gleichfalls darin begründet, dass es sich eben um Mechanismen handelt, um Vermittlungsformen, deren Notwendigkeit – Zwangsgewalt und Gewaltmonopol immer vorausgesetzt – unabhängig vom Bewusstsein so wenig existiert, wie der sich selbst verwertende Wert, dem das Bewusstsein im Unterschied zum Recht blind zu folgen hat, auch nur ein Atom Naturstoff enthält. Darum ist es die natürlichste Sache von dieser Welt, dass die entsprechenden Rackets, die sich die Staatsgewalt aneignen, in und mit rechtsstaatlichen Methoden, die sie aus irgendwelchen Rücksichten noch beibehalten, darauf hinarbeiten können, diese selbst abzuschaffen, setzt aber im Individuum die Bereitschaft voraus, das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das es dem Recht verdankt, zugunsten einer subjektlosen Gemeinschaft preiszugeben, als deren ›Objekt‹ nur noch der »totale Feind« (Carl Schmitt) gelten kann.
Die Hoffnung zu enttäuschen, dass es in den Händen der Akteure auf den Märkten und in den Staatsapparaten läge, die Verwertung des Werts der Vernunft zu unterwerfen und das Irrationale an der Rationalität des Rechts zu bannen, gilt seit Marx zwar als der vornehmste Zweck der Kritik der politischen Ökonomie. Seit Auschwitz kommt als praktischer Imperativ aber die Aufgabe hinzu, diesen Zweck ebenso als Mittel zu betrachten, jeder Verharmlosung dessen, was droht, zu widersprechen – nicht zuletzt, wenn sie sich auf die Resistenzkraft des Rechts berufen zu können glaubt. Umso infamer ist es, von Souveränität als einer Maschine zu salbadern, die als solche das Schlimmste verhindern könne.

Moishe Postones Kritik an dem Buch Eichmann in Jerusalem lautet, dass Hannah Arendt hier (wie schon in ihrer Studie über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) die Antinomie zwischen Universalität und Besonderheit nicht aufgelöst habe: Ihr Konzept des Allgemeinen bleibe »abstrakt«, es erwachse nicht aus einer Betrachtung der »Besonderheit« oder »Spezifität« des Holocaust. Daraus resultiere bei ihr letztlich das haltlose Urteil über die Judenräte ebenso wie ihre Vermischung der eigenen Hoffnung in die Schaffung rechtlicher und politischer Institutionen, die auf einer neuen Kategorie der Menschheit beruhten, mit bestehenden rechtlichen Normen – und diese Vermischung geht natürlich zu Lasten des Staates Israel. Damit werde die Überlegung, in welchem Maß die juristische Form allein eine adäquate Reaktion auf solch ein erschütterndes historisches Ereignis konstituieren könnte, ausgeklammert.

Der späte Marx hat absolut keine intellektuelle Anziehung für mich gehabt. Ich habe versucht, und leider habe ich auch das bei Hannah Arendt gemacht, den ersten Band des Kapital zu lesen. Sie war die erste, es ist sehr komisch, die erste, die Russisch konnte, die das überhaupt gelernt hat. Sie war nicht die sympathischste Kursleiterin. Trotzdem war es aufregend, es überhaupt zu lesen. Ich habe Hegel und Marx bei Hannah Arendt gemacht. Niemand sonst hat das gelehrt. Und sie war Mitglied eines besonderen interdisziplinären Programms an der Universität Chicago, dem sogenannten »Committee on Social Thought«. Dort konnte sie machen, was sie wollte. Das war für keinen Fachbereich. Es war so elitär, dass sie sogar Kurse nur mit Einladung abhalten konnte, zehn Studierende, die sich samstagmorgens trafen.

Jede noch so groteske Szenerie kann allerdings gesteigert werden. Keine fünf Minuten später ziehen Autonome im schwarzen Dresscode vor die großflächigen Fenster des Cafés mit einem Bettlaken, auf dem zu lesen steht: »Gegen Gewalt und Faschismus – Pegida bekämpfen«. Beifallrufe von links, Unbehagen bei den Gästen, routinierte Empörung von rechts. Ein Herr steht auf, zieht den Vorhang zu und setzt sich wieder. Die unaufhaltsamen Autonomen lassen nicht ab und versuchen sich im eher trägen Stürmen des Ladenlokals. Die zierliche Kellnerin, die knappe 50 Kilogramm wiegen dürfte, hält die Tür versperrt. Erfolgreich. Einem der Vermummten gelingt es dennoch, eine geballte Faust durch den Türschlitz in den Laden zu strecken und vermutlich etwas gegen den Faschismus zu rufen. Die faschistische Drohung wurde gebannt. Alles läuft nach Schema. Alte Herren, die zweifelsohne unangenehm sein mögen, hatten ihre Aufmerksamkeit erhalten. Der linke Tisch triumphiert und zieht Kameras mit meterlangen Objektiven aus den Taschen und schießt Porträtfotografien und Ansichtskarten für das antifaschistische Fotoalbum. Die Gäste beeilen sich, nach der Rechnung zu fragen. Vorhang zu. Es wird Abend.

Wenn Perry Anderson über das Haus von Zion spricht, gibt es nur einen einzigen Hinweis auf Nationalsozialismus und Shoah, dass nämlich in Europa, wo es zum Glück keine mächtige Israel-Lobby gebe wie in den USA, noch immer falsche Schuldgefühle die Außenpolitik bestimmten: »European guilt at the Judeocide ensures ideological commitment to Israel«, obwohl doch die Mehrzahl der Bevölkerung ganz anders denke. So ist es nur logisch, dass Anderson und die New Left Review die atomare Aufrüstung in Teheran nicht ungern sehen: »that would end Israel’s monopoly of nuclear weapons in the region«. Hier gilt der neue marxistische Imperativ: Denken und Handeln wieder so einzurichten, dass Auschwitz sich wiederhole.

»Ihr solltet alle vergast werden!«, brüllt die junge Frau. Sie hat sich aus der Gruppe der Palästina-Aktivisten gelöst und steht kaum fünf Meter vor den Gegendemonstranten mit den israelischen Fahnen. Sie will Gehör finden und wiederholt sich lautstark. Später gibt sie der Polizei zu Protokoll, das wäre gar nicht ihre Idee gewesen, sie wäre aufgestachelt worden und eh zu jung, um all das recht zu begreifen; man möge sie doch laufen lassen.

»24. April 1945: Seit einer Woche haben wir in Lüneburg englisch-amerikanische Besetzung. Eigentlich kann man sich nicht beklagen. Es ging ohne einen einzigen Schuß ab. Lüneburg ist allerdings Lazarettstadt. Auch sonst verlief alles ruhig. Wir haben natürlich Ausgangssperre zu bestimmten Zeiten usw. … Im Großen und Ganzen ist es halb so schlimm und von uns aus ist viel Propaganda gemacht worden. Doch wenn man sie sich schon ansieht, wie sie überall als Helden auftreten, wie ein Deutscher überhaupt nichts mehr zu sagen hat. Wie sie hier zum Trotz alle Gehsteige kaputtfahren, wie sie uns im Material überlegen sind, wie sie stolz durch unsere Straßen fahren, dann kannst du an dich vor Wut nicht mehr fassen. Doch nichts kann man dagegen tun, gar nichts, vollkommen ohnmächtig ist man. Nur abwarten und sich ruhig verhalten. Genau das ist das Schwerste.«

Ist die gemeinsam von Friedrich Pollock und Max Horkheimer entwickelte Staatskapitalismusthese der »blinde Fleck der Kritischen Theorie«, wie Gerhard Scheit im letzten Heft der sans phrase konstatiert hat? War sie, wie er formuliert, nur eine Theorie der Innenpolitik, die den latenten Kriegszustand, in dem Staaten sich befinden, »verdrängt«? War das Institut vor 1933 wirklich unfähig, die seinerzeit verbreiteten Illusionen über die friedenserhaltende Macht des Völkerbundes zu durchschauen, wie Scheit behauptet? Wenn im Folgenden diesen Fragen nachgegangen wird, so ist dies nicht als Kritik an Scheits Ausführungen über internationales Recht und Israelfeindschaft miss zu verstehen, mit denen sich der Autor in vollstem Einverständnis befindet. Vielmehr geht es darum, ob die Staatskapitalismusthese zu diesen Ausführungen im Widerspruch steht und ob sie für eine Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft fruchtbar zu machen ist.

Moishe Postone war sich durchaus bewusst, dass er in seinem Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialismus« nur eine spezifische Erscheinung des modernen Antisemitismus als Ausprägung einer besonderen Form des Antikapitalismus und nicht etwa ein selbstbewusstes bürgerliches Denken behandelte: »In diesem Beitrag geht es um einen anderen Strang, nämlich um jene Formen von Romantizismus und Revolte, die ihrem Selbstverständnis nach anti-bürgerlich sind, in Wirklichkeit jedoch das Konkrete hypostasieren und damit innerhalb der Antinomie der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen verharren.« Es sind vor allem seine wert- und ideologiekritischen Nachfolger, die die von Postone analysierte Zuordnung, Jude gleich Abstraktion, über den konkreten Fall hinaus als gegeben annehmen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sowohl Kenneth Marcus als auch David Nirenberg sich mit dem Antisemitismus und Antizionismus Alain Badious auseinandergesetzt haben, denn dieser dreht die von den Nazis bekannte Zuordnung in mancher Hinsicht um. Israel gilt Badiou gerade deshalb als böse, weil es nicht abstrakt genug sei. Darin stimmt er mit Jürgen Habermas und all denen überein, die Israel von einem postnationalen Standpunkt aus kritisieren.

Amérys Aufsätze zum Antisemitismus, die sich heute noch ebenso aktuell lesen wie vor vierzig Jahren, waren Appelle an die Protestbewegung, sich auf sich selbst zu besinnen und zu erkennen, dass Israel kein faschistisch-imperialistischer Aggressorstaat war und auch kein Land wie irgendein anderes, sondern »die Zufluchtsstätte, wo Überlebende und Verfolgte nach langer Wanderschaft sich in tiefer Erschöpfung niederließen«. Noch in der Hoffnung, dass die Linken bloß geschichts- und realitätsblind und nicht antisemitisch waren, zeigte Améry, warum jeder Angriff auf Israel in der Tat ein Angriff auf die Juden darstellte …

Daß ich es nur ganz persönlich eingestehe: die Lektüre der Aufsätze Horkheimers hat mich, da ich mich doch bemühe, der irrationalen Wahl zwischen dialektischer und analytischer Vernunft zu entrinnen, in einen geistigen Zwiespalt gestoßen, der sich subjektiv als ein Gefühl völliger Hilflosigkeit dartut.

So gilt auch für Glucksmann, was für die konsequentesten der neokonservativen Denker kennzeichnend ist: In der Rückwendung zur antiken Philosophie wird der Ausweg aus den Aporien der Aufklärung gesehen, der aber letztlich nur noch tiefer in sie hineinführt. Das lässt sich auf unterschiedliche Weise an Leo Strauss wie an Eric Voegelin und Hannah Arendt zeigen. Bei Glucksmann aber nahm dieses Dilemma besonders grelle Formen deshalb an, weil er – in Sartrescher Tradition – unter allen Umständen am politischen Engagement festhalten wollte, worin freilich auch das Wahrheitsmoment liegt, dass es nach Auschwitz kein Denken mehr geben kann, dass »der Parteinahme zu den Umtrieben der Welt« (Glucksmann) sich enthielte. … Wer wissen möchte, woher bei Richard Herzinger die Schärfe seines Urteilsvermögens wie auch die Dumpfheit seiner Ressentiments kommen, lese die Bücher von André Glucksmann.

FM: …wenn es um die Politik der USA gegenüber Israel geht, wo Obama ja angetreten ist mit der Erklärung, mehr Tageslicht zwischen die USA und Israel zu bringen, war natürlich Clinton die diplomatische Speerspitze, die das durchgeführt hat. Es war Clinton, die die ersten öffentlichen oder halböffentlichen Zerwürfnisse mit Netanjahu zelebriert hat. Und sie versucht sich jetzt in ein anderes Licht zu stellen und so zu tun, als ob sie immer schon die große Israel-Unterstützerin gewesen sei.

SDH: Vielleicht ist es sogar besser, dass die Außenpolitik kein Thema ist bei den Demokraten. Weil die Entscheidung zwischen Clinton und Sanders dann als eine zwischen Pest und Cholera erscheinen würde. Wie Sanders außenpolitisch dasteht, ist klar, das heißt, Clinton müsste sich natürlich dazu positionieren, und sie würde ihm nicht kontern, sondern versuchen, wie bei anderen Debatten auch, ihn links zu überholen.

Im Jahr 1997 traf sich Necmettin Erbakan – einige Wochen nach dem sanften Coup des Militärs – in seiner Sommerresistenz in Altınoluk an der türkischen Ägäis mit Jean-Marie Le Pen. Details der Unterredung wurden nicht veröffentlicht, einzig, dass sich beide über eine engere Kooperation verständigt hätten. Der Franzose Le Pen erklärte, dass ihn das Erstarken des Islam in der Türkei erfreue und darin auch ein Gewinn für das Nationale liege. Nach Erbakans Niederlagen gegen das Militär manövrierten ihn seine Ziehsöhne Erdoğan und Gül ins Abseits, er verstarb im Jahr 2011. Der exzentrische Übervater der französischen Front National, Jean-Marie Le Pen, wurde von seiner leiblichen Tochter Marine innerhalb der Partei isoliert. Doch das ideologische Milieu der beiden ist dasselbe geblieben. Das höchste ist diesem der Staat als Familie, die Gewalt des Souveräns als väterliches Patriarchat, Zwang als Kultur. Konsequent ist da die Feinderklärung von Jean-Marie Le Pen an die Kosmopoliten von Charlie Hebdo nach dem Massaker vom 7. Januar 2015, die Satiriker hätten einen »anarchistisch-trotzkistischen Geist, der die politische Moral zersetzt«. Kaum wahrgenommen wurde, weil der kalte, kulturrelativistische Blick dem totalitären Anspruch der Despotie auf geschlossene Einheit gleicht, dass in Ankara von jungen Militanten eine Solidaritätsdemonstration für die Toten des Massakers vom 7. Januar abgehalten wurde. Als sich in ihrer Nähe islamistische Freunde des Todes aufstellten, wurden diese augenblicklich in die Flucht geschlagen.

Man hat es ja nicht mit Gegnern zu tun, die dumm sind. Das ist das Bild des Rassisten. Weder das Assad-Regime, noch das iranische Regime, noch Putin sind dumm, sondern haben im Gegenteil sehr gut geölte, funktionierende Propagandamaschinen, Medien: ob das nun diese ganze russische RT und Sputnik News sind oder die unterschiedlichen iranischen Medien – sie können mit Ängsten spielen und tun das die ganze Zeit. Und die Angst im Westen vor Al-Qaida oder ISIS ist wesentlich größer als die Angst vor dem Iran oder im Augenblick der ›Achse des Widerstands‹. Und darauf wird ganz gezielt die ganze Zeit gespielt: »Wir führen doch den Krieg gegen den Terror, wir sind doch diejenigen, die die Terroristen bekämpfen.« Bis hin zu diesem Bild, dass im Augenblick jeder Weg nach Teheran führt, um den Terror zu bekämpfen, und man nur einmal die Homepage des State Department öffnen müsste und nachsehen, welches Land eigentlich das Land ist, das Jahr für Jahr als der Hauptsponsor des internationalen Terrorismus geführt wird, und das ist der Iran. Aber der Iran gilt nun als »unser Partner im War on Terror«.

Da die Welt unvernünftig in konkurrierende, partikulare Staaten eingerichtet ist, lässt sich überhaupt nur darüber diskutieren, wer in Deutschland oder Europa leben darf und wer nicht, sofern die Grundlage dieser Diskussion verdrängt wird: die Gewalt der Staaten. Von dieser Gewalt zehrt die Position des linken Flüchtlingspolitikers, der mit unserer moralischen Verpflichtung argumentiert, diesen Menschen, die da kommen, zu helfen, nicht minder denn der rechte, der um ›unsere‹ Kultur oder ›unseren‹ Wohlstand fürchtet. Die Bedingung der Möglichkeit der ersten Person Plural ist das unverdiente und durch nichts als Gewalt verteidigte Privileg des Geburtsorts. Für je menschenfreundlicher sich der Flüchtlingspolitiker hält, desto mehr verdrängt er die Gewalt, die die unaufhebbare Grundlage seiner Menschenfreundlichkeit ist.

Angenommen Jürgen Elsässers Magazin für Souveränität namens Compact würde für Souveränität nicht deshalb eintreten, weil man sich selber als »Maschinengewehr der Volkssouveränität« begreift und eben damit das deutsche Volk von den »räudigsten Elementen« der anstürmenden syrischen Horden der »Scheinasylanten« reinhalten will, sondern weil man sich durchaus für einen Staat im westlichen, liberalen und säkularen Sinn engagiert und insbesondere für die deutschen und europäischen Juden eintritt und sie vor muslimischen Antisemiten unter den Asylbewerbern zu schützen gedenkt. Dann hieße es eben nicht: »Sie bespucken und verhöhnen Euch, sie vergewaltigen unsere Frauen, sie wollen unseren Wohlstand, unser ganzes Land« und für diesen Zustand sei eine»antideutsche Regierung« verantwortlich – sondern der Protest gegen die Demontage der Souveränität wäre selbst antideutsch motiviert, insofern er sich immerhin auf Franz Neumann und Hannah Arendt stützen könnte, die den Nationalsozialismus als im weitesten Sinn staatsfeindliche, Souveränität und Gewaltmonopol auflösende Bewegung begriffen haben.Und solange dabei Juden, die bedroht werden und deren Bedrohung es abzuwehren gilt, wenigstens nicht als ›unsere Juden‹ bezeichnet werden, ist eine solche Verteidigung der Souveränität in Deutschland und Europa gewiss etwas anderes als die bloße Ergänzung von Elsässers Blog und Straches Rhetorik. Soweit aber die Souveränität des eigenen Landes zur Priorität gemacht wird, gibt es zumindest an einem Punkt Übereinstimmung mit jenen selbsternannten Maschinengewehren des Volks, und dieser Punkt drückt sich in der oft zu hörenden und vielfach variierten Forderung aus, die als die harmloseste erscheint, aber ganz der Stammtisch-Atmosphäre entspricht: Wer sich nicht an die Spielregeln hält,der soll nicht hereinkommen beziehungsweise abgeschoben werden. Schon die Vorstellung, es ginge um Spielregeln, zeigt nicht nur an, dass man keinen Begriff vom Elend hat und haben will (und auch nicht davon, wie es zur aktuellen Situation überhaupt kam), vor allem anderen schlägt sich darin nieder, wie ernst man eigentlich nimmt, was man verteidigen möchte, sobald nur endlich der jeweilige Souverän zum Ich geworden ist, das alle Vorstellungen muss begleiten können.

Inzwischen neigt sich die zweite Amtsperiode des Nachfolgers von George W. Bush dem Ende zu, und zumindest in der wissenschaftlichen Diskussion um Leo Strauss ist es insgesamt wesentlich ruhiger geworden. Die wüsten verschwörungstheoretischen Polemiken, die Strauss als eine direkte Inspiration der Außenpolitik Bushs darzustellen versuchten, haben stark an Konjunktur verloren. Komplizierter ist die Lage im Zusammenhang mit Strauss’ Nähe zur Konservativen Revolution der Weimarer Republik. Dass die Kritik an Strauss in diesem Zusammenhang zum Teil eher instrumenteller Natur und durch die erwähnten Polemiken motiviert war, lässt sich daraus ersehen, dass Strauss sich in der überaus interessanten Position befindet, wegen seiner Nähe zu Figuren wie Carl Schmitt und Martin Heidegger von Leuten kritisiert zu werden, die sich mit Schmitt und Heidegger selbst längst versöhnt haben (und dies obwohl in den letzten zwei Jahrzehnten über Schmitt und Heidegger Dinge enthüllt worden sind, die man Strauss beim besten, das heißt: schlechtesten Willen niemals wird nachsagen können).

Am Trauerspiel zeigt Benjamin die »Entschlußunfähigkeit des Tyrannen«: »Der Fürst, bei dem die Entscheidung über den Ausnahmezustand ruht, erweist in der erstbesten Situation, daß ein Entschluß ihm fast unmöglich ist.« Fällt er doch, so macht ihn gerade seine völlige Unabhängigkeit von normativen Orientierungen und Rückbindungen an das Recht abhängig von der »Willkür eines jederzeit umschlagenden Affektsturms«. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, aber in der Frage, wie die Entscheidung zustande komme, tritt der Widerspruch hervor: bei Carl Schmitt ist es das Nichts, das den Ausschlag gibt; bei Benjamin jedoch kommt gerade darin das beständig Verleugnete, mühsam Unterdrückte wieder zur Geltung: Resurrektion der Natur im Wahnsinn der Politik: »Nicht Gedanken, sondern schwankende physische Impulse bestimmen« den Souverän: »Zuletzt tritt der Wahnsinn ein«.

In diesem Zusammenhang steht bei Benjamin auch die Wendung der Trauerspieldichter zur Geschichte des Ostens, zu den Herrschaftsformen des Sultanats und des byzantinischen Kaisertums: Die Faszination, die für sie von den Quellen dieser Geschichte ausgegangen sei, habe sich sukzessive gesteigert: »Denn je mehr gegen den Ausgang des Barock der Tyrann des Trauerspiels zu einer Charge wurde, die ein nicht unrühmliches Ende in Stranitzkys wiener Possentheater fand, desto brauchbarer erwiesen sich die von Untaten strotzenden Chroniken Ostroms.«

Nicht der Blick als solcher beansprucht unvermittelt das Absolute, so lernt Adorno von Benjamin, sondern »die Weise des Blickens, die gesamte Optik ist verändert. Die Technik der Vergrößerung, lässt das Erstarrte sich bewegen und das Bewegte innehalten. Seine Vorliebe für minimale und schäbige Objekte wie Staub und Plüsch in der Passagenarbeit steht komplementär zu jener Technik, die von all dem angezogen wird, was durch die Maschen des konventionellen Begriffsnetzes hindurchschlüpfte oder vom herrschenden Geist zu sehr verachtet ist.« Weil er verlorenen, unbeachteten, getrübten Gesten, Dingen und Hoffnungen Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, dem Zufälligen, Ephemeren, ganz Nichtigen, blieb Benjamin immer jenen halben Schritt zurück, »hielt stets Abstand zu der Welt – wie sie ist, wahrte jenen Spielraum, der nötig ist, um ihr in den Rücken zu fallen, vor allem aber, um in aller Unabhängigkeit den verblassten Details ihr volles Leben zurückzugeben, dieser verleugneten Kehrseite der Geschichte – die er wie kein anderer gleichsam im Handumdrehen wie ein Jackenfutter hervorzukehren verstand, um uns ihre schillernden Farben aufzudecken …«

Bernfeld verwirft auch die Idee, mittels »richtiger« Pädagogik den idealen Menschentyp erziehen zu können und kritisiert an ihr, was auch Adorno in den 60er Jahren über Pädagogik geschrieben hat, dass sie mit »Tiefsinn aus zweiter Hand übers Sein des Menschen … schwafel(t)«. Er wirft der Pädagogik Unwissenschaftlichkeit vor, da sie sich nach den Maßgaben der Gesellschaft richte und eine konservative Funktion einnehme: das Bestehende zu erhalten. Da der Erziehungsprozess, den die Pädagogik wissenschaftlich untermauern möchte, von unbewussten Prozessen bestimmt wird und einen subjektiven Faktor enthält, der in der Person des Erziehers oder Lehrers gegeben ist, ist es der Pädagogik nicht möglich, Aussagen darüber zu treffen, ob die von ihr entworfenen Erziehungsmittel zur Erlangung ihrer Ziele beitragen oder nicht.

Der Band stellt also den lobenswerten Versuch dar, auf den gesellschaftskritischen blinden Fleck der zeitgenössischen Kultur- und Sozialwissenschaften hinzuweisen und ein wenig Sand in das Getriebe des akademischen Kulturwissenschafts­betriebs und der Theorien, die momentan im Schwange sind, zu streuen. Und mit diesen sieht es, wie die Herausgeber unterstreichen, düster aus: Menschenfeindliche Ideen einer »anthropozän strukturierten Geosphäre« machen die Runde, in der sich die Menschen nicht so wichtig nehmen und lieber verwundert darüber sein sollten, in einer Welt zu leben, »in der die Seienden nunmehr das Sein darstellen« und sich so dem Sein, einer irrationalen Allgewalt unterwerfen sollen, beziehungsweise sich auf radikale »Verschiebungen der Sprecherpositionen – menschlicher und nicht-menschlicher« – einstellen müssen, was immer das dann auch im Detail heißt.

Was sie dabei antreibt, spricht Judith Butler selber indirekt an, wenn sie ihr Verhältnis zu den nichtjüdischen Aktivisten beschreibt, die gegen Israel mobilisieren. Während einstmals Arthur Trebitsch alles tat, um nicht mit dem Judentum identifiziert zu werden, beschäftigt sie wohl die Angst, in den Augen der anderen Linken mit Israel identifiziert zu werden, weil sie jüdischer Herkunft ist. Von dieser Linken geht offenbar ein stets wachsender Druck aus, dem Butler immer mehr nachgegeben hat, wie sich an ihren Publikationen seit Ende 1990er Jahre ablesen lässt. Mittlerweile avancierte sie dank dieser Anpassungsleistung zur Gallionsfigur etwa der BDS-Bewegung, denn niemand kann diese Bewegung, welche die Zerstörung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hat, unverdächtiger repräsentieren als eine Jüdin. Anders als Trebitsch, der ein Außenseiter und Desperado blieb und der außer in kleinen Kreisen kaum ernst genommen wurde, kann Butler als Israelkritikerin ihre Karriere, die sie mit der Versenkung feministischen Engagements im Gender Trouble begonnen hatte, bruchlos fortsetzen.

Die Geschichte dieser Schulden beginnt noch vor dem Nationalsozialismus, im Jahr 1932. Damals torpedierte die deutsche Regierung endgültig den unter anderem von Frankreich und den USA unterstützten Plan multinationaler Präferenzverträge für die südosteuropäischen Agrarstaaten. Der deutschen Seite gelang es, diesen Plan zunichte zu machen, da Frankreich und Großbritannien letztlich zu wenig Interesse an Importen aus Südosteuropa zeigten. Großbritannien konstituierte mit den Beschlüssen von Ottawa (1932) einen nahezu geschlossenen Wirtschaftsraum, innerhalb dessen den eigenen Kolonien Präferenzen bei der Einfuhr von Agrarprodukten gewährt wurden. Frankreich galt im landwirtschaftlichen Bereich als Selbstversorger und deckte weiteren Bedarf aus seinen Kolonien. Dagegen strebten deutsche Wirtschaft und Politik unter anderem aufgrund der Erfahrung der Seeblockade im Ersten Weltkrieg nach einem blockadesicheren ›Ergänzungsraum‹, in dem sie ein sine qua non für einen zweiten kriegerischen Griff nach der Weltmacht sahen. Mit den Rohstoffen sollte die Kriegsmaschinerie ins Laufen gebracht und in Bewegung gehalten werden, mit den Agrarprodukten sollte ein Hungern und damit eine Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung wie in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges vermieden werden. Die Sicherung des dafür vorgesehenen ›Ergänzungsraums‹ Südosteuropa bildete eine wesentliche Grundlage für das 1929 entwickelte Konzept der deutschen Großraumwirtschaft, das Carl Schmitt später mit dem »Interventionsverbot für raumfremde Mächte« erweiterte. Das Scheitern der jahrelangen internationalen Verhandlungen über Preisgarantien für die südosteuropäischen Staaten eröffnete dem Deutschen Reich 1932 die Chance, diese Großraumwirtschaft mit Südosteuropa als Zufuhrgebiet für Agrarprodukte und kriegswichtige Rohstoffe zu realisieren.

Auch Deutschland ist spätestens seit der Niederlage im Ersten Weltkrieg kein imperialistischer Staat mehr – sondern versucht sich (im Grunde schon seit seiner Reichsgründung) als Gegenhegemon (gegen Großbritannien und die USA) zu profilieren. (Die Schwierigkeiten der Historiker, die Politik des Deutschen Reichs bis zum Ersten Weltkrieg auf den Begriff zu bringen, resultieren daraus, dass sie immer noch historisch längst überholte imperiale Momente mit ›modernen‹ hegemonialen kombinieren.) Es gehört zur Politik auch dieses Gegenhegemons (und das Dritte Reich tanzt hier keineswegs aus der Reihe), nicht den Eindruck zu vermitteln, auf Krieg und Vernichtung zu setzen. Die Sache ist nur die, dass die Deutschen damals genau wussten, dass ihr Wahn, sich zum Weltsouverän zu erheben, sich ohne dieses Setzen auf Krieg und Vernichtung gar nicht verwirklichen ließ. Mag ja sein, dass es heute mehr Deutsche als Anfang der 1930er Jahre gibt, denen es mit dem Verzicht auf eine hegemoniale Rolle in der Welt ernst ist; ich habe da so meine Zweifel.

Die Regionen außerhalb der Kontrolle Assads und des Irans verwandeln sich, auch dank der täglich fallenden Fassbomben, derweil zunehmend in eine Mad-Max-Region, in der islamistische sunnitische Rackets sich gegenseitig bekämpfen, ohne dass einer je siegen kann. Auf eine solche ›Lösung‹, die natürlich nur eine temporäre sein kann, dürften auch die russisch-iranischen Interventionen momentan hinauslaufen, wobei die große Frage ist, inwieweit der Iran und Russland langfristig nicht äußerst divergierende Interessen in Syrien verfolgen: Statt neuer Staaten oder Grenzen kreiert der Iran diese parastaatlichen Gebilde, wie etwa den von der Hezbollah kontrollierten Südlibanon, die völlig von Teheran abhängig sind und zugleich als Front gegen Israel dienen. Ähnliches schwebt ihm nun sowohl in Syrien als auch im Irak vor, wo dank des IS die Sunniten als eigenständiger politischer Faktor de facto ausgeschaltet sind.

Die Stimmungslage, die in den Meinungsumfragen Ausdruck fand und sich auch im US-Kongress niederschlug, war präzedenzlos: Noch nie zuvor hat es eine vergleichbare Situation gegeben, in der eine US-Administration ein Abkommen aushandelt, das ihren Behauptungen zufolge von welthistorischer Bedeutung sei, die Verbreitung von Nuklearwaffen verhindere und das Risiko eines erneuten Krieges im Nahen Osten reduziere – und dafür von einer Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung und der Kongressabgeordneten aus beiden Parteien Ablehnung erntet.

Einen Schritt weiter als der Präsident und seine Hofschranzen ging die New York Times. Sie veröffentlichte auf ihrer Webseite eine Grafik, in der alle Abgeordneten verzeichnet waren, die im Kongress gegen den Iran-Deal gestimmt hatten – und hob, grafisch passender Weise mit gelber Farbe versehen, hervor, ob es sich bei den Abgeordneten um Juden handelte und wie hoch der Anteil der Juden im jeweiligen Bundesstaat ist. Zu Recht bezeichnete Adam Kredo vom Washington Free Beacon die Grafik schlicht als »Jew-Tracker«. Der Eindruck, der erweckt wurde, war eindeutig: Gegner des Iran-Deals seien entweder selbst Juden oder würden von ihrer jüdischen Wählerschaft unter Druck gesetzt, stellten aber in jedem Fall Partikularinteressen über amerikanische Interessen. In Kombination mit der von Obama propagierten Argumentationslinie, der zufolge es sich bei Gegnern des Deals um Kriegstreiber handle, die lieber heute als morgen Teheran bombardieren wollten, wurde das alte antisemitische Stereotyp vom kriegstreiberischen und illoyalen Juden neu aufgewärmt.

Dass die Verfälschungen Ernst Noltes, widerspruchslos redaktionell als prominente Preziosa auf Sammetpölsterchen präsentiert werden, kann daher nur in einer Blattlinie gründen, die von den aktuellen Verantwortern heimlich, hinter dem Rücken des Publikums, mit Bedacht gezogen wird. In ihrer veröffentlichten und – im prägnanten Wortsinn: – unheimlichen Blattlinie deklarieren sie »Zum Charakter« ihres Blattes gegen Schluss: »TUMULT publiziert neben Luftigem und Unaufgeräumtem auch Schwieriges und Unplausibles, neben experimentellen Textsorten auch Manifestartiges. Die Redaktion schätzt denkerische Strenge und Konsequenz, aber nicht die rituelle Stilisierung selbstgenügsamer Wissenschaftlichkeit. Erkenntnis als Frucht der Begierde zu begreifen, was vor sich geht, ist heute annähernd überflüssiger Luxus. Es herrscht die Zuversicht vor, man könne sich die Welt nach Belieben zurechtmachen, müsse sie nicht erst erkennen. Aber wir hängen am Luxus und nehmen gern das Risiko in Kauf, elitär zu erscheinen. Die Intellektuellen sind die Elite der Überflüssigen.« Der elegant mit den emotionalen Qualitäten der Wörter spielende Schwall drängt mir den Eindruck auf, die Redaktion missverstehe Erkenntnis als Frucht derjenigen ihrer Begierden, um derentwillen sie auf die Lästigkeit denkerischer Strenge verzichtet, intellektuelle Unaufgeräumtheit aufopfernd pflegt, rationale Sortierung rituell vermeidet und sucht, sich’s nach Gusto in der tollen Küche zusammenzurühren – Hauptsach’, ’s is all’s ganz wild kontrovers.

Wenn Suhrkamp daher gegen Schluss seines Aufsatzes die »Möglichkeit« anführt, »daß aus der Verbindung mit Motoren so etwas wie Rasse entsteht« und von Menschen schwärmt, »deren Verhältnis zum Motor etwas vom Verhältnis zu Tieren an sich hat, und die ganz, mit Haut und Haar, Leib und Seele, wie man sagt, in dem Leben mit Motoren aufgehen«, so gewinnt man den Eindruck, der Auferstehung jener Ideologie der Phrase beizuwohnen, für die Karl Kraus im Ersten Weltkrieg den Begriff des »technoromantischen Abenteuers« prägte, dessen Helden das Schwert ziehen, um im Gaskrieg bis auf das Messer zu kämpfen.

Fragt man heute, was von Georg Knepler bleibt, so lautet die Antwort: viel Nachdenkenswertes, aber auch das eine oder andere eher Bedenkliche. In der Knepler-Biographie von Oberkofler und Mugrauer ist beides (sofern es denn vorkommt) in der Regel leicht zu erkennen: Das Bedenkliche daran, dass es von den Autoren gelobt; das Nachdenkenswerte, dass es von ihnen kritisiert wird. Insofern ist es wohl ein Segen, dass von dem, was an Knepler wichtig ist, in der Biographie herzlich wenig vorkommt. Bei ihrem Positivismus handelt es sich um jenen, der meint, wenn die bürgerliche Wissenschaft sich dem Positivismus verschrieben habe, dann könne der Marxismus sie dadurch zur Einsicht zwingen, dass er ihren eigenen Positivismus noch überbietet. Was könnte also geeigneter sein, dem Weltkommunismus zum Sieg zu verhelfen, als möglichst lange Listen von unbestreitbaren Fakten? Je mehr Geburtsnamen angeheirateter Kusinen ich beibringen kann, so die Logik, desto unbestreitbarer wird auch für bürgerliche Leserinnen und Leser der Wahrheitsgehalt meines Marxismus.

So ergibt sich die paradoxe Situation, dass einerseits die Darstellung des Verbrechens in den Formaten der Kulturindustrie mit stets neuer Verblendung einhergeht, andererseits aber dadurch die Möglichkeiten einer anderen Sicht und einer anderen Erinnerung überhaupt erst zur Debatte gestellt wurden. Diese grundsätzliche Ambivalenz bezeugt Theodor W. Adorno bereits fast zwanzig Jahre vor der Ausstrahlung von Holocaust. Er berichtet von der Aufführung eines Theaterstücks über Anne Frank, in dessen Folge eine Zuschauerin erschüttert geäußert habe: »Ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen«.Adorno sieht in der Erschütterung der Frau zwar das Potential zu einer Einsicht, zugleich diene die dramatische Gestaltung des Einzelschicksals jedoch als »Alibi des Ganzen«, das darüber vergessen werde. Adorno kommt zu dem Schluss: »Das Vertrackte solcher Beobachtungen bleibt, daß man nicht einmal um ihretwillen Aufführungen des Anne-Frank-Stücks, und Ähnlichem, widerraten kann, weil ihre Wirkung ja doch, so viel einem daran auch widerstrebt, so sehr es auch an der Würde der Toten zu freveln scheint, dem Potential des Besseren zufließt.«

Nicht alle Homosexuellen freuen sich über die Aufmerksamkeit, die ihnen in den vergangenen Jahren zuteil geworden ist. Anlass für diese Aufmerksamkeit waren Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung und nach dem Ende diskriminierender Gesetzgebungen, die mit einem Male durchsetzbar waren; zugleich aber auch ein, wie es schien, Rückschlag im Anstieg von Diskriminierung und Verfolgung weltweit. Mit der homosexuellen Emanzipation ist vielleicht die Diskriminierung als ein gesetzlich und gesellschaftlich akzeptierter Vorgang minimiert worden, nicht aber die Verfolgung: Tatsächlich empfinden es nicht wenige Schwule und Lesben nun als schwieriger, sich in der Öffentlichkeit mit dem oder der Geliebten in offener Zuneigung zu zeigen, als in Zeiten, in denen die Reaktionen sehr viel vorhersehbarer waren. Das heißt: Wo man früher einem gesellschaftlichen Konsens begegnete, der Diskriminierung und Verachtung bedeutete, ist man heute Situationen ausgesetzt, die weniger einschätzbar und von Individuen oder Gruppen, nicht aber von der gesellschaftlichen Situation abhängig sind.

»Weder den Spieß anbrennen noch das Fleisch« ist eine georgische Redensart, die dunkel jene Unentschlossenheit zur Sprache bringt, die die gleichzeitige Beschwichtigung des Iran und Russlands in Georgien bedeutet. Um Israel aber in Wahrheit als einen strategischen Partner zu gewinnen, könnte man diesem stattdessen die Nutzung des eigenen Gebiets zwecks eines womöglich notwendig werdenden Schlags gegen die Atomanlagen im Iran anbieten. Die Gefahr eines theokratischen Regimes im südlichen Nachbarstaat will man indessen deshalb nicht wahrhaben, weil auch daheim zwar eine orthodox-christliche, aber dennoch auf die Dominanz der Religion über die bürgerlichen Rechte abzielende gottesfürchtige Staatsordnung visiert wird, die Georgien ohnehin Russland noch näher bringt.

Es stellt sich also die Frage, wie sich der ganz normale, alltägliche Antisemitismus, dessen Protagonisten die Annahme einer jüdischen Weltverschwörung jederzeit bestreiten würden, die brav klatschen, wenn israelische Politiker vor dem Bundes tag sprechen, die gegen rechten und manchmal auch islamischen Judenhass demonstrieren, von jenem Antisemitismus sowohl abgrenzen lässt, dessen Anhängern die bloß diplomatische Mitwirkung an der Vernichtung Israels nicht ausreicht und die lieber heute als morgen die Israelis ins Meer treiben würden, als auch nur auf denselben Antisemitismus zugleich sich beziehen lässt.

Es soll also ein Souverän geschaffen werden, dem diesmal wirkliche Macht zukomme, die nationalen Egoismen und die Hybris der Finanzmärkte an die Kandare zu nehmen, um so einestabile Wirtschaftsordnung herzustellen, in der die Industrie, befreit vom Gängelband der Spekulanten, sich »auf ihre Kernaufgabe konzen trieren (›Dinge‹ gut herzustellen)« könnte. Der Wahn, die Herrschsucht und die Strafphantasien, die in solchen Vorstellungen stecken, werden kaschiert, indem Varoufakis der Wall Street unterschiebt, unrechtmäßig schon zu besitzen, was er selbst für seinen »Mechanismus zum Überschussrecycling« beansprucht: die Macht, global zu herrschen – und indem er gleichzeitig den USA andient, die Seite zu wechseln und sich unter die Kämpfer für eine mögliche andere Welt einzureihen.

Es entbehrt vor dem Hintergrund dieses latenten oder – wie bei Menasse – manifesten antikapitalistischen und antiamerikanischen Affekts, schließlich auch nicht einer gewissen Logik, dass in Plädoyers für ›mehr Europa‹ von der Rolle Deutschlands stets auf eine Art die Rede ist: Deutschland wird einerseits als ein Land unter vielen angesprochen, das sich hartnäckig weigert, seine Souveränität (seinen ›nationalen Egoismus‹) zugunsten einer fortschreitenden transnationalen europäischen Solidarisierung zurückzustellen; und es sei andererseits nur deshalb besonders heftig zu kritisieren, weil es besonders mächtig sei, nicht aber als das Land, das mit Nationalsozialismus, Shoah und Vernichtungskrieg selbst maßgeblich zum janusköpfigen Charakter der europäischen Einigung beigetragen hat. Denn es ist dieser janusköpfige Charakter – in Form einer Union, die nicht zum Staat werden kann und darf und somit aber erst recht viel Spielraum dafür lässt, je nach Interessenslage die nationale Souveränität eines Staates gegen die eines anderen oder aber auch die ›Überwindung‹ nationaler Souveränität im Namen eines Staats (oder ›Volks‹) gegen einen anderen Staat auszuspielen –, der von jenen Proeuropäern ihrerseits letztlich bejaht wird.

Allerdings weist in der Form der Darstellung nichts darauf hin, dass mit der neuen Herrschaft unter Ben Abbes keineswegs der Islam selbst gemeint sein kann, sondern die Art und Weise, wie sich die Wunschphantasien europäischer Bürger eine erfolgreiche Politik vorstellen – und insofern sitzt der Roman selbst diesen Illusionen auch auf. Gerade seine Stärken, die in der Demonstration der Freiwilligkeit der Unterwerfung liegen, erweisen sich als Schwächen, wenn es um die Frage der Gewalt geht. Houellebecq zeigt eine Gesellschaft, für die der Islam die grausame Praxis der Sharia gar nicht nötig hätte, nur fehlt in seinem Roman gerade die Faszination, die in Wirklichkeit der Freiwilligkeit zu Grunde liegt: die Sehnsucht in jedem Bürger, die äußere Krise und die inneren Widersprüche durch unmittelbaren Zwang und eine, von keinem abstrakten Recht gebremste Gewalt zu bewältigen – und darin liegt wohl auch die eigentliche Ursache, warum gerade das deutsche Feuilleton für den neuen Roman sich so begeistern konnte.

Der Marsch in Paris vom 11. Januar war also ein Trauermarsch, eine Beerdigung. Beerdigt wurde die Freiheit des Denkens und des Ausdrucks. Beides ist ja untrennbar miteinander verbunden. Warum hatte es zuvor keine derartigen Trauermärsche, etwa nach den islamistischen Morden an Juden in Toulouse und Brüssel, gegeben? Weil die Mehrheit sich innerlich längst damit abgefunden hat, dass die Juden geopfert werden sollen. Der eigene Superioritätsverlust des Westens über den Islam hingegen wurde im kollektiven Bewusstseinsbild geleugnet: Deshalb gibt das, was die Europäer und die Franzosen mit dem Massaker an Charlie Hebdo erlebt haben, ihnen zum ersten Mal wirklich ein Gefühl davon, wie es ist, als Dhimmi zu leben. Und doch wissen alle Nichtjuden, dass sie angesichts des Terrors eine Wahl haben – während die Juden keine haben. Dass man sie, die Nichtjuden, zwingen möchte, die Unterwerfung zu wählen, und dass sie insgeheim wissen, dass sie die Unterwerfung wählen werden, hat eine große Zahl von Menschen schmerzlich getroffen.

Mit dem Niedergang alles Individuellen in Massenwahn und integralem Etatismus wurde das »Selbstbewußtsein des Menschen mit seiner Funktion im herrschenden System identisch«, so Max Horkheimers Diagnose in seiner 1946 publizierten Eclipse of Reason. Nicht erst seit jenem deprimierenden Befund scheint die Menschheit ein Schicksal zu teilen: sie »vegetiert kriechend fort«. Oder, um es mit dem nicht minder bitteren, der Figur Hamm aus Becketts Endspiel in den Mund gelegten Satz auszudrücken: »Es geht voran.« Während dieser Fortschritt gesellschaftlichen Unglücks einen Tag an den anderen reiht, tut das verbliebene Bildungsbürgertum so, als stünde es im Ringen zwischen Kultur und Barbarei noch immer unentschieden. Auschwitz hat für sie nichts grundlegend verändert. Unangefochten durch die nationalsozialisierte Wirklichkeit geht es also von Spielzeit zu Spielzeit.

Freud ergänzt also Kant darin, dass die Objekte ins Subjekt aufgenommen werden und dort, im Ich, ein Eigenleben führen. Die Internalisierung des Objekts ist die Internalisierung des Konflikts, der in der Melancholie stillgestellt wird. In einem Gespräch mit dem Spiegel versucht Sebald die Melancholie vor der Depression zu retten: »Melancholie ist etwas anderes als Depression. Während Depression es einem unmöglich macht, sich etwas auszudenken oder auch nur über etwas nachzudenken, erlaubt die Melancholie, auch nicht unbedingt ein angenehmer Zustand, reflexiv zu sein und in Form gewisser Basteleien, die man im Kopf anstellt, versuchsweise Sachen zu entwickeln, von denen man vorher nichts geahnt hat.« Das scheint mir eine sehr aktuelle Beschreibung des Zustands der Ideologiekritik zu sein.

Scholems Meinung nach verstand sich die Feststellung, dass es Deutsch nicht mehr gebe, offenbar von selbst und sie bedurfte keiner weiteren Erörterung. Gerade in dieser Knappheit liegt die Eindrücklichkeit dieser Formulierung, sie suggeriert aber auch, dass es hier um mehr als das unmittelbar Naheliegende geht. Es ist nicht ohne Ironie, dass Scholem diese Bemerkung auf deutsch in einem auf deutsch geschriebenen Brief machte, umso mehr, als Scholem auch weiterhin ausgiebig auf deutsch korrespondierte und zudem einer der vollkommensten deutschsprachigen Prosaisten des zwanzigsten Jahrhunderts war.

Flaig meint, mit dem Hinweis auf die ›josephische Unterscheidung‹ zwischen Theokratie und säkularem
Staat sei schon das Problem gelöst: dieser sei, wenn er nur mittels direkter Demokratie regiert werde, unproblematisch und rational. Dass Hobbes den Staat mit Bedacht als einen »sterblichen Gott« begriff, dass also selbst der säkularste Staat der Welt Eigendynamiken entwickelt, die sich hinter den Rücken der Bürger durchsetzen, davon will Flaig nichts wissen. Die Opfer, die der Einzelne diesem sterblichen Gott erbringen muss, rationalisiert er. Damit fällt er aber, mag er noch an anderer Stelle Wahrheit und Vernunft hochhalten, dem Irrationalismus anheim, sie verlieren jeden Eigenwert und werden nur noch Narrative, die den Staat rechtfertigen.

Seit Bekanntwerden des Denkmalprojekts Anfang des Jahres gab es in Ungarn Proteste gegen das Vorhaben, ein Mahnmal zu errichten, das den deutschen Reichsadler zeigt, der sich auf den das unschuldige Ungarn symbolisierenden Erzengel Gabriel stürzt. Schon das Haus des Terrors versucht den Eindruck zu erwecken, der Holocaust habe erst unter der Herrschaft der ungarischen Nazis, der Pfeilkreuzler, ab Oktober 1944 stattgefunden und nicht vor allem in den Monaten davor unter Horthy. … Im Juli wurde das Denkmal nachts heimlich ohne Einweihungszeremonie enthüllt. Später flogen Eier und man kann es heute nicht bewundern, ohne die Tausenden Gegenstände davor zur Kenntnis zu nehmen, die eine ganz andere Geschichte erzählen. Zu sehen ist etwa ein Foto mit der sarkastischen Beschriftung: »Die Familie Spiegel, vom ‚Erzengel Gabriel‘ nach Auschwitz deportiert.«

Das Erschreckendste, was ich bislang auf den Straßen gesehen habe, war im Sommer ein Graffito beim Ausgang der Metro-Station ›Parque del Este‹ in Caracas. »Haz Patria, mata un judío«, das heißt: »Schaffe Heimat, töte einen Juden«. Im August 2014 regte ein chavistischer Parlamentsabgeordneter via Twitter an, Listen mit Namen, Adressen und Vermögen von Jüdinnen und Juden anzulegen. Androhung oder Ankündigung eines Pogroms?

Vor Auschwitz sprach man von der Lösung der Judenfrage, nach Auschwitz spricht man von der Lösung des Nahostkonflikts. Die Feinde Israels haben jetzt für diese Lösung zusätzlich eine neue Strategie entwickelt: Zu der ›Zwei-Staaten-Lösung‹ gesellt sich die des ›One Democratic State‹. Israel soll gezwungen werden, sich selbst zu zerstören, seinen besonderen Status aufzugeben, der Staat aller vom Antisemitismus Verfolgten zu sein, und das Law of Return von 1950, das erste Gesetz Israels, das Gesetz, das jedem Juden und jeder Jüdin das Recht gewährt, nach Israel zu kommen, zurückzunehmen – indem es nun das Rückkehrrecht der palästinensischen Araber miteinschließen soll.

Unter dem Strich hatte die Hamas jedoch wenig zu bieten, um all die Zerstörungen im Gazastreifen und all das Leid, das sie über die eigene Bevölkerung gebracht hat, zu rechtfertigen. Trotz wochenlangem Dauerbeschusses mit über viertausend Raketen blieben die Folgen des Krieges in Israel überschaubar; dem Raketenabwehrsystem ›Iron Dome‹ war zu verdanken, dass sich unter den insgesamt 73 Opfern auf israelischer Seite nur sieben Zivilisten befanden. Demgegenüber befanden sich unter den über 2100 Opfern im Gazastreifen rund tausend Kämpfer und einige führende Kader der Hamas, des Islamischen Dschihad und anderer Terrororganisationen. Am Ende musste die Hamas ihren Krieg gegen Israel unter Konditionen beenden, die sie schon Wochen vorher hätte haben können und die sich im Grunde von Status quo ante kaum unterschieden. Sie hat ohne jeden nennenswerten Erfolg all die Angriffstunnels nach Israel verloren, die sie in den letzten Jahren mit enormen Kosten und mit großen Mühen gegraben hatte; sie hat einen Großteil ihres Raketenarsenals verloren, das sie nicht ohne Weiteres einfach ersetzen kann; militärisch hat sie kaum greifbare Erfolge vorzuweisen – es gelang ihr beispielsweise nicht einmal, auch nur einen einzigen der israelischen Soldaten zu verschleppen, die im Gazastreifen operierten –; politisch hat sich an ihrer Isolation nichts geändert. Ganz im Gegenteil: Große Teile der arabischen Staatenwelt haben nicht einmal Lippenbekenntnisse zur Unterstützung ihres Krieges abgegeben.

Nun ist die Außenpolitik der Islamischen Republik führend, wenn es um Destruktivität geht, wie alle anderen Islamisten haben sie enorme Schwierigkeiten, irgendetwas konstruktiv aufzubauen. Und der Irak unter iranischer Schirmherrschaft entwickelte genau diese destruktive Dynamik: Unter Nouri al-Maliki besetzten seine Anhänger alle wichtigen Positionen, Sunniten wurden gnadenlos marginalisiert, mit den Kurden befand man sich im Dauerclinch, Institutionen wie die Armee verwandelten sich in De-facto-Milizen. Und dann brach der sogenannte Arabische Frühling aus, der die Hegemonie der Islamischen Republik in Syrien radikal in Frage stellte. Bis 2012 war Iran ganz sicher einer der Verlierer der Entwicklung im Nahen Osten, bis in Syrien der Islamische Staat als Hauptakteur auftrat und man sich regional und auf internationaler Bühne plötzlich als Vorkämpfer gegen den Terrorismus gerieren konnte. Geschickt haben dabei iranische Alliierte in der ganzen Region geholfen, diesen Konflikt zu konfessionalisieren und zu sakralisieren. Eine Politik, die – so zynisch und unmoralisch sie auch immer sein mag – in einigen Fällen amerikanischen Interessen gedient hat, etwa im Kampf gegen ›Kommunisten‹ in Süd- und Lateinamerika. Eine solche Realpolitik setzt aber voraus, dass man es miteinigermaßen rationalen Akteuren zu tun hat, wie Pinochet sicher einer war. Die Islamische Republik aber ist kein solch ›rationaler‹ Akteur, ebenso wenig wie die Nazis es waren. Und deshalb verschlimmert sich die Situation auch immer weiter, weil überall solche Partner gesucht werden, früher waren es Saddam Hussein oder die Saudis, heute liebäugelt man mit Teheran – nur um die verheerenden Fehler zu wiederholen. Wobei, und das unterscheidet Iran von den anderen, die iranische Regierung sich wesentlich cleverer zu präsentieren versteht, was eben daran liegt, dass sie immer so tun kann, als vertrete sie eigentlich die Interessen des Nationalstaates Iran, der, gäbe es dort einen regime change, ja auch durchaus ein konstruktiver Partner sein könnte!

Clark präsentiert Geschichtsforschung auf dem Niveau eines Groschenromans und wird auch deshalb in Deutschland so gerne gelesen. Münkler interessiert entgegen seiner Rezeption die Frage nach den Ursachen des Krieges nur am Rande. Im Mittelpunkt seines Buches stehen Beschreibungen entscheidender Schlachten und Erzählungen über die fortschreitende Technisierung und Vermassung des Militärs. Er bescheinigt der deutschen Regierung lediglich Fehlurteile und Fehleinschätzungen, das heißt Führungsfehler, die zunächst in den Krieg und dann in die Niederlage geführt haben. So betätigt sich Münkler als aktueller deutscher Regierungsberater.

Die Wut ist also nur der Selbsthass oder die Selbstverleugnung des Subjekts (das man schon in marxistischer Tradition auf das bürgerliche festzulegen pflegte). Sie findet sich darum nicht selten als Demut vergoldet. Und an die Stelle der Kritik tritt das bloße Distinktionsbedürfnis, dem die deutsche Linke – vor deren unbegrenzten Zumutungen es einen ekeln muss, selbst wenn man ihre Ideologie zu kritisieren nicht mehr imstande ist – ausreichend und unablässig Nahrung bietet.

Was ist so besonders an Dieudonné? Vielleicht ist gar nichts Besonderes an ihm, besonders und phänomenal ist allein sein Erfolg, sein Massenappeal. Dafür darf man ja gerade nichts Besonderes an sich haben, das Besondere ist ja das, was gehasst wird. Indem man das Banale bewundert – die banale Gewalt, den banalen Hass, die banale Verleugnung, das banale Nichtwissenwollen – und ihm gehorcht, rächt man sich am Besonderen. Dieses verbreitete Ressentiment machen die Faschisten sich zunutze und schaffen damit ihre furchtbaren Fakten, die Gewalt, die sich das Besondere aneignen will, indem sie es vernichtet.

So finden sich trotz aller Dementis doch Hauptverantwortliche für den Ersten Weltkrieg. Deutsche sind keine darunter. Entgegen der antifranzösischen und antibritischen Lesart von Cora Stephan lastet Clark Serbien die Hauptschuld auf. Das ganze erste Kapitel seines Buches bis Seite 99 widmet er der angeblichen serbischen Mordlust. Seit Srebrenica und der Belagerung Sarajevos im Bosnienkrieg der 1990er Jahre falle es ihm schwer, Serbien als reines Opfer der Großmachtpolitik zu sehen. Stattdessen könne man sich den serbischen Nationalismus nun leichter als eigene historische Kraft vorstellen. So ist es kein Zufall, dass Clark seine Darstellung mit der Ermordung des serbischen Königspaares durch revoltierende Offiziere im Juni 1903 beginnen lässt und dabei keines der grausamsten Details ausspart.

Einige dieser Berichte sind schon seit längerer Zeit aus den Archiven des OSS, das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst wurde, ausgehoben und publiziert worden, etwa in den Feindanalysen, die einige Texte Marcuses versammeln, oder auch in den Studien Alfons Söllners. Nun erschien ein weiterer Sammelband, angesichts dessen nicht nur Jeffrey Herfs Vorwurf, dass die Kritische Theorie sich nicht mit historischem Material abgegeben habe, entkräftet werden kann; es lässt sich daran auch zeigen, warum die Theoretiker von der Sache selbst getrieben wurden, die allgemeine, moderne Seite des Nationalsozialismus zuungunsten einer historischen ›Sonderwegsdarstellung‹ zu betonen; und schließlich wäre anhand der neuen Publikation darzutun, wo tatsächlich die Probleme dieser Analysen liegen.

Doron Rabinovici: Jetzt kann man darüber diskutieren, wie der eine und wie der andere gehandelt hat, und man kann darüber diskutieren, was es für Strategien des Überlebens gab, und wie sie alle scheiterten, wie sie alle scheiterten, weil eben Millionen umgebracht worden sind. Das Erstaunliche ist, dass das Scheitern nicht die Schuld der Ermordeten oder der Überlebenden ist. Und einer der entscheidenden Vorwürfe, die ja auch hier im Film durchscheinen, ist … Murmelstein wird letztlich vorgeworfen, dass er nicht tot ist. Das heißt, auch in der anti-nazistischen Sicht wirkt das Verdikt der Nazis durch: »Nur der tote Jude ist der gute Jude.« Nur das perfekte Opfer wird von uns Anti-Nazisten, Anti-Nazis, Antifaschisten wirklich als wertvoll erachtet. An dem können wir sehen, was passiert ist. Wenn jemand überlebt hat, dann stimmte irgendwas nicht, und deswegen bekamen auch die sowjetischen Gefangenen in den Lagern, die überlebt hatten, zunächst einmal einen Prozess, weil man sie gefragt hat, »Wie war’s denn eigentlich möglich, dass ihr überlebt habt?«

Indem der ›alte Nazi‹ zum (negativen) Doppelgänger der israelischen Protagonisten wird, findet eine Vertauschung von deutscher Täter- und jüdischer Opfererfahrung statt. Der Mörder der eigenen Vorfahren wird zur Projektionsfläche der Ich-Verdopplung. Er wird zum unheimlichen Doppelgänger, nach Freud zu einer Art Ich-Instanz, »die der Selbstbeobachtung und Selbstkritik dient … und unserem Bewußtsein als ›Gewissen‹ bekannt wird.« Der Wiederholungszwang wird also gleichsam stellvertretend adaptiert. Das fehlende Schuldgefühl der Deutschen wird zum sekundären Schuldgefühl der dritten Generation in Israel. Dafür stehen die gespenstischen Nazifiguren im israelischen Kino.

Vielmehr ist es die Liebe zum sinnlosen Schlachten selbst, das heißt zur Sinnlosigkeit, weswegen auch die deutsche Schmonzette Stalingrad vor Jahren an den Kinokassen eben nicht floppte, weil in ihr das Töten auf beiden Seiten durchaus realistisch als reine Vergeudung von Menschenleben dargestellt wurde. Eine Sache um ihrer selbst Willen tun, ist schließlich das deutsche Mantra, die Betonung von Sinnlosigkeit gehört zum guten Ton, außer wenn es um die Shoah geht, dann wird es – besinnlich.

Anders als bei Bush rennt der europäische Multilateralismus bei Obama offene Türen ein. Bei ihm trifft er auf einen Präsidenten, dessen Blick auf die Vergangenheit ein Amerika zeigt, das oftmals aggressiv und bevormundend aufgetreten sei, das in seiner arroganten Orientierung an den eigenen Interessen vom Iran über Vietnam bis hin zum Irak etliche Fehlschläge und so manch regelrechtes Verbrechen produziert habe, und das heute dringend gefragt sei, seine Beziehungen zum Rest der Welt auf eine neue Grundlage zu stellen. Der beste Weg dazu sei es, die USA in die ›internationale Gemeinschaft‹ und in multilaterale Institutionen einzubinden und so sicherzustellen, dass die amerikanische Macht im erforderlichen Maße zurück- beziehungsweise von weiteren Alleingängen abgehalten werde.

Die Lage der Juden in der Ukraine ist nicht minder symptomatisch: Während sie sich im Land dem nationalistischen Fanatismus beider Seiten ausgesetzt sehen und zum Glück durch Sicherheitsexperten aus Israel für ihre Selbstverteidigung geschult werden sowie emergency assistance von der Jewish Agency erhalten, hat Israel selbst zu gewärtigen, dass der Konflikt die Position des Regimes im Iran stärken kann, dem Putins Staat nach dem Motto ›Der Feind meines Feindes…‹ näher denn je zu rücken droht, und auf diese Weise gewinnt Teheran den Vorteil, Russland gegen die EU noch besser auszuspielen, falls das überhaupt nötig sein sollte.

Während Antiziganismus im akademischen Diskurs hoch im Kurs steht und, anders als vor 20 Jahren, Diskriminierung gegen Roma bei Menschenrechtsorganisationen zum Dauerthema geworden ist, werden die grundlegenden Tatsachen der Verfolgung dem Blick auf eigentümliche Weise entrückt. Abgesehen von wenigen Experten ist diese Geschichte, obwohl an sich relativ gut dokumentiert, als Ganzes der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt. Folgende Dokumentation versucht zunächst die Gewalt gegen Roma durch zivile Akteure chronologisch darzustellen. Nur mit einem Satz sei erwähnt, dass die Polizeigewalt gegen Roma die hier dokumentierte Gewalt des Mobs in jeder Hinsicht übertrifft.

 

 

 

Badiou ist ein typisches Beispiel für diesen neuen Antisemitismus. In seiner aus Maoismus, Platonismus und Politikfeindlichkeit zusammengebastelten Philosophie gelten die Hisbollah und die Hamas als Verkörperungen von Zukunftshoffnungen. Bekannt ist auch, dass Günter Grass, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde (auch wenn er seit Jahrzehnten keine nennenswerten Texte produziert), Israel als die wichtigste Quelle der Kriegsgefahr ansieht. Gianni Vattimo, der vor kurzem noch als Abgeordneter im Europaparlament saß, greift in Interviews Israel mit unverschleierten antisemitischen Obertönen an. Es mag aber weniger bekannt sein, dass die Hauptattraktion der Berliner Biennale 2012 ein künstlerisch bedeutungsloses Ausstellungsobjekt war, der sogenannte Key of Return, ein uninteressanter, doch politisch umso wirkungsvollerer riesiger Gegenstand, der in einem palästinensischen ›Flüchtlingslager‹ namens Aida hergestellt wurde, um mehr als ein Monat lang nach Berlin transportiert zu werden. Key of Return symbolisierte die ›Rückeroberung‹ des gesamten israelischen Staatsgebietes. Werner Fleischer berichtete in seinem Artikel in der Zeitschrift sans phrase (1/2012) von der brieflichen Solidaritätsbekundung der Ausstellungsteilnehmer mit Günter Grass. ›Kulturkritische‹ Bewegungen gab es auch schon früher, welche mit Parolen wie »Lasst uns die Museen vernichten!« oder »Weg mit Kunst als Ware!« mobilisierten und manchmal auch gute zeitgemäße Werke förderten, sie verbanden sich jedoch mit keinerlei Antisemitismus, mit keinerlei Rassismus, geschweige denn mit Israelfeindlichkeit. Was ist denn geschehen?

Was man auch immer über diese Konzeption denkt, Lukács hat aber doch in Geschichte und Klassenbewußtsein einen Schritt in der Philosophie gemacht, das heißt, die empirische und die transzendentale Ebene als verschiedene Ebenen dargestellt. Das ist ein wirklich philosophischer Punkt. Ich würde im Ganzen nicht einverstanden sein mit diesem Buch, aber es ist eine Philosophie und wenn man über Marxsche Kritik nachdenkt, dann sollte man doch zu Geschichte und Klassenbewußtsein greifen. Aber Lukács hat Selbstkritik geübt. Jemand sagte ihm, dass Lenin dieses Buch nicht gefallen hat – und was Lenin nicht gefalle, das könne nicht gut sein. Einmal sagt doch Heidegger in Sein und Zeit, dass so ein »authentischer Mensch« seinen Helden wählt. Na, Lukács hat seinen Helden gewählt. Das hatte überhaupt nichts zu tun mit Lenin, wie er empirisch existiert hat, das ist ein transzendentaler Lenin gewesen, den er gewählt hat. Er hat überhaupt nicht hingehört, wenn man darüber sprach, was der empirisch existierende Lenin doch eben machte und was für Ideen er hatte.

Die Wirtschaftspolitik ist total verrückt, aber das geschieht nicht zufällig. Das wird in den Medien, die die Linken noch haben, viel diskutiert – und das sind nicht mehr viele, aber das ist ein anderes Problem. Doch bislang arbeitet dieses System nicht wie eine faschistische Diktatur. Es gründet auf Einschüchterung und massiver Desinformation, aber noch wird keiner wegen seiner Meinung verhaftet. Allerdings wurden Leute aus dem früheren Sicherheitsapparat der Spionage beschuldigt und vor ein Militärgericht gebracht, was ein Zeichen dafür sein kann, dass man plant, zu einem autoritären System überzugehen.

Es ist aber nicht das »Antlitz der Menschheit, die es noch gar nicht gibt«, das hier leuchtet, sondern das Dämmerlicht einer Melancholie, die zwischen elegisch verspielter Todessehnsucht und losgelassener Verachtung oszilliert und den Grundton auch vieler anderer Texte Klaues bestimmt. Denn die Perspektive, aus der allein betrachtet werden könnte, wie das Meer das Antlitz der Menschheit wegspült, bedarf des Poetenhügels, auf dem der müde gewordene Kritiker am Tag danach den Tod der Menschheit beklagt und doch in wohliger Erschöpfung ihren endgültigen Rückgang in nichts als Natur feiert. Zu Unrecht wähnt sich der kritische Poet in dieser Position dem Kinde nahe, das vielleicht wirklich einmal intentionslos jenes Bild in den Sand zeichnete, und führt dessen Hand in gesteigerter Nachträglichkeit aus dem freien Spiel der im Kind erwachenden Erkenntniskräfte in das Gehäuse der erwachsenen Metapher.

Ein Neokonservativer, sagte Irving Kristol einmal, sei ein Liberaler, »who has been mugged by reality«. Dem Welt-Journalisten scheint etwas von dieser Realität im mugging fanatisierter Nichtraucher zu dämmern. Nicht zufällig aber schließt Herzinger seine scharfe Polemik gegen die »Gesundheitsmenschen« mit der biederen Pointe, es könne noch so weit kommen, dass »selbst das lebende Denkmal Helmut Schmidt … bald seine letzte Mentholzigarette ausdrücken muss«. Und nicht zufällig beginnt er seine im Übrigen ganz richtige Beurteilung von Obamas Politik nach dem syrischen Giftgaseinsatz vom 21. August 2013 wie ein Kabarettprogramm: »Barack Obama ist als Tiger gesprungen und landet als Bettvorleger.« In Deutschland und Österreich ernsthaft neokonservativ zu sein, ist mit einiger Konsequenz eben doch nur in der Gestalt des Humoristen möglich.

Das Anliegen von Strauss’ politischer Philosophie ist die Rettung der Ideale und Versprechungen des Liberalismus vor der im Liberalismus selbst angelegten Regression, die er in Carl Schmitt und Martin Heidegger präzise ausmacht. Es geht ihm um die Rettung der Vernunft, für die er einen Punkt jenseits der Vernunft braucht, damit diese nicht in sich selbst leerläuft. Weil dies Strauss dazu bringt, den Widerstreit zwischen Vernunft und Offenbarung, zwischen Immanenz und Transzendenz als unentscheidbar zu betrachten, kritisiert er jeden Versuch, diesen Widerstreit zu eliminieren, indem er auf einen gemeinsamen Urgrund, ein Sein etwa, zurückgeführt wird, als erschlichene Lösung, die Teil des Problems und nicht dessen Lösung sei.

Antisemitismus und Kulturrelativismus entspringen demselben Impuls zur theoretischen und in der Konsequenz praktischen Willkür, dem Drang nach totaler Herrschaft über die Objekte und die Menschen, die von keinem empirischen, geschweige denn kritischen Einspruch aufgehalten wird. Indem die Kulturrelativisten aus dem Nationalsozialismus eine »Variante des abendländischen Rassismus zum internen Gebrauch« machten, anstatt ihn als barbarische Liquidierung der Widersprüche des bürgerlichen Liberalismus zu kritisieren, wurden sie selbst zu Komplizen seiner Verdrängung. Es ist heute eindeutiger denn je, dass die westlichen Islamdebatten wenig bis gar nichts mit den Problemen von Einwanderern aus sogenannten islamischen Ländern zu tun haben, dafür sehr viel mit den Identitätsproblemen der hiesigen Mehrheitsbevölkerung.

In den wenigen Wochen zwischen den Giftgasangriffen vom 21. August und dem Sicherheitsratsbeschluss am 27. September erreichte die Selbstdemontage der USA unter Präsident Obama einen neuen Höhepunkt. Dramatisch ist nicht nur der weitgehend selbstverschuldete amerikanische Einflussverlust, Resultat einer Politik, in der Verbündete fallen gelassen, unter Druck gesetzt, bloßgestellt oder vor den Kopf gestoßen werden, während Widersacher und Feinde dagegen umworben und gestärkt werden. Dramatisch ist auch, wie realitätsfremd Obama dieses Desaster als Erfolg betrachtet, wenn er beispielsweise in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung im September 2013 allen Ernstes behauptet, dank der Arbeit seiner Regierung sei die Welt heute ein stabilerer Ort als vor fünf Jahren.

Tatsächlich handelt es sich bei den Pasdaran um keine staatliche Institution im klassischen Verständnis, sondern, ganz im Sinne eines »Doppelstaates«, um eine revolutionäre Streitmacht, die neben der regulären staatlichen Armee agiert und sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Wirtschaftskonglomerate des Landes gemausert hat. Als revolutionäre Institution habe sie sich in den Augen Sharifs keineswegs nur um militärische Belange zu kümmern. Khomeini habe ihre »Pflicht, die Revolution zu verteidigen«, die auch in der iranischen Verfassung festgeschrieben ist, nicht auf »bestimmte Bedrohungen oder Bereiche« beschränkt, woraus sich die Legitimität der Einflussnahme in sämtlichen gesellschaftlichen Belangen und Institutionen ergäbe. Sharif erklärt zwar die Bereitschaft der Revolutionswächter, die neue Administration ebenso zu unterstützen wie alle bisherigen, lässt allerdings sehr deutlich durchblicken, was er von einer Zurückdrängung des Einflusses der Pasdaran im ökonomischen Sektor hält: nämlich gar nichts.

Übrigens sollte Rosa Luxemburg eigentlich von Rainer Werner Fassbinder verfilmt werden, jenem Regisseur, der die Tradition der Opferverklärung im deutschen Film, wenn nicht begründet, so doch wesentlich erneuert hatte. Nach seinem Tod erwies sich Margarethe von Trotta als die geeignete Fortführerin seines Werks. Sie hat das Exzentrische getilgt und Fassbinders Idée fixe dem Fernsehformat angepasst, sodass sie auch als Lehrmaterial für die Schulen taugt. Zugleich reinigte sie den deutschen Film von jenem kruden Antisemitismus, wie er eben Fassbinders Filme kennzeichnet, indem sie ihn nämlich auf eine neue Ebene hob: War es bei Fassbinder in der Regel eine Deutsche, die von Juden gepeinigt oder im Stich gelassen wurde, so ist es nun in Hannah Arendt eine Jüdin, die von der Israel-Lobby und vom Mossad verfolgt wird.

Was Honneth nicht zu passen scheint, ist, dass es unter den 193 Mitgliedsstaaten der UN glücklicherweise noch ein paar gibt, die auf antiisraelische Solidaritätsbekundungen verzichten und gegen die Aufwertung Palästinas zum beobachtenden Nichtmitgliedstaat stimmen, weil sie aus unterschiedlichen Gründen nicht bereit sind, Israel seinen Feinden auszuliefern. Hätte er bei seiner zwischenstaatlichen Betrachtung die Realität ein wenig anerkannt, anstatt den zum Rachefeldzug genötigten Schichten seine Solidarität zu bekunden, hätte er feststellen können, dass es wohl keine Bevölkerungsgruppe auf der Erde gibt, der so viel Zartgefühl und Alimentierung gewährt wird wie der palästinensischen, obwohl oder gerade weil sie immer wieder aufs Neue demonstriert, dass ein mögliches Ende der hausgemachten Erniedrigung dem Kampf gegen Israel untergeordnet ist.

Bevor aber die »Einfühlungsverweigerung« endgültig zum Ticket des Einverständnisses wurde, hatte sie schon eine beachtliche Karriere hinter sich. Im Anfang dieses Wortungetüms stand durchaus der Versuch zum Begriff, wie oft bei den Worten des Jargons. Daran erinnert, dass es immer im Zusammenhang mit dem Wort ›Trauma‹ benutzt wird. An »Einfühlungsverweigerung« lässt sich die Karriere des Traumabegriffs in den vergangenen dreißig Jahren nachzeichnen, um nicht zu sagen: nachempfinden; und beide Worte handeln immer von Juden und Deutschen und ihrem Verhältnis.

Die Dialektik der Aufklärung hat nichts an Aktualität eingebüßt. Die Vernunft, die davon abstrahiert, dass sie auf Ausbeutung beruht, nur weil diese Ausbeutung auf die Grundlage von Verträgen gestellt worden ist und durch das universelle Recht hindurch erfolgt, will ihr Misslingen nicht zugeben, das ihr die perennierende, das Partikulare besetzende Unvernunft vor Augen führt – und wird selbst zur universellen Unvernunft, zum Antisemitismus.

Auf der einen Seite das schaffende Kapital von Volkswagen, auf der anderen das raffende der »ultrakapitalistischen Raubtiere« der EU: Das pathisch-projektive Bewusstsein, das die Totalität des Kapitals solchermaßen aufspaltet, entpuppt sich zielsicher immer als ein antisemitisches. Und so entdecken die Grillini, die Anhänger der Fünf-Sterne-Bewegung Beppe Grillos, das politische Modell, das ihnen am besten zuspricht. Die Gruppensprecherin der Abgeordnetenkammer der Bewegung, Roberta Lombardi, bloggte Anfang des Jahres etwas über die »guten Seiten« des Faschismus »bevor er entartete«: weil er »eine nationale Vorstellung von Gemeinschaft hatte, voll und ganz dem Sozialismus entnommen, einen sehr hohen Staats- und Familiensinn«.

Es mag sein, dass die EU trotz der Ablehnung des Verfassungsvertrags 2005 de facto mittlerweile eine Verfassung hat, »der sich die Mitgliedsstaaten freiwillig unterwerfen«, wie Jan-Werner Müller schreibt. Doch die entscheidende Einschränkung, die er selbst hinzufügt, wird vom Politikwissenschaftsprofessor nicht weiter expliziert: »auch wenn Brüssel bei Nicht-Einhaltung des Rechts keine Polizei oder gar Militär in das entsprechende Land schicken kann.« Weil sich das so verhält, ist derzeit eine Situation wie in den USA 1957, als Bundestruppen und Nationalgarde unter Bundesbefehl den Schulbesuch von schwarzen Schülern gegen den militanten Mob der Provinzrassisten auf Befehl Washingtons hin durchsetzten, schlicht nicht vorstellbar. Es wird keine europäischen Bundestruppen geben, die Roma in Gyöngyöspata oder anderen Orten vor rassistischen Mordbrennern notfalls mit aufgepflanztem Bajonett in Schutz nehmen, wenn sich die Orbán-Regierung als unfähig oder unwillig erweist, das zu tun.

Ist ein Machtwechsel angesichts der fortschreitenden Abschaffung der Gewaltenteilung und der Verlängerung der Amtsperioden für Fidesz-Leute in entscheidenden politischen Ämtern möglich?

Magdalena Marsovszky: Ich bin nicht optimistisch, weil die anderen Parteien entlang der Frage des Völkischen sehr zersplittert sind, was ihnen nicht einmal richtig bewusst ist. Die Demokratische Koalition formiert sich erst und würde vielleicht nicht einmal ins Parlament kommen. Die Veränderung der Wahlordnung führt dazu, dass Fidesz mit nur einer Stimme Vorsprung die Wahl gewinnen würde. Menschen, die kritisch denken, werden als anti-magyarisch diffamiert, so werde auch ich übrigens öfters genannt. Fidesz selbst führt zwar keine Listen über Juden, aber über Anti-Magyaren, diese werden auch von Fidesz beobachtet. Die von Fidesz an den Pranger gestellten »Antimagyaren«, oder »Magyarenhasser« werden dann von Rechtsradikalen auf so genannte »Judenlisten« gesetzt. Diese vervollständigen die Arbeit von Fidesz. Auf der rechtsradikalen »Metapedia« (abgeleitet von »Wikipedia«) gibt es eine Liste von »Juden im öffentlichen Leben Ungarns«, wo ich auch als Jüdin mit Rassenmerkmalen genannt werde.

Ohne Bezug aufeinander stehen die schwerwiegenden Auffassungsunterschiede der fünf Berufungsrichter aneinandergereiht, was die Mehrheitsentscheidung als noch willkürlicher erscheinen lässt. Diese Willkür hängt nicht nur damit zusammen, dass es sich um ein internationales Strafgericht handelt, das heißt: Die Entscheidung der Richter ist nicht auf einen übergeordneten, einheitsstiftenden Souverän bezogen. Anders als die Alliierten in Nürnberg bieten die darüber wachenden europäischen Mächte kaum das Mindestmaß an Kohärenz, um hier punktuell als Ersatzsouverän zu taugen: Durch die Drohung, den EU-Beitritt nicht zuzulassen, wird politischer Druck ausgeübt – was nach einem Beitritt, siehe Ungarn, umso weniger möglich ist –, aber offenkundig trägt dieser Druck selbst zur Steigerung der Willkür in der Urteilsbildung bei. Darauf verweist vielleicht am deutlichsten das Verhalten der ehemaligen Chefanklägerin des Haager Tribunals, Carla Del Ponte.

Mit Sicherheit waren die Rahmenbedingungen für eine ausländische Militärintervention in Syrien anders und weitaus schwieriger gelagert, als das bei dem relativ unkomplizierten Einsatz in Libyen der Fall war. Doch der Westen verweigerte sich auch anderen möglichen Formen der Unterstützung, die unterhalb der Schwelle eines direkten militärischen Eingreifens lagen. Und nicht nur das: Durch die Schritte, die tatsächlich gesetzt wurden, trug er maßgeblich dazu bei, die Situation in Syrien sogar noch zu verschlimmern.

Die westlichen Israelkritiker goutieren den djihadistischen eliminatorischen Antizionismus, ohne ihn jedoch selbst exekutieren oder verantworten zu wollen. Die islamistischen „Anderen“ können nicht kritisiert werden, da sie sich aufgrund ihrer vermeintlichen kulturellen Differenz im Jenseits des Orbits einer universellen Aufklärung befinden, die wiederum als eurozentrisch abgestempelt wird. Genausowenig wollen sich aber die westlichen Claqueure kritisieren lassen, da sie sich nicht selbst als Islamisten verstehen, sondern »nur« deren Motive als »progressive« nobilitieren. Israel bliebe, würde es dieser Gegenlogik folgen, nur die Auflösung, und zwar in Erfüllung zweier sich ausschließender Ansprüche: den Vorposten des Weltjudentums auf muslimischem Boden zu tilgen und gleichzeitig den verstockten jüdischen Partikularismus gegenüber einem sich als postnational verstehenden Europa aufzugeben.

Während im Saal das Gespenst des in der Bundesrepublik angeblich virulenten Faschismus beschworen wurde, versuchte Améry, unterstützt von Hilsenrath, unendlich behutsam eine Differenzierung: zwischen den dreißiger und den siebziger Jahren, aber auch zwischen italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus – eine Unterscheidung, die im lautstarken Unmut des ungeduldigen Auditoriums unterging. Auch Martin Walser, der gerade, in seiner Bergen-Enkheimer Rede, die »Wunde« entdeckt hatte, die deutsche Wunde: »Wie alle haben auf dem Rücken den Vaterlandsleichnam, den schönen, den schmutzigen, den sie zerschnitten haben, daß wir jetzt in zwei Abkürzungen leben sollen« – auch Martin Walser opponierte gegen Améry: »Warum machen Sie jetzt diesen Unterschied? Was bringt das? Ich meine, es muß irgendein Motiv haben. Haben Sie nun ein höchstes historisches Empfinden, daß das ganz sauber getrennt werden muß?« Améry saß mit verstörtem, schwermütig resigniertem Gesicht. Er verstummte zunehmend in dieser Diskussion, in der zum Schluss nur noch Walser und Chotjewitz das Wort führten.

Es ist ein Kontinuum, das ihn von den Nürnberger Gesetzen, über Prügel und Folter, nach Auschwitz geführt hat, das Gemeinsame ist der Antisemitismus, der die Forderung nach Vernichtung in sich enthält. Die Inkommensurabilität von Auschwitz hat Améry nie in Frage gestellt, er hat sie vielmehr erhärtet und sich verbeten, den Nationalsozialismus mit anderen totalitären Regimes gleichzusetzen, und auch die Folter durch die Nazis sah er als wesenhaft verschieden von den Umständen, unter denen in anderen Regimes gefoltert wurde. Lediglich eine einzige Situation gibt es, hinsichtlich der Améry in Betracht zieht, dass etwas Ähnliches wie Auschwitz sich wieder ereignen könnte, er spricht sogar von einem möglichen »Über-Auschwitz«. Es ist dies die Situation des Staates Israels, die Bedrohung dieses Staates durch die ihn umringenden arabischen Länder und damit die Bedrohung aller innerhalb und außerhalb Israels lebenden Juden. Aber gerade diese Parallelisierung enthält das Wissen um den eliminatorischen Antisemitismus von einst, sowie das Wissen um sein Fortbestehen. Es ist die berechtigte Angst, dass die Juden noch einmal der Vernichtung anheim gegeben werden könnten, während die gesamte Welt nichts tut, dies zu verhindern.

Marcel Reich-Ranickis Frage nach den Folgen von Walsers antisemitischen Tabubrüchen lässt sich heute beantworten: Walser ist aus dem Schneider. Die deutsche Presse, die 2002 in ihren Urteilen noch uneins war, steht mittlerweile einhellig auf Seiten Walsers. Selbst die Frankfurter Allgemeine, deren Literaturressort Reich-Ranicki jahrzehntelang geleitet und die 2002 mit Walser gebrochen hatte, veröffentlicht nach der Versöhnung mit diesem am offenen Grab von Joachim Fest, der Walser, darin bestand seine postume Rache an seinem Erzfeind Reich-Ranicki, zu seinem Grabredner bestimmt hatte, seine Romane wieder als Vorabdruck – Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Nirgends wird mehr in der Presse an Walsers Exzesse von Judenhass erinnert, er ist zur sakrosankten Person erklärt worden. Das lässt nur den Schluss zu, dass sich seine Positionen allenthalben durchgesetzt haben.

Was Adorno in Bezug auf die Semantik der analytischen Philosophie, an die Judith Butler kritisch anschließt, feststellt, gilt in verstärktem Maße für die Diskurs- und Anredetheorie der Denkerin der Dekonstruktion: Die »isolierende Sprachkritik« ist durch den »Charakter des Fetischismus« bestimmt. Sie glaubt, dass »Trübungen und Trugtendenzen, die an der Sprache zu beobachten sind« in der zum Diskurs ontologisierten Struktur der Sprache angelegt sind, »anstatt dass die Worte stets gesehen werden als ein Wechselspiel, als ein Kraftfeld zwischen dem was sie in der Sprache sind, und dem was sie bedeuten, was eben die reale Gesellschaft ist.« Vielmehr ist von Butler das »Kommunikationsmittel Sprache gleichsam absolut gesetzt«; so absolut dass sie keinerlei Objekt außerhalb der Sprache gelten lassen und vielmehr jede Annahme eines Außersprachlichen als unzulässige Essentialisierung oder Substantialisierung perhorreszieren möchte. Darin liegt auch das zwangsläufig aktivistische Moment von Butlers Theorie, das, wenn die ihm zugrundeliegenden gleichermaßen totalitären wie regressiven Sehnsüchte allzu offensichtlich werden, so gerne abgespalten wird wie sonst nur Martin Heideggers NS-Engagement von seiner Philosophie; zugleich ist es jedoch gerade dieses Drängen zur Praxis, das die Theoretikerin so populär macht und ihr das Flair der Kritikerin verschafft – und damit auch den Adorno-Preis.

Eine Menschheit ohne die Erfahrung des Monotheismus wäre jedoch eine ohne die Vorstellung von Individualität und Subjektivierung im Sinne von Unterwerfung, aber auch Auflehnung. Dass Onfray es fertig bringt, die Urhorde als dionysisches Paradies darzustellen und mit den Juden den Völkermord beginnen zu lassen, erinnert, wie vieles andere bei Onfray, an linke deutsche Durchschnittsdenker, die schon mal den Kant einen Nazi sein lassen oder überhaupt in der Aufklärung nur die Vertreibung aus dem Paradies zu erkennen vermögen – der Unterschied zu Deutschland und Österreich ist, dass dies in Frankreich noch auffällt. Das zeichnet übrigens den Anti-Freud mehr noch als L’ordre libertaire aus, dass er eigentlich eine Zusammenfassung von linken Gewissheiten ist, in diesem Fall über Freud und die Psychoanalyse. So beliebig und austauschbar auf der einen Seite die Litaneien Onfrays in Bezug auf Camus und Freud sind, so wenig ist es Zufall, dass er auf der anderen Seite annehmen konnte, mit einem weiteren Buch gegen Freud ein großes Publikum zu finden. Auch dass sich darin kein eigener Gedanke findet, sondern ein Eintopf aus aufgewärmten und zum Teil schon streng riechenden Geschichten, ist kein Zufall; das Buch speist sich aus der Gegnerschaft zur Selbstreflexion, die bei Onfray nicht umsonst als jüdische Eigenschaft aufscheint. Freud, so kann der Anti-Freud zusammengefasst werden, habe der Menschheit seine individuellen jüdischen Komplexe aufgedrängt und sie damit ins Verderben gestoßen.

Die »Bewegung«, um die es Żmijewski bei der Biennale ging, »soll erklären, dass der Holocaust endlich vergeben ist, damit die auf Schuldgefühlen basierende Politik der europäischen Länder ein Ende hat«. So führte man bei dieser Biennale inmitten der Eurokrise zugleich »eine deutsche Debatte« – und ihre Atmosphäre ist die gute Stube mit viel Nippes als universelles Mittel, die allgegenwärtige Angst zu vergessen: die Privatisierung der Geschichte; eine auf Intimität getrimmte Verhöhnung der Opfer der Shoah, das Leben als Kitsch, der in Versöhnung der Täter mit sich selbst kulminiert und folgerichtig Israel ins Visier nimmt. Die Biennale ist nicht so sehr Attacke gegen den sogenannten Neo-Liberalismus, den man der EU zum Vorwurf macht, als die Abschaffung des Privaten als privatistischer Akt, der genau der Souveränitäts-Krise europäischer Politik entspricht. Die »Bewegung« ist die Gemeinschaft der unentwegt verfügbaren Privaten. In anderen Worten: die Totalität der Kulturindustrie enthält, je privater sie sich vollzieht, umso weniger noch ein Residuum dessen, was ästhetische Erfahrung gegen die Angst vermöchte.

So sehr der permanente Raubzug, der im Tausch vor sich geht, und damit die fortwährende Ungerechtigkeit, die im Recht ihre Stütze hat, auch unmittelbar am eigenen Leib erfahren werden, so sicher jeder insgeheim weiß, dass sie es sind, die alles zuinnerst bestimmen und so evident es ist, dass der durch sie lukrierte, größere Anteil an der Mehrwertmasse ein, was die elementarsten Dinge betrifft, besseres Leben bedeutet – sie können an ihren unmittelbaren Erscheinungsformen politisch keineswegs dingfest gemacht werden, diese Unmöglichkeit gehört zur Totalität unabsehbar vermittelter Herrschaft. Der Charakter des Ausbeuters verschwindet notwendig in der Erkenntnis, dass er nur eine Charaktermaske der Ausbeutung ist, so wie umgekehrt der objektiv Ausgebeutete zugleich in seiner wie auch immer formellen Eigenschaft als Warenbesitzer und Staatsbürger ebenso objektiv auf der Seite der Ausbeuter steht – wobei jener Eigenschaft gerade im Zeitalter exorbitanter Rentenfonds und Staatsanleihen neues, inhaltliches Gewicht zuwächst. Das immer erbitterter werdende Interesse an einem starken Euro, das sich in allen Schichten der europäischen Bevölkerung zeigt, ist nun allerdings ein ganz besonderes Symptom dieses Zusammenhangs, weil es mit der ebenfalls wachsenden, inneren Abwehr eines gemeinsamen europäischen Staats einhergeht.

Als Obama Anfang 2012 einen Niedergang der Vereinigten Staaten in Abrede stellte, stützte er sich auf einen ungewöhnlichen Zeugen. Während eines informellen Treffens mit wichtigen Journalisten im Vorfeld seiner Rede zur Lage der Nation bezog er sich ausführlich auf einen Artikel, der kurz zuvor in The New Republic erschienen war. Der Text war für ihn in zweifacher Hinsicht eine Steilvorlage. Einerseits bezeichnete der Autor die populären Niedergangs-Theorien als »Mythen«. Zwar stünden die Vereinigten Staaten durchaus vor einer Reihe von Problemen, aber in dieser Situation seien die Amerikaner schon öfters gewesen, und stets seien sie in der Lage gewesen, schwierige Situationen erfolgreich zu bewältigen. Das war genau die Art von Optimismus, die Obama zu Beginn eines Wahljahres brauchen konnte. Andererseits gewann der Text durch die Person seines Autors für den Präsidenten enorm an Wert: Der Historiker, Außenpolitikexperte der Brookings Institution und Kolumnist der Washington Post Robert Kagan gilt als einer der wichtigsten Denker der Neo-Konservativen – und gehört zum außen- und sicherheitspolitischen Beraterteam Mitt Romneys, des Konkurrenten Obamas im Kampf um das Weiße Haus. Romney hatte auf seinen Wahlkampfveranstaltungen immer wieder Obamas außenpolitische Kompetenz infrage gestellt und ihn als den Präsidenten des amerikanischen Niedergangs porträtiert. Was konnte dem Amtsinhaber Besseres geschehen, als mit Hinweis auf den Artikel eines wichtigen Romney-Beraters die These vom amerikanischen Niedergang als »Mythos« zurückzuweisen und damit der republikanischen Propaganda den Wind aus den Segeln zu nehmen?

Die Ironie bei der Geschichte ist, dass die Ratingagenturen ebenfalls mit dem Anspruch antraten, Investitionen sicherer zu machen, durch höhere Transparenz Informationsgefälle auszugleichen, und so Krisen zu vermeiden oder doch zu dämpfen. Eine kurze Geschichte der Ratingagenturen ließe sich also mit dem Spruch »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert« überschreiben. Sie, die heute entweder als Beschleuniger oder gleich als Ursache der Krise angesehen werden, sahen sich als Reformer, die die Finanzsphäre rationaler machen wollten – und wurden auch so gesehen.

Von der Zweidrittel-Gesellschaft über die 20:80-Welt hin zur 99:1-Community. Im Zeitraffer der Rückschau mutet die Reihe an wie ein durch Erfolgsdruck ausgelöster rasanter Preisverfall, und die Teilnahme am Protest ist ja auch tatsächlich derzeit so ›billig‹ zu haben wie noch nie. Zugleich zeigt sie, in welchem Maße der Antikapitalismus aus sich selbst heraus danach drängt, sich in all seinen Ausdrucks- und Denkformen gerade dem, was er zu bekämpfen behauptet, mimetisch restlos anzugleichen.

Die deutsche Politik setzt zunächst alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein, das Vertrauen der Geldanleger – das A und O einer jeden Politik – in ihre Stabilitätspolitik zu rechtfertigen und zu stärken. Denn diese Geldanleger – je weniger Geld sie wo auch immer angelegt haben, umso mehr – sehen sich, nicht ohne Grund, vor einem Zerfall des Geldwertes stehen (in dem sich allerdings ›nur‹ empirisch realisieren würde, was real längst der Fall ist), in dessen Verlauf sie ihre mühsam angesammelten Ersparnisse, oder auch ›Reichtümer‹, zu verlieren drohen. Die Basis, auf der Deutschland dieses Vertrauen akquiriert, ist, anders als in den USA, sein besonderer, zweifellos historisch bedingter Begriff von Einheit, wie er in seinen Institutionen verankert ist und von seiner Ideologie gedeckt wird. Philosophisch ist Einheit auf Deutsch als ›Mangel an Sein‹ bestimmt, was politisch heißt: die deutsche Souveränität ist immer als erst noch zu verwirklichende gedacht – ein Gedanke, auf den ein politisch bewusster Amerikaner (Brite oder Franzose) gar nicht erst kommen kann. Getragen wird dieser Einheitsgedanke von einer, natürlich von deutschem Gebiet ausgehenden Kernbewegung (besonders die letzten Jahrzehnte ist das die Einigung Europas), um die sich eine Vielzahl kleinerer Einheiten schart, die gegeneinander konkurrieren und dabei um ihre politische Autonomie zutiefst besorgt sind, aber für sich weder die Mittel haben noch überhaupt die Absicht, dem von Deutschland ausgehenden Souveränitätsgedanken etwas entgegenzusetzen.

Spätestens seit der Parlamentswahl in Ägypten, bei der Muslimbrüder und Salafisten zusammen rund 65 Prozent der Stimmen und 70 Prozent der Mandate gewannen, konnte einfach nicht mehr in Abrede gestellt werden, was kritische Beobachter von Anfang an vorhersagt hatten: dass die Islamisten die großen Gewinner der Umwälzungen sind. Nun lautete die neue Interpretation: Die Islamisten haben zwar gewonnen, aber das sei nicht weiter beunruhigend, denn in Wirklichkeit seien sie im Grunde ja »moderate« Demokraten, sozusagen die muslimischen Pendants zu christlichen Volksparteien in Europa.

Es ist nicht einfach, nach der Rede Sansals zur Verleihung des Friedenspreises zu beurteilen, was die einmal in Dorf des Deutschenmit Blick auf Auschwitz gewonnene Erkenntnis, die »Islamisten würden es wieder machen«, noch bedeutet; oder die Frage zu beantworten, wie es denn gemeint war, als Sansal über diesen Roman in Interviews davon sprach, dass er klären wollte, »was es heißt, heute Verantwortung zu übernehmen, damit sich ein solches Verbrechen nicht wiederholt«. Verantwortung wofür, wenn nicht für den Staat der Juden, dessen Gründung doch die unmittelbare Konsequenz auf die Shoah darstellt?

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